physiopraxis 2011; 9(5): 33-35
DOI: 10.1055/s-0031-1280586
physiotherapie

Studie zur Arzt-Therapeuten-Kommunikation: Ein Kommentar – Peinliches Ergebnis

Georg Supp
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Publication Date:
20 May 2011 (online)

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Zwei Ärzte haben Physiotherapieverordnungen überprüft. Ergebnis: schlecht ausgefüllte Therapieberichte, keine Übungsanleitung für Patienten, hohe Forderung von Folgeverordnungen. Ein verheerendes Bild, findet Georg Supp.

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Georg Supp ist seit 1992 Physiotherapeut, Miteigentümer des Therapiezentrums PULZ in Freiburg und Senior Instructor des McKenzie Institute Inter-na tional. Als Mitglied des „Board of Directors“ der International MDT Research Foundation setzt er sich für physiotherapeutische Forschungsprojekte ein.

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(Cartoon: D. Schmid)

Es ist bekannt, dass die Kommunikation zwischen Arzt und Physiotherapeut oft nicht optimal ist und manchmal sogar katastrophal. Nun sind einige solcher Fälle publik geworden: Zwei Ärzte nahmen 264 Physiotherapieverordnungen unter die Lupe, die sie selbst ausgestellt hatten („Die Studie“, S. 34). Ihr Ergebnis: Kaum ein verwertbarer Therapiebericht kam zurück, Aufforderungen zur Übungsanleitung kamen die Therapeuten nicht nach, und es gab enorm viele Forderungen nach Folgeverordnungen. Dietmar Göbel und Wolfgang Schultz veröffentlichten diese Daten in der „Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie“ [1]. Auflage: rund 2.000 Exemplare. Die Leser: Orthopäden und Unfallchirurgen.

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Tiefschlag für moderne Physiotherapie

Ein solches Ergebnis ist katastrophal und mehr als peinlich für die involvierten Physiotherapeuten. Immerhin haben sie in nicht weniger als 87,5 % der Fälle gegen die Rahmenverträge mit den gesetzlichen Kassen verstoßen. Zudem verhindern sie den so wichtigen fachlichen Austausch mit dem Arzt, indem sie die erwünschte Rückmeldung schlichtweg ignorieren. Damit riskieren sie, dass Patienten durch widersprüchliche Aussagen von Arzt und Physiotherapeut verunsichert werden.

Leider machen Göbel und Schultz keinerlei Angaben darüber, ob sich bei den befragten Patienten eine Verbesserung eingestellt hat oder nicht. Anhand dieser Information ließe sich die fast 100%ige Nachforderungsquote besser interpretieren. Jede mögliche Interpretation wirft allerdings erneut ein schlechtes Licht auf die Therapeuten: Ginge es den Patienten besser, wäre die beschriebene „Nachforderungsseuche“ völlig widersinnig. Hätte sich deren Zustand nicht verändert, wäre es noch weniger zu verstehen, dass die Physiotherapeuten keine Rückmeldung gegeben haben, um die Behandlung eventuell mit dem Arzt abzusprechen und wenn möglich zu optimieren. Verantwortlicher Umgang mit Patienten sieht anders aus. Dass noch dazu nicht einmal ein einziger von 193 Pa tienten aktive Eigenübungen demonstrieren konnte, ist ein Tiefschlag für die moderne Physiotherapie. Denn damit treten die betroffenen Physiotherapeuten die Grundsätze effektiven Patienten-managements mit Füßen [3, 4, 5, 6]. Entweder herrscht in diesem Punkt mangelnde Einsicht in den unbestreitbaren Wert aktiver Übungsprogramme – oder den involvierten Therapeuten fehlt es schlicht an pädagogischem Know-how.

Doch nicht nur die Therapeutenseite muss man kritisieren. Denn der Ansatz der beiden Ärzte ist zwar richtig und lobenswert, doch sie schütten leider das Kind mit dem Bade aus.

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Neutralität nicht gewahrt

Dietmar Göbel und Wolfgang Schultz hinterfragen ihre eigenen Eindrücke aus der Praxis. Viele gute wissenschaftliche Projekte beginnen so. Ihre statistische Erhebung garnieren die beiden Autoren jedoch mit eigenen Erfahrungen und Annahmen. Für eine wissenschaftliche Arbeit ist das schon eher „untypisch". Weitere wichtige Grundsätze lassen die Orthopäden außer Acht: Sie überprüfen nicht konsequent, ob sich ihre Eindrücke, dass Patienten immer mehr passive Therapien wollen, in der Fachliteratur wiederfinden. Denn dann hätten sie gemerkt, dass dem keinesfalls so ist: Studien zeigen, dass beispielsweise Patienten mit Wirbelsäulenproblemen eher aktive Übungsprogramme als Manuelle Therapie bevorzugen. Nicht passives Konsumieren, sondern verständliche Erklärungen zum Problem und prognostische Einschätzungen der Physiotherapeuten sorgen für eine größere Zufriedenheit bei den Patienten (7, 8, 9, 10, 11, 12]. Aber gut: Auf der Baar – der Region um Donaueschingen – mag das anders sein.

In 87,5 % der Fälle verstießen die Therapeuten gegen die Rahmenverträge.

Noch gravierender ist, dass die beiden Orthopäden in ihrer Arbeit Distanz und Neutralität verlieren: In einer Originalarbeit, die in einer Fachzeitschrift publiziert ist, sind die von ihnen gebrauchten Formulierungen wie „wir werten“ oder „schwarzes Schaf“ völlig fehl am Platz. Sie passen in ein Editorial oder einen Kommentar. Außerdem findet man in der Studie auch den Abdruck eines von einem Physiotherapeuten schlampig ausgefüllten, nichtssagenden Therapieberichts, der darin ebenso wenig etwas verloren hat.

Arzt-Therapeuten-Kommunikation

Die Studie

Dietmar Göbel ist niedergelassener Orthopäde und Unfallchirurg im badischen Donaueschingen, Wolfgang Schultz arbeitet in der Orthopädischen Universitätsklinik Göttingen. Die beiden wissen von Kollegen, dass Patienten regelmäßig Physiotherapieverordnungen mit passiven Behandlungsmaßnahmen nachfordern. Die Ärzteschaft gewinne dadurch den Eindruck, dass die verordnete Physiotherapie völlig ineffektiv sei. Da man in der Literatur vergeblich nach Artikeln zum Thema „Kooperation zwischen Physiotherapeut und Arzt im ambulanten Bereich“ suche, planten die beiden Ärzte ein Forschungsprojekt. Sie wollten der Frage nachgehen, ob der verordnende Arzt die Effizienz ambulanter Physiotherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie überhaupt beurteilen kann. Dazu formulierten sie folgende Fragen:

  1. Wie hoch ist die schriftliche Rückmelde-quote, wenn der Arzt auf der Verordnung einen Therapiebericht anfordert?

  2. Führen Physiotherapeuten die Behandlungsmaßnahmen wie verordnet durch, oder ändern sie die Maßnahmen? Und: Fragen sie den verordnenden Arzt, bevor sie die Maßnahmen ändern?

  3. Leiten Physiotherapeuten die Patienten zu Eigentherapie und Prophylaxe an, wenn der Arzt das ausdrücklich ver ordnet?

  4. Wie hoch ist der Anteil der angefor derten Folgeverordnungen?

  5. Treten durch die Behandlung Komplikationen auf?

  6. Kann der Erfolg der rezeptierten physiotherapeutischen Maßnahmen im Rahmen der bestehenden Kooperation zwischen Arzt und Therapeut beurteilt werden?

264 Verordnungen kontrolliert

Um diese Fragen zu beantworten, kontrollierte Wolfgang Göbel 264 physiotherapeutische Verordnungen, die er während eines Monats in seiner orthopädischen Praxisklinik ausgestellt hatte. Verschrieben hatte er 167-mal KG, 37-mal MT, 26-mal KGG und 24-mal D1. Dazu kamen 4-mal KG im Bewegungsbad, 3 Massagen, 2 Elektrotherapien und 1 Wärmetherapie. Bei allen Verordnungen hatte er – durch Markieren des entsprechenden Kästchens – einen schriftlichen Therapiebericht angefordert. Die schriftliche Rückmelde- und Nachforderungsquote ermittelte er an-hand der erhaltenen Therapieberichte. Die Patienten bestellte er 5–6 Wochen, nachdem er die Verordnung ausgestellt hatte, noch einmal ein. Dann fragte er nach dem Behandlungserfolg, der Art der Behand-lung und eventuellen Komplikationen. Hatte er bei einem Patienten aktive Maß-nahmen verordnet, bat er ihn, die entsprechenden Eigenübungen zu demonstrieren. Hatte er keinen Therapiebericht erhalten und äußerte sich der Patient im Laufe des Gesprächs auch nicht zum Thema Folgeverordnung, fragte der Arzt nach: „Was meint denn der Physiotherapeut?“ So erhielt er zusätzlich eine sogenannte „mündliche Nachforderungsquote“.

Nachforderungsquote von 99 %

Die Rückmeldequote war ernüchternd: Zu den 264 ausgestellten Verordnungen erhielt der Arzt lediglich 33 Therapieberichte. Das entspricht 12,5 %. Mehr als die Hälfte davon – nämlich 17 – enthielten keine verwertbaren Informationen über den Behandlungsverlauf. Nur 9 Berichte waren ausführlich und hilfreich. 6 Berichte drückten den Wunsch nach Therapieände-rung im Sinne einer passiven Behandlung aus, ein Bericht unterstützte eine aktivere Behandlung. Jedoch forderten die Therapeuten auf 90 % der Therapieberichte eine Folgeverordnung. Zusammen mit den mündlichen Nachforderungen durch die Patienten ergab sich eine Gesamt-Nachforderungsquote von 98,9 %. Mit anderen Worten: Nur bei 3 von 264 Patienten sollte der behandelnde Arzt – ginge es nach Physiotherapeut und Patient – keine Folgeverordnung ausstellen.

Eigenübungen nicht gelernt

Es kommt noch schlimmer: In 193 Fällen verordnete Göbel ausdrücklich, dass der Patient Eigenübungen erlernen sollte. Die entsprechenden Patienten bat er daher, die erlernten Übungen zu demonstrieren. Lediglich 5 Patienten, deren Behandlung allerdings aus Krankengymnastik am Gerät bestanden hatte, konnten zumindest verbal Übungen am Trainingsgerät beschreiben. Unter Komplikationen nach der Physiotherapie – Schwindel, Übelkeit oder Schmerzverstärkung – litten 6 Patienten, also 2,3 %.

Fazit: Physiotherapeuten sollen nicht selbstständig behandeln

Das Fazit der beiden Ärzte: Es besteht ein enormes „Kooperationsdefizit". Die fehlende Rückmeldung durch die Physiotherapeuten hat Schultzs und Göbels Meinung nach zur Folge, dass der Arzt die Effektivität der verordneten Krankengymnastik überhaupt nicht einschätzen kann. Die beiden Orthopäden lehnen eine eigenständige, von der ärztlichen Verordnung losgelöste Physiotherapie unbedingt ab. Sie berufen sich dabei auf eine Veröffentlichung von Kuprian und Kollegen [2] und sehen sich durch die desaströse Rückmeldequote in ihrem Projekt bestätigt.

Goebel D, Schultz W. Ambulante Physiotherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie: Kann der Erfolg überhaupt beurteilt werden? Z Orthop Unfall 2011; 149: 17–21

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Ergebnisse nicht unbedingt übertragbar

Die Autoren geben nicht an, wie viele Therapeuten in die Erhebung involviert waren – selbst auf direkte Nachfrage nicht. Ob es 2, 20 oder 200 Therapeuten waren, beeinflusst die Aussagekraft und Übertragbarkeit der Studie natürlich unbedingt. Daher ist es wissenschaftlich unsauber, die erhobenen Zahlen einfach auf „die Physiotherapie“ zu übertragen.

Dass nicht ein einziger Patient Übungen demonstrieren konnte, ist ein Tiefschlag für die moderne Physiotherapie.

Auch zeichnet sich eine gute Untersuchung dadurch aus, dass die Fragestellung beantwortet wird. Auf „Kann der Erfolg überhaupt beurteilt werden?“ gibt diese Arbeit jedoch keine Auskunft. Ideale Umstände, um den Effekt physiotherapeutischer Maßnahmen zu bestimmen, wären im Groben folgende: Der Arzt stellt mit validen Messmethoden den Ist-Zustand des Patienten fest. Als einzige Intervention erhält dieser dann sechs Sitzungen Physiotherapie. Danach nimmt der Arzt wieder den Bestand auf und vergleicht ihn mit dem vor der Therapie. Zuverlässig und ordentlich verfasste Berichte des Therapeuten würden dann auch darüber Auskunft geben, ob er den Zustand des Patienten gleich einschätzt wie der Arzt.

Die von den Autoren gewählte Methode erlaubt dagegen einzig darüber eine Aussage, wie es um den fachlichen Austausch zwischen den betroffenen Physiotherapeuten und dem Arzt bestellt ist. Nämlich sehr schlecht. Diese fehlende Kooperation birgt enorme Risiken: Unter Umständen erkennt der behandelnde Arzt zu spät oder gar nicht, dass die Therapie wirkungslos ist. Wertvolle Zeit verrinnt. Erhalten Patienten von Arzt und Therapeut widersprüchliche Aussagen zu Diagnose und Prognose, schadet dies der Effektivität des gesamten medizinischen Managements nachhaltig.

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(Cartoon: D. Schmid)

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Pauschale Aussage nicht möglich

Auch wenn pauschale Aussagen nach dieser Erhebung weder möglich noch hilfreich sind, gehen Dietmar Göbel und Wolfgang Schultz einen Schritt in die richtige Richtung: Sie decken Missstände bei den evaluierten Physiotherapeuten auf und sensibilisieren dadurch Ärzte und Therapeuten. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass die involvierten Therapeuten äußerst unprofessionell gearbeitet haben. Leider haben sie dadurch die gesamte Physiotherapie in ein extrem schlechtes Licht gerückt – zu Unrecht. Denn es gibt viele Therapeuten, deren Arbeitsniveau weit über dem hier abgebildeten liegt. Physiotherapeutische Klassifizierungs- und Behandlungsstrate gien sind längst Standard im Management muskuloskeletaler Beschwerden [16, 17, 18, 19]. In vielen Ländern der Welt arbeiten Physiotherapeuten zudem als „Primary Care Practitioner“ und haben den Erstkontakt [13, 14, 15]. Dass sich die beiden Ärzte – unter anderem mit dem Verweis auf eine mehr als 20 Jahre alte Einschätzung [2] – kategorisch gegen eigenständige Physiotherapie aussprechen und sogar eine regelmäßige Kontrolle der physiotherapeutischen Maßnahmen durch den Arzt vorschlagen, hat daher anachronistische Züge.

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Georg Supp ist seit 1992 Physiotherapeut, Miteigentümer des Therapiezentrums PULZ in Freiburg und Senior Instructor des McKenzie Institute Inter-na tional. Als Mitglied des „Board of Directors“ der International MDT Research Foundation setzt er sich für physiotherapeutische Forschungsprojekte ein.

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(Cartoon: D. Schmid)

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(Cartoon: D. Schmid)