Z Orthop Unfall 2011; 149(04): 365-367
DOI: 10.1055/s-0031-1286550
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – Muskeldystrophien – weltweite Suche nach den Patienten

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Publikationsdatum:
15. August 2011 (online)

 
 
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    Zur Person: Die Neurologin Maggie Walter (Jahrgang 1964) leitet am Friedrich-Baur-Institut der LMU München das Labor für Molekulare Myologie. Obendrein ist sie Koordinatorin des Muskeldystrophie-Netzwerks und seit Kurzem mehrerer Patientenregister für diese sehr seltenen Erkrankungen.

    Professor Dr. Maggie Walter von der LMU München erklärt, warum und wie sie möglichst viele Patienten mit seltenen Muskelerkrankungen gewinnen möchte, sich weltweit in großen Patientenregistern einzutragen. Und warum sie sich mitunter mehr spezialisierte Orthopäden wünscht.

    ? Frau Prof. Walter, Sie behandeln Patienten mit Muskelerkrankungen. Eigentlich ist das ja eine Domäne von Orthopäden.

    Aber in diesem Fall eher weniger. Patienten mit Muskeldystrophie bekommt ein Orthopäde in der Regel kaum zu sehen. Wobei etwa bei der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne können Betroffene z. B. auch an Spitzfußkontrakturen leiden, und dann landen diese Kinder vielleicht auch einmal zur Erstdiagnose beim Orthopäden. Es mag auch noch vorkommen, dass ein Hausarzt irrtümlicherweise Schuheinlagen verordnet, weil die Kinder so komisch laufen, und sie daher zum Orthopäden schickt. Das Gros der Patienten wird aber heute zunächst mal beim Kinderarzt behandelt.

    ? Was ist das, die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne?

    Die häufigste und noch bekannteste Muskeldystrophie. Weltweit leidet etwa eines von 7000 Neugeborenen daran. Und zwar fast immer Jungen, einer von 3500 geborenen Jungen.

    ? Was sind die Symptome?

    Meistens fallen sie spätestens im Kindergartenalter auf. Die Jungen rennen nicht so schnell wie andere, nutzen beim Treppensteigen die Beine nicht alternierend. Hat ein Kind im Alter zwischen 3 und 5 Jahren dann auch noch besonders kräftige Waden, findet sich ein sehr hoher Kreatinkinase (CK)-Wert im Blut, dann wird ein guter Kinderarzt Bescheid wissen und einen kleinen Patienten direkt in ein neuromuskuläres Zentrum schicken. Echte Fehldiagnosen sind zum Glück sehr selten geworden, denn die Molekulargenetik hat in den letzten 10 Jahren solche Fortschritte gemacht, dass wir damit heute die Betroffenen sehr gut diagnostizieren können. Die früher übliche Muskelbiopsie ist beim Duchenne in der Regel heute nicht mehr nötig.

    ? Wäre gar ein Kunstfehler?

    Für die Differenzialdiagnose später nicht unbedingt. Es gibt andere Arten von Muskeldystrophien, bei denen die Diagnostik noch über eine Biopsie führen muss.

    ? Womit das Feld eröffnet wäre. Was sind jetzt überhaupt alles Muskeldystrophien?

    Generell bezeichnen wir so Krankheiten, bei denen es zu einem erblich bedingten Muskelschwund, einer Muskeldegeneration kommt. Der Kliniker unterscheidet je nachdem, wann eine Krankheit erstmals sichtbar wird, kongenitale, also bereits kurz nach der Geburt erkennbare Dystrophien … und Erwachsenenformen, die aber häufig durch den gleichen Gendefekt verursacht sein können.

    ? Auch Störungen in der Nervenbahn hin zu den Muskeln können eine Ursache sein? Etwa bei der Amyotrophen Lateralsklerose?

    Da wären wir schon bei der Großgruppe der neuromuskulären Erkrankungen. Es gibt auch erbliche Neuropathien, bei denen primär die Nervenleitung gestört ist, so dass dann auch der Muskel mangels Input verkümmert. Aber das sind dann primär neurogene Erkrankungen. Wir behandeln hier im Friedrich-Baur-Institut alle Formen von neuromuskulären Erkrankungen. Mein Schwerpunkt sind die erblichen Muskelerkrankungen, eben die Muskeldystrophien.

    ? Die Klassifikation ist ziemlich verwirrend. Denn auch bei den Muskeldystrophien gibt es nicht nur die vom Typ Duchenne, das Lehrbuch kennt etwa auch Gliedergürteldystrophien, Dutzende weitere sehr rätselhafte Krankheiten.

    In der Tat, wobei die Klassifikation der Krankheiten jetzt besser wird. Eine große Verwirrung entsteht bis heute dadurch, dass man die verschiedenen Formen von Muskeldystrophien lange allein generell klinisch einordnen konnte. So lange man die betroffenen Gene als die eigentliche Ursache noch nicht kannte. Heute kennt man einen Großteil der Gene, und merkt, dass die Klassifikation allein nach klinischen Kriterien sogar komplett falsch sein kann. International werden die Krankheiten neu geordnet und die Nomenklatur umgeschrieben.

    ? Ein Beispiel?

    Nehmen wir Duchenne. Man weiß schon lange, dass Duchenne durch Mutationen im Dystrophingen zustande kommt, das auf dem X-Chromosom liegt und eine wichtige Rolle in der Struktur der Muskeln spielt. Es gibt aber noch eine andere Muskeldystrophie, Typ Becker-Kiener, die auch durch Mutationen im Dystrophingen verursacht wird. Nur, dass die Art der Mutation einmal zu einem eher schweren Verlauf und einmal zu einem milderen Verlauf führt, der sich auch erst später im Leben manifestiert.

    ? Welche genetischen Defekte sind das?

    Patienten mit einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne haben Mutationen, die den Leserahmen für das Ablesen des Proteins vom Gen unterbrechen, sodass das Protein bei Jungen, die nur ein X-Chromosom haben, fast immer gar nicht mehr synthetisiert werden kann. Klinisch heißt das, das die Krankheit spätestens mit 3 Jahren beginnt, die Jungen sind womöglich mit 10 bis 14 Jahren bereits auf den Rollstuhl angewiesen und wären früher mit 20 Jahren verstorben. Heute werden sie aufgrund der besseren Behandlungsmöglichkeiten bis zu 40 Jahre alt. Bei Mädchen kompensiert ein gesundes Gen auf dem zweiten X-Chromosom meist solch einen Defekt.

    Beim Typ Becker hingegen tragen die Jungen eine Mutation, die den Leserahmen des Gens nicht unterbricht, sodass Sie immer noch eine begrenzte Menge, wenngleich weniger funktionstüchtigen Proteins bilden. Das führt zu einem insgesamt milderen Verlauf der Krankheit, die sich häufig auch erst mit 20 Jahren oder später manifestiert. Die exakte genetische Analyse eines Patienten ist heute von zentraler Bedeutung, denn sie kann auch eine Prognose zum individuellen klinischen Verlauf geben.

    ? Aber was hat man von einer Prognose – Sie werden etwa in 10 Jahren erkranken?

    Solche Prognosen gibt es nicht. Sehr wohl aber konkrete Anhaltspunkte für die weitere Behandlung. So gibt es Formen von Muskeldystrophien, bei denen wir sicher sagen können, dass das Herz nicht mitbetroffen sein wird. Wir können dem Patienten dann zumindest sagen, dass er nicht alle paar Monate einen Herzultraschall machen muss, was wir dagegen vielen anderen Patienten dringend raten müssen. Denn das lebenslimitierende bei vielen Muskeldystrophien ist nicht die Abnahme der Skelettmuskulatur an sich, sondern vielmehr die kardiale oder pulmonale Mitbeteiligung.

    Außerdem spielt die Genetik und damit die klinische Prognose natürlich auch eine Rolle für die Frage der Berufswahl und der Familienplanung.

    ? Ein anderes Stichwort. Sie leiten seit Kurzem mehrere Patientenregister. Mitte April haben Sie ein weiteres angekündigt – für sog. FKRPopathien.

    … Muskeldystrophien, bei denen wiederum Defekte im sog. Fukutin Related Protein Gen die Ursache sind. Je nach Art der Genveränderung zeigen sich auch hier klinisch gesehen unterschiedliche Krankheiten mit hochvariablem Schweregrad. FKRPopathien sind wohl die Muskeldystrophien mit der größten klinischen Bandbreite.

    ? Aber wozu jetzt ein Register?

    FKRPopathien sind besonders selten. Wir betreuen hier im Institut 25 Patienten. Vielleicht sind es in Deutschland 80, 100 Betroffene. Wir wissen es nicht, haben bislang keine epidemiologischen Zahlen. Und das ist nur eine der Fragen, die wir mit dem neuen Register angehen möchten.

    ? Welche noch?

    Wir hoffen damit v. a. auf eine entscheidende Verbesserung für die Entwicklung neuer Therapien. Es gibt aktuell relativ viele Therapiensätze, allen voran für Muskeldystrophien vom Typ Duchenne – neue Konzepte, die den jeweiligen molekularen Defekt direkt angehen. Um aber solche gentherapeutischen Ansätze in Studien überhaupt sinnvoll testen zu können, brauchen Sie eben Patienten mit jeweils ein- und derselben genau definierten Mutation. Und dies wird erst durch die Register möglich.

    ? Wie funktioniert solch ein Register?

    Als Patient registrieren Sie sich einfach auf bestimmten Websites. In Deutschland können sich Patienten mit Muskeldystrophie vom Typ Duchenne und vom Typ Becker auf der Seite www.DMD-register.de selbst registrieren. Danach können die Patienten uns ihren genetischen Befund per Post schicken. Der wird von uns überprüft, dann in das Register eingegeben, und erst dann werden die Daten in anonymisierter Form an das globale Register bei TREAT-NMD weitergeleitet.

    ? Was ist das?

    Das ist ein Verbund von Forschern auf EU-Ebene, die zu erblichen neuromuskulären Krankheiten arbeiten – gekoppelt wiederum an viele Nationale Kontaktstellen. In Deutschland sind wir vom Muskeldystrophie-Netzwerk, alias MD-NET, der Partner (Siehe auch die links).

    Hier darf ich einmal die Politik loben. Der entscheidende Impuls zu all unseren Projekten kam durch eine Förderung im Rahmen des 6. EU-Rahmenprogramms zustande, die es möglich machte, 2007 die TREAT-NMD-Inititative zu gründen. In Deutschland hat das Forschungsministerium BMBF für uns eine Initialzündung gegeben, fördert unser MD-NET. Das hat uns sehr geholfen, unsere Arbeit für diese eigentlich seltenen Krankheiten nach vorne zu treiben.

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    (Foto: Creativ Collection)

    ? Zurück zu den Registern. Wie kommen Firmen an die Daten, wenn sie klinische Studien aufsetzen möchten?

    Direkt gar nicht. Eine Firma, die eine Studie machen möchte, wendet sich an das Internationale Register bei TREAT-NMD. Die prüfen das, geben dem Antragsteller bei positivem Votum zunächst eine allgemeine Informationen. Etwa: Es gibt in Deutschland 10, in Italien 7 Patienten, die für ihre Studie infrage kommen, und so weiter. Die Daten der Patienten selber werden niemals herausgegeben.

    ? Aber wie kommt dann der Kontakt zu den Patienten zustande?

    Wenn das Projekt fortschreitet, dann kontaktiert TREAT-NMD die nationalen Register, wir schreiben dann in Deutschland jene Patienten an, die zum Ansatz der Firma genetisch genau passen. Wenn diese Interesse haben, an einer Studie teilzunehmen, können sie sich selbst bei den Studienzentren melden.

    ? Machen Sie da am Ende nicht den Job, den eher die Hersteller machen müssten?

    Nein. Diese Daten wären bei der Industrie nicht optimal aufgehoben. Die Daten lagern besser bei einer unabhängigen Stelle, wobei wir auch alles für den nötigen Datenschutz sicherstellen.

    ? Gibt es überhaupt Firmen, die Interesse an Ihren Daten haben? Hier geht es um Orphan Drugs … um sehr seltene Krankheiten.

    Ich bin optimistisch. Derzeit läuft z. B. eine große Studie zur Wirksamkeit von Exon Skipping bei Duchenne. Es geht, vereinfacht gesagt, darum, durch ein quasi "genetisches Pflaster" den defekten Leserahmen im Gen wieder herzustellen, und so doch noch ein zumindest teilweise funktionsfähiges Protein entstehen zu lassen. Die Vorabstudien dazu waren sehr erfolgreich. Da arbeiten bereits mehrere Hersteller dran. Da ist bereits eine Konkurrenz.

    ? Machen die Patienten mit?

    Ja, die Register werden sehr gut angenommen. 2007 waren bei TREAT-NMD zunächst 5 Nationale Register für Spinale Muskelatrophie (SMA) und Muskeldystrophie Duchenne geplant. Mittlerweile sind es bereits 41 für Duchenne und 36 für SMA. Wer mitmacht, hat auch einige unmittelbare Vorteile. Wir informieren auch gezielt über Versorgungsstandards und über Neuigkeiten aus der Forschung und klinischen Entwicklung. Die Patienten im Register bekommen regelmäßige Updates per E-Mail. Außerdem können sie uns jederzeit eine E-Mail schicken, wenn sie Fragen haben.

    ? Wie viele Patienten machen mit?

    In Deutschland waren es, Stand Mitte März 2011, bei Duchenne 585, bei Becker 175 Patienten. Wir schätzen, dass es ungefähr die Hälfte aller hierzulande Betroffenen ist. Weltweit waren Ende 2009 rund 9000 Patienten mit Duchenne im Internationalen Register. Bei Duchenne sind heute schon Register auch in USA, Japan und Australien mit dabei, längst nicht mehr nur aus Europa. Und wir richten bald weitere Register ein.

    ? Beim jüngsten Register, eben jenem für die FKRPopathien, leiten Sie ein weltweites Register, es gibt keine nationalen Datenbanken?

    Nein, weil die Zahl der Betroffenen hier besonders niedrig ist, würden Nationale Stellen wenig Sinn machen.

    ? Wie kriegen Sie ihre Botschaft an die Patienten?

    Wir informieren natürlich über die Patientenorganisationen, über die Muskelzentren, wir haben Flyer und bitten alle genetischen Zentren in Deutschland, die eine Dystrophinopathie-Genetik machen, diesen einem positiven Befund beizulegen.
    Bei einem Internationalen Register wie bei den FKRPopathien ist es natürlich schwieriger. Auf EU-Ebene nützen wir die Infrastruktur von TREAT-NMD, wo längst nicht mehr nur alle europäischen Länder organisiert sind. Neben Japan, USA und Australien sind auch Kanada und Brasilien mit dabei.

    ? Hoffnung auf neue Therapien ist das eine, aber welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es heute für die Patienten?

    Bei Duchenne wissen wir, dass Cortison den Verlauf bremsen kann. Darüber hinaus gibt es sehr viele therapeutische Hilfen je nach individueller Situation. Bei manchen Muskeldystrophien kann ein Schrittmacher nötig werden, oder auch eine künstliche Beatmung. Vieles ist nach wie vor experimentell. Selbst die richtige Physiotherapie gilt es oft noch zu erproben – daher ist es enorm wichtig, dass wir nach und nach Leitlinien für die Behandlung der verschiedenen Krankheiten verfassen.
    Eines ist klar: Die Patienten brauchen den Spezialisten, am besten ein Zentrum, von denen es heute zumindest in jedem Bundesland eines gibt. Als Zentrum innerhalb eines großen Klinikums können wir hier die vielen verschiedenen Aspekte der Behandlung koordinieren. Wir machen bei Bedarf gleich auch den Termin für einen evtl. nötigen Herzultraschall, betreuen so die Patienten quasi aus einer Hand.

    ? Machen Sie auch Termine bei Orthopäden?

    Durchaus. Manche Betroffene müssen operiert werden. Wenn sie Muskelkontrakturen haben, eine Skoliose entwickeln, oder wenn vielleicht zu stark herausstehende Schulterblätter korrigiert werden müssen. Wir brauchen dann Orthopäden mit Expertise für diese Erkrankungsbilder. Und wir würden uns durchaus mehr Spezialisten im Land wünschen. Wir haben bei unseren speziellen Anforderungen mitunter Probleme, Experten unter den Orthopäden zu finden.

    Interview: BE

    Weitere Informationen

    EU-Netzwerk zu Neuromuskulären Erkrankungen:
    http://www.treat-nmd.eu

    Das hiesige Muskeldystrophie Netzwerk:
    http://www.md-net.de

    Die Register:
    https://www.treat-nmd.de/register/
    https://www.fkrp-registry.org/index.de.html

    Selbsthilfe:
    Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke:
    http://www.dgm.org

    Duchenne:
    aktion benni & co:
    http://www.benniundco.de/

    Fachliche Informationen zu den einzelnen Krankheitsbildern:
    http://neuromuscular.wustl.edu


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    Zur Person: Die Neurologin Maggie Walter (Jahrgang 1964) leitet am Friedrich-Baur-Institut der LMU München das Labor für Molekulare Myologie. Obendrein ist sie Koordinatorin des Muskeldystrophie-Netzwerks und seit Kurzem mehrerer Patientenregister für diese sehr seltenen Erkrankungen.
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    (Foto: Creativ Collection)