Dialyse aktuell 2011; 15(08): 472-473
DOI: 10.1055/s-0031-1291971
Forum der Industrie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Paricalcitol – Nebenschilddrüsenantagonist mit kardiorenalen Effekten

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Publication Date:
04 October 2011 (online)

 
 

Ein Gespräch mit Dr. Sven Baumann, Medical Manager Renal Care, Abbott GmbH & Co. KG, Ludwigshafen.

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Dr. Sven Baumann

? Herr Dr. Baumann, seit 2010 wird Paricalcitol von der WHO als Nebenschilddrüsenantagonist eingestuft, das Präparat ist aber schon seit April 2005 in Deutschland auf dem Markt. Was war es vorher und warum wurde es einer neuen Substanzklasse zugeordnet?

Dr. Sven Baumann: Paricalcitol war immer schon Paricalcitol – und damit ein effektives Medikament, um das Parathormon (PTH) bei Patienten mit sHPT (sekundärer Hyperparathyreoidismus) zu senken. Es handelt sich um einen selektiven VDR-Aktivator (VDR: Vitamin-D-Rezeptor), der seinerzeit als innovatives Arzneimittel mit speziellen Eigenschaften entwickelt worden war. Dadurch, dass Paricalcitol im Gegensatz zu aktiven Vitamin-D-Produkten die intestinale Kalzium- und Phosphatresorption nur minimal beeinflusst, hat es den Vorteil, dass es das PTH ohne besonders hohes Risiko einer Hyperkalzämie oder Hyperphosphatämie senkt [ 1 ].Diese selektive Rezeptoraktivierung stellte sich als ein Meilenstein in der sHPT-Therapie heraus – und die Neueinstufung von Paricalcitol als Nebenschilddrüsenantagonist durch die WHO reflektiert das. Sie ist erfolgt, weil man mittlerweile durch neuere klinische und präklinische Studien weiß, dass das Präparat deutlich andere biologische Wirkungen aufweist als Vitamin-D-Analoga. Bekannt sind vielfältige kardio- und nephroprotektive Effekte, außerdem wissen wir, dass auch calcitriolresistente Patienten auf die Therapie mit Paricalcitol ansprechen [ 2 ]. Dies zeigt, dass eine Einordnung in die Klasse der Vitamin-D-Analoga zu kurz greifen würde. Schon 2003, als die Vergleichsstudie von Teng et al. [ 3 ] erschien, war der Unterschied in der Mortalität zwischen den beiden Vergleichsmedikationen erstaunlich (Abb. [ 1 ]). Ein solcher Unterschied ist innerhalb von Substanzklassen in der Regel kaum zu erreichen.

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Abb. 1 Überleben bei Dialysepatienten: Vergleich zwischen Paricalcitol und Calcitriol.

? Wie erklären Sie sich die Mortalitätssenkung, die gezeigt wurde, und wie valide sind die Daten?

Baumann: In einer historischen Kohortenstudie der Gruppe um Dr. Ravi Thadhani, Harvard Medical School (USA), mit prädefinierter, prospektiver und qualitätsgesicherter Datenerhebung an 67 399 Patienten aus den Dialyseeinrichtungen von Fresenius Medical Care zeigte sich nach Adjustierung hinsichtlich auszuschließender Kovariaten ein Überlebensvorteil von 16 % für die mit Paricalcitol behandelten Patienten im Vergleich zu einer Therapie mit Calcitriol [ 3 ]. Interessanterweise gibt es noch eine weitere große, davon unabhängige Studie aus der Arbeitsgruppe von Kalantar-Zadeh et al. [ 4 ]. Auch sie zeigte an 58 058 Hämodialysepatienten einen Überlebensvorteil unter Paricalcitol – und zwar unabhängig von der verwendeten Dosis.Im Jahre 2003 initiierte Abbott eine prospektive, randomisierte, doppelverblindete Mortalitätsstudie, in welcher Paricalcitol direkt mit Calcitriol verglichen werden sollte [ 5 ]. Aufgrund der Daten von Teng et al. [ 3 ], die im "New England Journal of Medicine" publiziert wurden, zogen jedoch viele Patienten und lokale Ethikkommissionen ihre Zustimmung zur Studie zurück, da eine Randomisierung auf eine offensichtlich schlechtere Therapie wie Calcitriol ethisch nicht zu verantworten sei. Aus diesem Grunde musste Abbott 3 Jahre später die Studie abbrechen.Leider können wir im Moment über den genauen Mechanismus der Mortalitätssenkung durch Paricalcitol nur Vermutungen anstellen, da es keine Studien darüber gibt, welcher der zahlreichen Effekte zu welcher prozentualen Senkung der Mortalität führt. Am wahrscheinlichsten ist, dass der Benefit aus einem Zusammenspiel verschiedener günstiger kardiovaskulärer und auch renaler Effekte resultiert.

? Sie sprachen von kardio- und renoprotektiven Effekten; welche wurden unter Therapie mit Paricalcitol beobachtet?

Baumann: Wie Agarwal et al. [ 6 ] zeigten, vermindert der selektive VDR-Aktivator Paricalcitol die Proteinurie. Dieser renoprotektive Effekt war sogar nachweisbar bei Patienten, die bereits mit ACE-Hemmern (ACE: "angiotensin converting enzyme") bzw. Angiotensin-Rezeptor-Blockern behandelt wurden. Es handelt sich somit um einen additiven Effekt zur RAAS-Blockade (RAAS: Renin-Angiotensin-Aldosteron-System).Dieser Effekt ist deshalb so bedeutungsvoll, da die Proteinurie nicht nur Indikator, sondern auch Promotor des Nierenfunktionsverlustes ist. Bei chronischen Nierenerkrankungen korreliert der Eiweißverlust mit der Schwere der Erkrankung. Und je höher das Stadium der chronischen Niereninsuffizienz ist, desto höher ist das kardiovaskuläre Risiko. Die Vermutung liegt daher nahe, dass das Aufhalten des Nierenfunktionsverlustes auch einen Nutzen für die Herz- und Gefäßgesundheit der Betroffenen haben könnte.

? Das wäre aber nur ein indirekter Effekt der Medikation auf das kardiovaskuläre Risiko. Hat Paricalcitol auch direkte herz- und gefäßschützende Effekte?

Baumann: Davon kann man nach bisherigen Erkenntnissen ausgehen. Zum einen erkannten Bodyak et al. [ 7 ], dass Paricalcitol nicht nur die Reninaktivierung signifikant hemmte, sondern unter der Therapie auch die linksventrikuläre Hypertrophie und diastolische Dysfunktion signifikant abnahm. Dies war begleitet von einem deutlich verminderten Anstieg des natriuretischen Peptids (BNP), welches den Schweregrad einer Herzinsuffizienz widerspiegelt. Darüber hinaus gibt es eindrucksvolle Daten zum vaskulären Schutz durch die selektive VDR-Aktivierung. Nach Cardús et al. [ 8 ] schreitet die Verkalkung der glatten Gefäßmuskelzellen unter Therapie mit Paricalcitol kaum voran, unter Vitamin-D-Therapie hingegen deutlich (Abb. [ 2 ]) – übrigens ein weiteres Indiz, dass wir hier von 2 Wirkstoffklassen sprechen. Ähnliches zeigten auch die Untersuchungen von Mizobuchi et al. [ 9 ]. Außerdem wirkt Paricalcitol antiinflammatorisch – bereits nach einem Monat senkt es das C-reaktive Protein (CrP) signifikant [ 10 ] – und sorgt so vermutlich für ein gefäßschützendes Milieu.

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Abb. 2 Effekt der in-vivo-Behandlung von 5/6-nephrektomierten Ratten mit Calcitriol (1 μg/kg, 3-mal pro Woche für 8 Wochen) oder Paricalcitol (3 μg/kg, 3-mal pro Woche für 8 Wochen) auf die Aortenkalzifizierung. Repräsentative Fotografien der von-Kossa-Färbung von (A) Kontrolltieren und Tieren, die mit (B) Paricalcitol oder (C) Calcitriol behandelt wurden.

? Was bedeutet die Verkalkung der glatten Gefäßmuskeln für das Outcome der Dialysepatienten?

Baumann: Der Verkalkungsprozess, die sog. Mediasklerose, hat gravierende Folgen: Wenn die Gefäße versteifen, steigt der systolische Druck. Das wiederum führt zu einem erweiterten Pulsdruck, zu einer höheren Pulswellengeschwindigkeit (PWV) – und damit auch zur linksventrikulären Hypertrophie (LVH). Die koronare Durchblutung ist dann während der Diastole verringert und der resultierende Sauerstoffmangel Ursache für koronare Herzkrankheiten. Da es unter Paricalcitol nicht zur Mediasklerose und zur Gefäßversteifung kommt, wird das Risiko für LVH und kardiovaskuläre Mortalität vermutlich gesenkt.

? Dafür müssen die Patienten das Präparat aber rechtzeitig erhalten. Für welche Patienten ist Paricalcitol zugelassen?

Baumann: Paricalcitol ist in Deutschland zur Prävention und Therapie des sHPT bei Dialysepatienten und bei Patienten der Prädialysestadien CKD 3 und 4 zugelassen. Das ist meines Erachtens ein großer Vorteil, da sich der sHPT häufig bereits in den Stadien der Prädialyse entwickelt und eine Therapie gemäß der geltenden KDIGO-Leitlinien [ 11 ] bereits dann beginnen sollte, wenn sich ein deutlicher Trend in Richtung sHPT abzeichnet. Das ist oft der Fall, bevor das Dialysestadium erreicht wird, weshalb eine Therapie unter dem Gesichtspunkt der Sekundärprävention bereits oft in den Stadien vor der Dialysepflichtigkeit notwendig ist. Interessanterweise hatte sich bereits in der großen Mortalitätsstudie von Kalantar-Zadeh et al. [ 4 ] gezeigt, dass Dialysepatienten, die frühzeitig mit Paricalcitol therapiert wurden, im Hinblick auf das Überleben deutlich mehr von der Therapie profitieren als jene, die erst spät mit dem selektiven VDR-Aktivator behandelt wurden. Möglicherweise ist der Zeitpunkt des Therapiebeginns ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Outcome.

? Herr Dr. Baumann, in der Klasse der Nebenschilddrüsenantagonisten steht neben Paricalcitol auch ein Calcimimetikum zur Verfügung. Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Vorteile von Paricalcitol?

Baumann: Wie bereits angeführt, kann Paricalcitol bereits in den Prädialysestadien verschrieben werden, was gerade im Hinblick auf die Prävention von kardiovaskulären Schäden von Bedeutung ist. Auf dem europäischen Nephrologiekongress (ERA-EDTA-Kongress) in Prag im Juni dieses Jahres wurde eine Zwischenauswertung einer internationalen, randomisierten Vergleichsstudie (Paricalcitol vs. Cinacalcet + niedrig dosiertem Vitamin D), der IMPACT[ 1 ]-Studie, vorgestellt. Weitere Daten zu dieser Studie werden auf dem amerikanischen Nephrologiekongress, dem ASN-Kongress, im November erwartet, die Vollpublikation wird voraussichtlich zum Jahreswechsel erscheinen.Das größte Potenzial von Paricalcitol sehe ich aber darin, dass es, wie die bereits erwähnten Studien zeigen, gleichermaßen Herz, Gefäße und Nieren schützen und somit dem kardiorenalen Syndrom konsequent entgegenwirken könnte.

? Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Baumann.

Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung der Abbott GmbH, Ludwigshafen.
Das Interview führte die Medizinjournalistin Dr. Bettina Albers, Weimar.


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1 Evaluation of the Effectiveness of Paricalcitol Versus Cinacalcet With Low-Dose Vitamin D


  • Literatur

  • 1 Martin KJ et al. J Am Soc Nephrol 1998; 9: 1427-1432
  • 2 Llach F, Yudd M. Am J Kidney Dis 2001; 38 (Suppl. 05) 45-50
  • 3 Teng M et al. N Eng J Med 2003; 349: 446-456
  • 4 Kalantar-Zadeh K et al. Kidney Int 2006; 70: 771-780
  • 5 Fishbane S et al. Randomized controlled trial to evaluate survival benefits of Paricalcitol relative to Calcitriol in hemodialysis patients: Termination secondary to inability to enroll based on perceived ethical concerns. Abstract M642 WCN congress 2009
  • 6 Agarwal R et al. Kidney Int 2005; 68: 2823-2828
  • 7 Bodyak N et al. Proc Natl Acad Sci USA 2007; 104: 16810-16815
  • 8 Cardús A et al. J Bone Miner Res 2007; 22: 860-866
  • 9 Mizobuchi M et al. Kidney Int 2007; 72: 709-715
  • 10 Alborzi P et al. Hypertension 2008; 52: 249-255
  • 11 Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) CKD-MBD Work Group. Kidney Int Suppl 2009; 113: 1-130

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  • 3 Teng M et al. N Eng J Med 2003; 349: 446-456
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  • 5 Fishbane S et al. Randomized controlled trial to evaluate survival benefits of Paricalcitol relative to Calcitriol in hemodialysis patients: Termination secondary to inability to enroll based on perceived ethical concerns. Abstract M642 WCN congress 2009
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  • 11 Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) CKD-MBD Work Group. Kidney Int Suppl 2009; 113: 1-130

 
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Dr. Sven Baumann
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Abb. 1 Überleben bei Dialysepatienten: Vergleich zwischen Paricalcitol und Calcitriol.
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Abb. 2 Effekt der in-vivo-Behandlung von 5/6-nephrektomierten Ratten mit Calcitriol (1 μg/kg, 3-mal pro Woche für 8 Wochen) oder Paricalcitol (3 μg/kg, 3-mal pro Woche für 8 Wochen) auf die Aortenkalzifizierung. Repräsentative Fotografien der von-Kossa-Färbung von (A) Kontrolltieren und Tieren, die mit (B) Paricalcitol oder (C) Calcitriol behandelt wurden.