Historische Einleitung
Litauen ist mit zirka 3 Millionen Einwohnern das größte Land neben den zwei anderen
baltischen Staaten Lettland und Estland im westlichen Teil Osteuropas. Die Vorfahren
der heutigen Litauer sind die ethnisch eigenständige Volksgruppe der indoeuropäischen
Balten [1]. Die Nachbarländer haben immer wieder versucht, das heidnische Litauen zu beherrschen
und zu christianisieren. So änderten sich die Grenzen und der politische Status Litauens
mehrfach [2]
[3]
[4]. 1918 proklamierte Litauen seine staatliche Unabhängigkeit. Zwei Jahre später annektierte
Polen das Wilnagebiet. Kaunas wurde vorübergehend zur Hauptstadt Litauens. Das Memelland
wurde 1923 vom Deutschen Reich als Folge des Versailler Vertrages und der Besetzung
durch litauische Freischärler abgetrennt. 1939 besetzte die Rote Armee Litauen. Nach
dem zweiten Weltrieg und der Potsdamer Konferenz (1945) wurde das Königsberger (Kaliningrad)
Gebiet Sowjetrussland und das Memelland (Klaipeda) und Wilnagebiet mit der Haupstadt
Vilnius der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugesprochen. In den 90er-Jahren
erfolgte die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens. Seit 2004 gehört das Land
zur Europäischen Union [1].
Gründung der Institutionen
Gründung der Institutionen
Die älteste Hochschule Litauens, die Universität Vilnius (Wilna), wurde im Jahre 1579
gegründet. Sie erhielt 1781 eine Medizinische Fakultät, an der neben den Vorlesungen
über Innere Medizin und Chirurgie auch Kurse über Haut- und Geschlechtskrankheiten
gehalten wurden. 1806 wurde die Medizinische Gesellschaft Vilnius von Jozef Frank
(1771 – 1842) aus Wien gegründet. Sie behandelte die Fragen der Dermatologie und bekämpfte
eine damals wütende Favusepidemie [5]
[6].
Arbeitsbedingungen von 1918 – 1939
Arbeitsbedingungen von 1918 – 1939
Nach der Proklamation der unabhängigen „Republik Litauen“ 1918 wurden die ersten außeruniversitären
staatlichen Ambulanzen für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Kaunas, Šiauliai und
anderen größeren Städten gegründet. Die Patienten wurden hier kostenlos untersucht
und behandelt [7].
1920 annektierte Polen das Wilnagebiet und besetzte es bis 1939. In diesem Zeitabschnitt
von 1920 – 1939 war Kaunas die Hauptstadt von Litauen. Im Jahre 1923 wurde in der
ein Jahr zuvor gegründeten Universität Kaunas die Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten
eröffnet (Ambulanz und 25 Betten) [8].
Der Leiter dieser Universitätsklinik, Jurgis Karuža (1866 – 1953), hatte an der Militärakademie
in Sankt Petersburg Medizin studiert und dort promoviert. In Sankt Petersburg arbeitete
er im Militärkrankenhaus Alexander III als leitender Oberarzt in der Abteilung für
Haut- und Geschlechtskrankheiten. Als er nach Litauen zurückkam, hielt er die Vorlesungen
in Dermatologie und Venerologie. Jurgis Karuža baute ein Netz venerologischer Ambulanzen
und Rehabilitationzentren für Prostituierte auf [8].
Die Ausbildung des nachfolgenden Leiters der Universitäts-Hautklinik, Bronius Sidaravičius
(1897 – 1969), war sehr eng mit der deutschsprachigen Dermatologie verbunden. Er absolvierte
sein Medizinstudium in Leipzig und Jena. 1929 nahm er am XVI. Kongress der Deutschen
Dermatologischen Gesellschaft in Königsberg teil ([Abb. 1]).
Abb. 1 Bronius Sidaravičius (mit einem Kreis gekennzeichnet) als Teilnehmer des 16. Kongresses
der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft in Königsberg, 1929 (Quelle: Privatarchiv
Prof. B. Sidaravičius, Kaunas).
Aus Litauen nahmen an diesem Kongress weiterhin die Dermatologen aus der Stadt Kaunas
(A. Lapinas, E. Subockis, E. Paulauskas, G. Gefenas, B. Gollachas, B. Sidaravičius)
und aus anderen Städten (J. Krestinas, L. Augustas) teil [9]. Nach dem Kongress wollten die Teilnehmer das Leprosorium in Memel besichtigen.
Aufgrund der schwierigen politischen Situation des Memellandes erhielten nur der Hauarzt
und Tropenmediziner Carl Mense (1861 – 1938) aus Kassel und Bronius Sidaravičius die
entsprechende Genehmigung [9]. 1930 – 1931 hospitierte B. Sidaravičius als Stipendiat der Medizinischen Fakultät
der Universität Kaunas an der Universität Wien, in der Innsbrucker Klinik bei Wilhelm
Kerl, Leopold Arzt, Moritz Oppenheim, Richard Volk u. a [10]. Dort forschte er mit Erich Urbach (1893 – 1946) an der passiven Übertragung der
Hautallergien. Die Ergebnisse wurden in der Klinischen Wochenschrift veröffentlicht
[11].
Die Dermatologen der Universitätsklinik Kaunas haben sich intensiv für die Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten eingesetzt. 1933 gründete Jurgis Karuža zusammen mit Aleksandra
Elena Kaupelyte-Ragaišiene-Biliūniene (1896 – 1953) neben der Medizinischen Gesellschaft
eine Sektion zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten [8]. Das staatliche Gesundheitswesen und die Sektion erreichten 1935 in Litauen die
Verabschiedung eines fortschrittlichen Gesetzes gegen die Geschlechtskrankheiten [12]
[13]. Nach diesem Gesetz wurden die Untersuchungen und die Behandlung der Geschlechtskrankheiten
obligatorisch und kostenlos in den staatlichen Gesundheitseinrichtungen durchgeführt.
Die anonyme Meldepflicht wurde beschlossen. Nach einigen Jahren kam es zu einer deutlichen
Abnahme der Geschlechtskrankheiten [12]
[13]. Aufgrund des Gesetzes entwickelte sich rasch ein Netz außeruniversitärer Ambulanzen.
Die Zahl solcher Einrichtungen stieg von 1926 bis 1937 von 7 auf 59 [7]
[12]. In den ersten zehn Jahren (1925 – 1935) stieg die Patientenzahl in der Universitäts-Hautklinik
Kaunas von 345 auf 10467 [14]. Die durchschnittliche stationäre Behandlung dauerte zirka 20 Tage. Am häufigsten
wurden venerologische Patienten stationär behandelt. 1935 wurden insgesamt 1611 Kuren
mit Salvarsan (10 – 12 Injektionen pro Behandlungskur) zur Therapie der Syphilis durchgeführt,
zudem 1882 Injektionen mit Quecksilber und Wismut. Damals war die Sterberate dieser
Patienten die zweithöchste neben derjenigen der Tuberkulosekranken [7]
[15].
1935 wurde B. Sidaravičius Leiter der Universitäts-Hautklinik Kaunas. Die in den deutschsprachigen
Ländern erworbenen Erfahrungen hatte er vielfältig in der Klinik umgesetzt. 1937 begann
Antanas Gulbinas (1904 – 1993) in der Klinik mit dem Aufbau einer Röntgentherapie
und nach der Weiterbildung in Prag und Wien beschäftigte sich Antanas Kaminskas mit
der Dermatohistopathologie [10]. Ebenfalls 1937 gründete B. Sidaravičius eine wissenschaftliche Gesellschaft der
Litauischen Dermatovenerologen und war ihr erster Präsident. Kurz vor dem Zweiten
Weltkrieg begann die Medizinische Fakultät der Universität Kaunas mit dem Bau eines
neuen Klinikumsgebäudes nach dem Entwurf des berühmten französischen Architekten Urbain
Cassan (1890 – 1979) [8]
[10]. Nach zwei Jahren waren die Bauarbeiten fertig. 1940 wurde hier die Universitätsklinik
für Haut- und Geschlechtskrankheiten eingerichtet (Ambulanz und 49 Betten) [10].
Sowjetzeit 1940 – 1990
1939 fiel Vilnius wieder an Litauen und die litauische Universität Vilnius nahm ihre
Arbeit wieder auf [5]. Beide dermatologische Universitätskliniken in Kaunas und Vilnius wurden in städtischen
Dispensaires untergebracht. Das außeruniversitäre Netz der dermatovenerologischen
Einrichtungen blieb in den Kriegsjahren bestehen. Im Jahre 1946 – 1964 stieg die Zahl
dieser Einrichtungen von 41 auf 81 [16]. Sie verbanden die ambulante und stationäre Behandlung und sicherten die frühzeitige
Erfassung von Geschlechtskrankheiten und Infektionskrankheiten der Haut. Die Patienten
mit Syphilis wurden ausschließlich stationär behandelt. Die Bettenzahl veränderte
sich in Abhängigkeit von der Epidemiologie der Syphilis. Als die Anzahl an Syphilispatienten
am Ende des Krieges eine der größten in der ehemaligen Sowjetunion war, wurde in Vilnius
1945 ein Institut für Dermatologie und Venerologie gegründet (Direktor Jonas Lelis)
[17]. Eine zweite Syphilisepidemie folgte in Litauen 1974. 1975 wurde ein neues Dispensaire
für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Vilnius gebaut (Leiterin: Genovaitė Lapinskaitė).
Nach 15 Jahren wurde diese Einrichtung in die Universitäts-Hautklinik Vilnius umgewandelt
[18]
[19].
Fünfzig Jahre funktionierte das sowjetische Gesundheitswesen abgeschlossen von der
westlichen Welt. In dieser Zeit war die Tätigkeit der Dermatologen primär durch die
Kontrolle der Geschlechtskrankheiten an den städtischen Einrichtungen bestimmt. Der
internationale Austausch war gering, die dermatovenerologische Lehre und Forschung
erlebte einen Rückgang.
Tendenzen nach den 90er-Jahren
Tendenzen nach den 90er-Jahren
Im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit kam es zu tiefgreifenden Veränderungen
im Gesundheitswesen und in der dermatologischen Versorgung von Litauen. In den 90er-Jahren
wurde die stationäre Behandlung der Syphilis beendet und es erfolgte eine rasche Reduktion
der Bettenzahl in den Hautkliniken Litauens von 835 im Jahr 1990 auf 150 plus 50 Betten
für Tageskliniken im 2010 Jahr [2].
Die [Tab. 1] zeigt eine Zusammenfassung der Promotionen litauischer Dermatologen. Insgesamt wurden
seit 1898 18 Promotionen und 3 Habilitationen durchgeführt.
Tab. 1
Die Promotionen der litauischen Dermatologen.
Jahr
|
Bereich (Doktor)
|
Ausländische
Betreuung (Ort)
|
Promotionsstelle
|
Erste litauische Promotionen
|
1898
|
Pathophysiologie (J. Karuža)
|
|
Sankt Petersburg
|
1931
|
Dermatoallergologie (B. Sidaravičius)
|
E. Urbach, Wien
|
Universität Kaunas
|
1943
|
Hauttuberkulose (A. Gulbinas)
|
|
Universität Kaunas
|
1944
|
Allgemeinmedizin (M. Vaitėnas)
|
|
Universität Kaunas
|
Sowjetzeit
|
1950
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Venerologie/Syphilis (J. Lelis)
|
|
Universität Vilnius
|
1962
|
Myklogie (P. Gailevičius)
|
|
Universität Kaunas
|
1965
|
Venerologie/Syphilis (S. Ragaišis)
|
N. M. Ovtschinikov
|
Moskau Institut
|
1970
|
Psoriasis (G. Balevičienė)
|
|
Universität Vilnius
|
1973
|
Myklogie (Vidas Šabrinskas)
|
|
Universität Kaunas
|
1973
|
Histologie und Elektromikroskopie/Allgemeinmedizin (I. Marčiukaitienė)
|
|
Universität Vilnius
|
Tendenzen nach 1990
|
1995
|
Venerologie/Syphilis (G. Lapinskaitė)
|
|
Universität Vilnius
|
2002
|
Dermatoonkologie (S. Valiukevičienė)
|
H. Gollnick, Magdeburg
|
Universität Kaunas
|
2003
|
Venerologie (A. Vagoras)
|
M. Domeika, Uppsala
|
Universität Vilnius
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2004
|
Dermatohistopathologie (D. Jasaiteinė)
|
H. Gollnick, Magdeburg
|
Universität Kaunas
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2005
|
Psoriasis (J. Grigaitienė)
|
G. Mahrle, Köln
|
Universität Köln
|
2006
|
Akne (R. Gancevičienė)
|
C. C. Zouboulis, Berlin
|
Universität Vilnius
|
2006
|
Dermatoonkologie (M. Bylaitė)
|
T. Ruzicka, Düsseldorf
|
Universität Vilnius
|
2008
|
Venerologie (V. Kučinskienė)
|
M. Domeika, Uppsala
|
Universität Kaunas
|
2009
|
Venerologie (R. Razukevičius)
|
|
Universität Kaunas
|
Die Zusammenarbeit mit deutschsprachigen Dermatologen in den späten 90er-Jahren hat
die jungen Dermatologen in Litauen sehr stark beeinflusst. Zwei Promotionen in der
Dermatoonkologie und Dermatohistopathologie wurden unter Harald Gollnicks Leitung
an der Universitäts-Hautklinik Kaunas veröffentlicht ([Tab. 1]).
Unter der Leitung deutscher Dermatologen wurden drei Promotionen von Doktoranden der
Universität Vilnius in den experimentellen und immunhistologischen Labors der Gast-Universitäten
im Bereich der Fototherapie (Leitung: Gustav Mahrle, 2005), Akne (Constantin C. Zouboulis,
2006) und Dermatoonkologie (Thomas Ruzicka, 2006) fertiggestellt. Professor Gustav
Mahrle hat durch seine Besuche in Litauen und in seiner Heimatstadt Memel wesentlich
zur Einführung der modernen Fototherapie und Bade-PUVA in der Universitäts-Hautklinik
Kaunas beigetragen [2].
Die Zahl der Fachärzte für Dermatologie hat sich im Laufe von fünfzig Jahren auf zirka
200 verdoppelt (nach den Angaben des staatlichen Dienstes der Gesundheitsaufsicht
beim Ministerium für Gesundheitswesen). Zirka zwei Drittel der Dermatologen arbeiten
in der Haupstadt Vilnius sowie in den zwei größten Städten Kaunas und Klaipeda (Memel).
Das durchschnittliche Alter der Dermatologen beträgt 57 Jahre. Nach der freiwilligen
Befragung unter einem Drittel der Dermatologen im Jahr 2007 arbeiten zirka 60 % in
staatlichen Einrichtungen, mehr als ein Drittel (37 %) privat und staatlich, und nur
3 % haben sich für eine private Niederlassung entschieden.
Im Rahmen der seit 1998 bestehenden Beziehungen mit deutschsprachigen Dermatologen
kam es zu einem raschen Aufbau der litauischen Dermatologie. So entwickelte sich ein
neues und breiteres Profil des Faches mit Dermatoonkologie, „kleiner“ Dermatochirurgie,
Dermatohistopathologie, fotodynamischer Therapie, Dermatoallergologie, modernen Lichttherapien,
medizinischer Kosmetologie und Lasertherapie. Die Facharztausbildung für Dermatologie
wurde von zwei auf vier Jahre verlängert. Die litauischen Dermatologen sind sehr dankbar
für die fortwährende Unterstützung des Faches durch die deutschsprachigen Kollegen.
Danksagung
Wir danken Herrn Professor Dr. Albrecht Scholz herzlich, dass ein Teil der Informationen
aus dem Kapitel „S. Valiukeviciene und A. Lignugariene. Dermatologie in Litauen“ aus
dem Buch „Geschichte der deutschsprachigen Dermatologie“ (Hrsg. A. Scholz, K. Holubar,
G. Burg, 2009) für dieses Manuskript verwendet werden durfte. Herzlichen Dank Dr.
Michael Geiges für die sprachlichen Korrekturen.