Let's Talk about Function!
Liebe Leserinnen und Leser,
trauen wir uns, über Funktion zu reden? Dass die DO eine Ausgabe einer Funktion widmet,
ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, da wir uns oft an anatomischen Regionen
oder bestimmten Patientengruppen entlang arbeiten. Gibt es also eine Scheu, sich ganz
auf Funktionen einzulassen?
Der osteopathischen Funktion folgt Struktur auf dem Fuße. Struktur verweist auf einen
anatomischen Ort und eine stoffliche Widerständigkeit. Struktur und Funktion werden
in der Osteopathie als zusammengehörige Gegensätze gesetzt. In der europäischen Wissenschaftsgeschichte
standen die beiden jedoch gemeinsam für eines, den Beziehungsaspekt der Elemente;
und gemeinsam kritisierten sie die bis ins 19. Jahrhundert dominierenden Essenz- und
Substanzbestimmungen. In der sich selbst als strukturalistisch bezeichnenden Wissenschaft
lenkt Struktur den Blick weg von der alles in sich tragenden Essenz und hin zur Betrachtung
der Elemente im Geflecht ihrer Beziehungen. Struktur ist dabei (wie Funktion) ein
Beziehungsbegriff. Dieser Blickwechsel ist nicht in die osteopathische Tradition eingegangen,
in der Struktur eine Bastion der Feststofflichkeit darstellt und zum Refugium der
vitalistischen Substanzbestimmungen geworden ist.
Atmen ist eine Funktion, die man nur schwer verorten kann. Die Physiologie spricht
von Atmung im Zusammenhang der Thorax- und Zwerchfellbewegung, des Gasaustauschs in
den Lungen und der metabolischen Prozesse der Zellatmung. Wir sind keine Physiologen,
sondern müssen vielmehr die Effekte der Physiologie erspüren und die Aktivität des
Atmens wahrnehmen: in welchem Rhythmus und mit welchen Volumen- und Spannungsänderungen
jemand atmet, mit welcher Anstrengung, Intention und zu welchem Zweck. Osteopathen
müssen verstehen, ob eine Atemform dazu dient, das CO2-O2-Verhältnis zu beeinflussen, sich aufzurichten, die Rippen zu bewegen, das kleine
Becken zu entstauen, ein Gefühl in sich hervorzurufen oder zu vermeiden.
Die Herausforderung des Wahrnehmens und Deutens einer Funktion wie der Atmung liegt
darin, dass ein feststehender Maßstab fehl am Platz ist. Wir wissen nicht, was „richtige“
Atmung ist. Somit ist es kaum möglich zu sagen, was eine Atem-Dysfunktion sein soll.
Dafür ist es umso notwendiger, die Angepasstheit einer Funktion an die Erfordernisse
der Situation zu beurteilen und verschiedene Zustände zu unterscheiden, z. B. Ruhe-
und Belastungsfunktion, Ermüdung oder Erschöpfung.
Verstehen anstatt zu moralisieren ist die Aufgabe einer funktionellen Medizin, die
darauf gerichtet ist wahrzunehmen, wie jemand in diesem Moment und in der Situation
der Behandlung atmet. Nicht das Wissen über die richtige Atmung, sondern die Frage,
warum so und nicht anders geatmet wird, steht im Mittelpunkt einer funktionellen Betrachtung.
Atmen ist automatisierte Funktion, durch Wahrnehmung und Atemtechnik beeinflussbar,
aber nicht anhaltend steuerbar. Es ist Ausdruck der vegetativen Funktion und nicht
in erster Linie der Willenskraft oder des Bewusstseins. Einem Menschen muss genauso
wenig beigebracht werden, richtig zu atmen, wie einem Säugling das Gehen pädagogisch
mit Übungen gelehrt werden muss. Wer nicht durch Atemtechniken oder professionelle
Erfordernisse verbildet ist, atmet, wie er es braucht.
Die Herausgeber