OP-Journal 2012; 28(1): 98-106
DOI: 10.1055/s-0031-1279980
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Geschichte der Entstehung und erste Jahre der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen 1952–1963 (1)

Development, History and First Years of AO 1952–1963
Urs F. A. Heim
Further Information
Priv.-Doz. Dr. med. U. Heim
Schänzlistraße 65
3013 Bern
Schweiz

Publication History

Publication Date:
26 July 2012 (online)

 

Zusammenfassung

Die AO brachte einen großen technisch-sozialen Schritt in der Traumatologie der Extremitäten: Durch sofortige operative, anatomische Reposition und stabile Fixation konnte der Verletzte aus einer lang dauernden Hospitalisation (Extension), mindestens aber aus einer ausgedehnten, hinderlichen, äußeren Fixation (Zirkulärgips) befreit werden. Durch sofortige postoperativ aktive Mobilisation wurden zudem Zirkulation und Trophik verbessert. Unter Einfluss, Anleitung und Mitarbeit des chirurgisch erfahrenen Orthopäden Maurice Edmond Müller setzte sich eine kleine Gruppe befreundeter chirurgischer Chefärzte in bescheidenen Krankenhäusern aus der Region Bern zum Ziel, die „restitutio ad integrum“ zu erreichen. Die Asepsis musste verbessert werden, das technische Vorgehen standardisiert und die Resultate – wie bei Böhler – bis zu den Spätergebnissen lückenlos verfolgt werden (Dokumentation = D). Bisherige operative Behandlungen waren – außer bei einigen Vorläufern – meist unbefriedigend. Deshalb sollte ein eigenes, vollständiges, in seinen Elementen kompatibles und biologisch inertes Instrumentarium konstruiert werden. Dafür konnte der ideenreiche Jungunternehmer Robert Mathys begeistert werden (Instrumentation = I). Der etwas später hinzugekommene Martin Allgöwer war wie Müller eine schillernde Persönlichkeit, vielseitiger Operateur und guter Kenner der experimentellen Chirurgie. Er brachte die Kontakte zu Nordamerika und dessen Teamwork sowie einen entwaffnenden Humor. Unterstützt vor allem durch Willenegger gelang ihm die Gewinnung und dann Finanzierung des Laboratoriums für experimentelle Chirurgie in Davos (Forschung = Research = R). Nach 6 Jahren Zusammenarbeit wurde im November 1958 offiziell die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese gegründet und nachfolgend administrativ strukturiert: keine Hierarchie, Gleichheit aller Mitglieder, regelmäßige Tagungen für Aussprachen und Beschluss neuer Lösungen sowie Kontakte nach außen. Nun fehlte noch die Bildung neu Hinzukommender, speziell der nächsten Generation. Bücher sind dazu ungenügend. Es wurde ein praktisch-theoretisches Kurssystem entwickelt, das sich bis heute weltweit verbreitet hat. Am hilfreichsten für die frühe Entwicklung erwiesen sich die unter Leitung von Professor Hermann Krauss in Freiburg i. Br. tätigen Mitarbeiter in Deutschland sowie die in der Böhler-Schule aufgewachsenen jungen österreichischen Kollegen.


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Abstract

The AO led to a major technical-social step in trauma surgery of the extremities: through careful surgical and anatomic repositioning and stable fixation patients could be spared long hospital stays (in traction) or could at least be freed of the extended, impairing external fixation (circular casts). By means of immediate postoperative active mobilisation, in addition, circulation and trophic aspects are also improved. Under the influence, guidance and cooperation of the surgically experienced orthopaedic specialist Maurice Edmond Müller, a small group of befriended surgical consultants in modest hospitals in the Bern region took on the task of attempting to achieve “restitutio ad integrum”. Asepsis had to be improved, the technical procedure standardised and the results – as in Böhlerʼs work – conscientiously followed through to the late result stage (documentation = D). Previous surgical treatment options – except for a few precursory examples – were mostly unsatisfactory. Accordingly a special, complete, mutually compatible and biologically inert instrumentarium had to be constructed. The inventive young engineer Robert Mathys enthusiastically took on this task (instrumentation = I). Martin Allgöwer who joined the group somewhat later was, like Müller, a flamboyant personality and multifaceted surgeon with a good knowledge of experimental surgery. He established contacts in and team work with North America and had a disarming humour. Supported above all by Willenegger he succeeded in acquiring and then financing the laboratory for experimental surgery in Davos (research = R). After 6 years of cooperation, the working group for osteosynthesis was officially founded in November 1958 and subsequently given an administrative structure: no hierarchy, equality of all members, regular meetings for discussion and adoption of new solutions and external contacts. Now there was a need for training new members, especially the next generation. Books were not enough for this. A practical-theoretical course system was developed that has now spread world-wide. Most useful for the early development were the colleagues in Germany under the direction of Professor Hermann Krauss in Freiburg i. Br. as well as the young Austrian colleagues who grew up in the Böhler school.


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Einleitung

Professor H. J. Oestern, Präsident der Deutschen AO, hat mich gebeten, den Vortrag, den ich mit diesem Titel an der gemeinsamen Tagung der 3 deutschsprachigen Sektionen am 9. Mai 2008 in Dresden hielt, doch schriftlich zu formulieren, damit er einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich werde. Denn meine Vorträge pflege ich durch Projektion von Bildern und Stichworten frei zu halten, ein Manuskript existiert nicht.

Ich komme diesem Wunsch – umständehalber mit Verzögerung – gerne nach, werde aber da und dort neue Reflexionen einfügen. So entsteht gewissermaßen ein Original.

Es handelt sich nur um eine kurze Zusammenfassung einer außergewöhnlich komplexen „Geschichte“. Sie ist im Buch „Das Phänomen AO“ [1] beschrieben ([Abb. 1]). Hinweise darauf erfolgen mit Ph und Zahlen (= Buchseiten).

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Abb. 1 Umschlag des Buches Das Phänomen AO/2001 Huber Bern, deutsche Ausgabe, ISBN 3-456-83638-4, englische Ausgabe The AO Phenomenon, gleiche Daten. Die Reproduktion sämtlicher Bilder aus diesem Buch ist vom Verlag genehmigt.

Man hat mir vorgehalten, das Thema wäre zu früh bearbeitet worden. Robert Schneider hatte seinerzeit 2 kleine Büchlein (ohne Verlag) drucken lassen, 1968: „10 Jahre AO“ und dann 1983 „25 Jahre AO Schweiz“. Sie waren als Geschenk verteilt worden, nicht registriert (keine ISBN-Nummer), also weder in Bibliotheken noch im Handel auffindbar. Ihre wesentlichen Informationen durften nicht verloren gehen. Es bestanden auch noch Unklarheiten und Lücken. Dies konnte nur durch Befragung möglichst vieler Zeitzeugen bereinigt werden. Die Wenigen, die die ersten Jahre aktiv erlebt und mitgestaltet hatten, sind nicht mehr unter uns, leben zurückgezogen oder sind schon lange anderweitig engagiert. Jüngere oder gar von außen Hinzukommende können sich nicht in das damalige Geschehen hineindenken. Ich wollte der Entstehung von Legenden zuvorkommen. Die AO-Geschichte beginnt 1952, mit überaus kühnen und weitgehend als nicht realisierbar geltenden Ideen und Techniken.

Bevor wir uns jedoch der AO selbst zuwenden, müssen die Gründe für ihre Entstehung dargelegt werden. Dazu die folgenden Abschnitte:


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Die Praxis der Traumatologie vor 1958

Noch Ende des 19. Jahrhunderts und in den folgenden Jahrzehnten waren die führenden Chirurgen in Europa auch bedeutende Traumatologen (z. B. Theodor Kocher in Bern und seine Schüler DeQuervain, Matti [2] und in Zürich Billroth, Krönlein, auch noch Sauerbruch). Die Behandlung der Verletzungen des Bewegungsapparats war ihnen ein Anliegen. In den angelsächsischen Ländern waren diese bereits von den Orthopäden übernommen worden.

Die Behandlungen waren aber langwierig, erforderten oft monatelange Hospitalisationen und endeten nicht selten mit Fehlstellungen oder Pseudarthrosen, d. h. Invaliditäten.

Nach dem 2. Weltkrieg kamen in Etappen die wesentlichen Neuerungen in die allgemeine Therapie: die intravenösen apyretischen Infusionen, die Transfusion von konserviertem Blut, dann die Antibiotika, die medikamentöse Thromboembolieprophylaxe und nicht zuletzt die intratracheale Narkose mit dem ärztlichen Fachanästhesisten, die Voraussetzung für eine große Chirurgie. Diese zogen die Kader der Ausbildungskliniken und damit auch die nachfolgende Assistentengeneration zur großen Viszeralchirurgie und den neuen Spezialgebieten hin.

Die allgemeine Traumatologie der Extremitäten blieb den jüngeren Ärzten und den Chefärzten der kleinen regionalen Spitäler überlassen, wo die Verunfallten mangels Transportmöglichkeiten mehrheitlich hingebracht und notfallmäßig betreut wurden.

Diese Behandlung war im Wesentlichen konservativ, Musterbeispiel und häufigste Pathologie war die Unterschenkelschaftfraktur. Sie bestand in Reposition unter manuellem Zug und äußere Fixation mit gespaltenem Gipsverband, welcher die benachbarten Gelenke einschloss. Irreponible Frakturen oder solche, die sekundär dislozierten, wurden hospitalisiert, in transossärer Extension ([Abb. 2] und [4]) reponiert und unter Röntgenkontrolle und klinischer Festigkeitsprüfung auf beginnende und genügende Kallusbildung laufend untersucht. Femurschaft- und Humerusschaftfrakturen heilten sehr langsam ([Abb. 3], [4], [5]).

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Abb. 2 Krankenzimmer für Patientinnen in Extension wegen Tibiafrakturen, ca. 1945, Universitätsklinik Zürich. Provisorische Einrichtung im Dachstock mit 7 Betten. Eine Schwester bringt 7 Nachttöpfe (Professor Otmar Trentz, Zürich, aus seiner Diasammlung).
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Abb. 3 Abduktionsgips unter Einschluss des Thorax bei Humerusschaftfraktur. Die Stellung hängt mit der Gefahr der Schulterversteifung zusammen. Behinderung der täglichen Lebensweise und des Schlafens, keine Passage durch enge Türen möglich (Aus Matti: Die Knochenbrüche und ihre Behandlung. Berlin: Springer; 1931. 2. Aufl. S. 141).
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Abb. 4 Lorenz Böhler am Krankenbett kontrolliert die Stellung und die transossäre Extension mit dem Stationsarzt. Femurfraktur (AO-Diasammlung für Kurse).
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Abb. 5 Frühe Femurmarknagelung bei Böhler 1941: Stückbruch Oberschenkel. Extension 9 kg. Marknagel nach 23 Tagen. Fragmentstauchung, nach 5 Wochen etwas Extension, dann Beginn Mobilisation. Konsolidiert nach 17 Monaten (Aus: Lorenz Böhler: Die Technik der Knochenbruchbehandlung in Frieden und im Kriege. 3. Band 9–11. Auflage 1945, Wilhelm Maudrich, Wein, S. 1822–1823).

Das dauerte bei der Tibia mindestens 7 Wochen. Dann konnte man in einem sogenannten Gehgips aufgerichtet werden und mit Krücken humpeln, das wiederum mindestens 4 Wochen bis zur eigentlichen Befreiung. Bei Femurfrakturen (und auch oftmals bei anderen Lokalisationen) dauerte die Fixation bedeutend länger.

Gelenkfrakturen – mit Ausnahme des proximalen Femurs – waren damals noch selten. Bei offenen Frakturen wurde ein spannungsfreier Hautverschluss angestrebt und dann nach Schema nachbehandelt. Die lang dauernde Arbeitsunfähigkeit nach Fraktur wurde in einer Zeit, in der Tausende ihre Lungenkrankheit durch Kuren in Sanatorien zu heilen hatten, nicht als schwerwiegendes soziales Problem empfunden.

Komplikationen waren damals in der gesamten Chirurgie noch relativ häufig. Die Kenntnis der klassischen Komplikationen infolge Bettlägerigkeit wird vorausgesetzt.

Nach Verletzung waren die oft letalen Thromboembolien besonders gefürchtet.

Spezifisch waren: Dekubitalnekrosen, Druckschäden durch Gips in vielen Formen, z. B. die Sudeckʼsche Dystrophie – welche die ganze Extremität lahmlegt. Die hartnäckigen Muskelatrophien und Gelenksteifen erforderten eine länger dauernde Nachbehandlung. Dann wurden auch die chronischen Zirkulationsschäden sichtbar (die „dicken Beine“).

Aus den Folgeschäden wurden Rentenfälle der Versicherungen. Die Schweizerische Versicherungsanstalt SUVA meldete 1945 nach Tibiafrakturen 40 % Dauerinvalidität, nach Femurfrakturen 70 %. (Ph. 38,40).

Der belgische Chirurg Danis (s. u.) kreierte damals den Begriff „Frakturkrankheit“ („la maladie fracturaire“).

Die meisten Komplikationen konnte Lorenz Böhler (1885–1973) ([Abb. 4]) dank systematisch und fast paramilitärisch geführtem Regime in seiner 1925 gegründeten Unfallklinik in Wien vermeiden oder mildern. Seine Grundsätze waren:

  1. schmerzfreie Reposition und Weiterbehandlung

  2. aktive Mobilisation aller nicht fixierten Gelenke am ganzen Körper

  3. ununterbrochene Ruhigstellung des Frakturherds bis zur Konsolidierung

Finanziert wurde seine Klinik durch den Rückgang der Dauerrenten der staatlichen AUVA infolge optimaler Behandlung.

Die fortlaufende Kontrolle der Patienten (es waren alles Versicherte) erfasste das gesamte Krankengut bis zur sozialen Eingliederung. Diese lückenlose Statistik war einmalig.

Die Details von Therapie- und die Resultate waren in seinem, 1929 erschienenen Buch „Technik der Knochenbruchbehandlung“ [3], zu lesen. Es wurde von zahlreichen, laufend ergänzten Auflagen gefolgt und in alle Sprachen übersetzt. Böhler und seine Klinik wurden von Ärzten aus der ganzen Welt besucht, aber nur wenige arbeiteten bei ihm, um sich auch in die schwierigen Details seiner Behandlung einzuleben.

Seine Frakturbehandlung war prinzipiell konservativ, aber er führte sehr früh die Nagelung der Schenkelhalsfrakturen nach Smith-Petersen ein, ebenso die Marknagelung nach Küntscher [4] ([Abb. 5]), und ließ auch dislozierte irreponible Gelenkfrakturen verschrauben. Wie er fürchteten aber auch alle anderen die Komplikationen einer Operation: Infektion, technisches Versagen infolge von Materialproblemen oder mangelhafter Erfahrung.


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Die operative Behandlung der Frakturen vor 1958

Damals waren schon folgende Techniken allgemein bekannt und vielerorts im Einsatz:

  • Der Dreilamellen-Nagel für Schenkelhalsfrakturen, angegeben 1925 von Smith-Petersen, von Böhler verbessert. Die Operation war standardisiert, dauerte aber meistens etwa 3 Std.

  • Verschiedene Klingenplatten für pertrochantäre Frakturen, meist zweigeteilt, fast immer mechanisch ungenügend und wenig erprobt.

  • Die Drahtumschlingung (Cerclage) bei irreponiblen Schafttorsionsfrakturen. Die Reposition war gut, die Stabilität ungenügend, deshalb war postoperativ ein langer Zirkulärgips obligat.

  • Die Marknagelung, seit 1940. G. Küntscher (s. u.).

  • Zwingende Operationsindikationen entstanden bei posttraumatischen Fehlstellungen und Pseudarthrosen. Die Resultate waren oft enttäuschend ([Abb. 6], [7], [8]).

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Abb. 6 Zu schwache und zu wenig komprimierende Platte bei Pseudarthrose am Humerus („Coapteur“ von Danis). Nach Kompression mit dicker AO-Prototypplatte (1959) sofortige Konsolidation (Aus: Technik der operativen Frakturenbehandlung. Springer; 1963. S. 18).
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Abb. 7 Persistierende subkapitale Humeruspseudarthrose nach Bruch des zu schwachen Marknagels und dem Versuch einer zusätzlichen Zuggurtung, Draht-Cerclage (Beispiel aus der AO-Diasammlung für Kurse).
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Abb. 8 Persistierende Unterarmschaftpseudarthrosen nach zu dünnen Plättchen (Aus: Matti 1931. op. cit., 2. Aufl. S. 650).

Systematisch haben schon früh 3 Chirurgen Frakturen operiert:

1. Albin Lambotte (1866–1955) in einem kleinen Spital in Antwerpen ([Abb. 9])

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Abb. 9 Albin Lambotte, vielfach publiziert, u. a. in Van der Elst. Les débuts de lʼosteosynthèse en Belgique Imprimérie des sciences, Bruxelles; 1971.

Er war ein bedeutender Mensch und vielseitiger Konstrukteur. In seiner Werkstatt baute er alle möglichen Apparate, auch viele Geigen, und natürlich seine eigenen Implantate und Werkzeuge: Schrauben und Platten und den „Fixateur externe“ (abgebildet in Ph. 152). Im 1. Buch 1907 [5] sind alle Operationen mit technischen Zeichnungen illustriert, erst beim 2. Buch 1913 [6] sind Röntgenbilder kopierbar. Lambotte hat die Verläufe von über 650 Fällen dokumentiert, aber als Einzelbeispiele, nicht in Form von Statistiken. Er operierte erst nach Abschwellung, reponierte unter strengster Asepsis, rein indirekt, d. h. instrumentell von außen. Er verlangt eine „mathematische Reposition“. Er mobilisiert postoperativ sofort, ohne äußere Fixation. Nach seinen meist monokortikalen Fixationen der Platte kommt es ungewöhnlich schnell zur Konsolidation. Auf seinen Bildern sieht man keinen Kallus, dieser wird aber nicht thematisiert.


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2. Robert Danis (1880–1962)

Professor am Hôpital St. Pierre in Bruxelles, kam von der Gynäkologie zur Traumatologie. Bücher 1932 und 1949. Vertritt eine eigene, strenge Präzision mit obligater Kompression des Bruchspalts. Er schneidet Gewinde im Knochen, bohrt mit Elektromotor und verwendet für die Implantate V2a-Stahl. Seine Platte – „Coapteur“ genannt – ist kompliziert und erlaubt etwas Druckausübung. Das Implantat war in verschiedenen Dimensionen im Handel.

Danis operiert notfallmäßig und führt postoperativ die sofortige aktive Mobilisierung durch. Leider bestehen bei ihm keine vollständigen Spätresultate, denn er erfasste nur diejenigen Patienten, welche nach Aufgebot zur Kontrolle erschienen.

Da man bei seinen Synthesen die Heilung nur am langsamen Verschwinden der Frakturlinien verfolgen konnte, entwickelte er eine Antikallustheorie, wonach eine Knochenheilung ohne klassischen Kallus wirtschaftlicher bzw. rascher erfolge und gegenüber dem traditionellen Weg vorzuziehen sei. Sein 2. Buch erschien 1949 [7]. M. E. Müller, der ihn im folgenden Jahr besuchte, erhielt es und war sehr beeindruckt.


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3. Gerhard Küntscher (1900–1972) ([Abb. 10])

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Abb. 10 Gerhard Küntscher (Aus: Heim U. Das Phänomen AO. Bern: Hans Huber; 2000: S. 18).

In Kiel, systematisierte die Idee der Stabilisierung des Frakturherds durch Marknagelung. Nach Tierversuchen und einer eigenen Statistik, die 1940 noch auf Ablehnung stieß, verbreitete sich seine Technik während des Krieges immer mehr. Vom Profil in Form von V ging er auf ein stabiles Kleeblatt über ([Abb. 11]). Die Technik wurde in der Folge laufend verbessert, die Indikationen erweitert und allgemein anerkannt.

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Abb. 11 Stabile Marknagelung der Tibia wegen Pseudarthose. Durch Küntscher selbst in einem Schweizer Landspital 1947 erfolgreich ausgeführt (Aus: Diasammlung H. Willenegger).

Lambotte und Danis hingegen hatten eigentlich keine Nachfolger. Außer Fritz König [8] in Deutschland (zuletzt in Würzburg) wagte es niemand, die Spur des genialen Ersten zu verfolgen. Er war in seinem kleinen Krankenhaus allein, Danis mit seiner kalluslosen Kompressionstheorie nicht recht glaubhaft.

Beide schrieben nur auf Französisch. Ihre Bücher wurden nicht übersetzt, Leserzahl und Bekanntheitsgrad blieben beschränkt.

Dabei verwirklichten beide (wie übrigens auch Küntscher) wesentliche AO-Postulate: die Erhaltung der Mobilität der frakturnahen Gelenke durch innere Stabilisierung, Mobilisation ohne Gips und ohne Extension und nur kurzer Krankenhausaufenthalt.


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Die Ausgangslage

Eine Reformbewegung in der Traumatologie konnte nicht von den Eliten der großen hierarchisch strukturierten Krankenhäusern ausgehen. Für Einzelne war diese Aufgabe ohnehin zu groß. Dass sie nun aus einer kleinen Freundesgruppe junger, unabhängiger Landspitalärzte kommen sollte, die sie mithilfe einiger genialer auswärtiger Persönlichkeiten anpackten und zum Erfolg brachten war in keiner Weise vorauszusehen.

Eine günstige Konstellation war nur im großen Berner Kulturkreis denkbar. Dieser ist aus historischen Gründen sehr viel ausgedehnter, als es nach heutiger Geografie aussieht ([Abb. 12]). Es bestand darin eine außergewöhnliche Dichte von selbstständigen kleinen Krankenhäusern, errichtet von Gemeinden oder Bezirken vor 1914, in denen die Diakonissen des Mutterhauses Salem aus Bern pflegten.

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Abb. 12 Heutige Grenzen des Kantons Bern in der Schweiz und sein z. T. historisch bedingter Kulturkreis (Grauton). Namen der Ortschaften, in denen die Chefärzte AO-Gründungsmitglieder waren.

Dass in kurzer Zeit in diese mehrere befreundete und gleichgesinnte junge einheimische Chirurgen als Chefärzte gewählt wurden, war wohl Zufall. Sie hatten alle an der hiesigen Universität studiert, wo die Semester noch klein waren, was Bindungen über die Jahrgänge hinaus förderte.

In Charakter, Weltanschauung und Lebensweise waren diese Chirurgen sehr solide und konservativ, bürgerlich, aber nicht aus akademischem Milieu stammend.

Sie aber später als bloße Zudiener von Maurice E. Müller sozusagen auf die Seite schieben zu wollen – was tendenziell deutlich wird –, wäre gänzlich verfehlt: Sie waren angesehene, selbstbewusste Persönlichkeiten und erfahrene Operateure. Sie entwickelten im Rahmen der AO demgemäß früh eigene Ideen und Techniken (I), welche Allgemeingut wurden (aber, wie in der AO üblich, nach Funktion und nicht nach Personen benannt wurden). Sie waren auch ausgezeichnete Referenten, Instruktoren, Moderatoren und Organisatoren im Unterricht (T) und bei Kongressen. Ohne sie hätte es keine Dokumentation (D) gegeben. Freilich, der Blendeffekt der Promotoren verdeckte sie für Außenstehende.

Auch ihre psychologische Wirkung war sehr bedeutend: Sie trugen wesentlich dazu bei, dass die Gruppe konsequent gemeinschaftlich arbeitete und beisammen blieb. Den einzigen Austritt, 1962 – ein Nicht-Berner – versuchten sie persönlich zu verhindern.

Und sie waren die unauffälligen aber unerlässlichen Moderatoren gegenüber den schier überbordenden Müller und Allgöwer. Sie verstanden es, bei Fantasien und Risiken die Bremsen so sanft und diskret anzuziehen, dass dies von auswärtigen Besuchern nicht bemerkt werden konnte.

Die Besonnenen waren anfänglich vor allem die alten Freunde Robert Schneider und die „3 Walter“: Bandi, Schär und Stähli. Auch der strenge Hans Willenegger gehörte dazu.

Das war also das 1. große AO-Phänomen: Die Freundesgruppe der jungen konservativen Berner Chefärzte akzeptiert ein ganz anderes Behandlungskonzept von einem noch jüngeren und menschlich ganz verschiedenen Orthopäden. Sie prüfen ihn aber zuerst bei vielen gemeinsamen Operationen während 6 Jahren. Dann ist ihre Meinung absolut fest, die Vereinigung kann gegründet und bald gegen äußeren Widerstand vertreten werden.

In der Zwischenzeit hat sich vor allem ein auswärtiger Gleichgesinnter dazu gesellt, Martin Allgöwer aus Chur (1957). Er war, wie Müller, eine schillernde Persönlichkeit, vielseitiger Operateur, auch Kenner der experimentellen und plastischen Chirurgie, hatte in Nordamerika gearbeitet und das Teamwork-Zusammenabeiten mitgebracht. In der wissenschaftlichen biomechanischen und histologischen Arbeit deckten sich seine Interessen mit Willenegger, welcher unter anderem bei der Gewinnung der Finanzierung außerordentlich hilfreich war. Dessen „Mitgift“ war – wie sich bald herausstellen sollte – für die weitere Entwicklung unerlässlich.

Im Wesentlichen war die AO aber eine Gründung, die nur in der geschlossenen Berner Kultur und ihren Strukturen entstehen und wirken konnte.

Maurice Müller hat mir bei den Vorarbeiten zum Buch einmal gesagt: „ Wir haben Unglaubliches zustande gebracht; das wäre für mich allein ganz unmöglich gewesen. Ohne meine (Berner) Freunde wäre nichts entstanden. Sie waren sehr gute Allgemeinchirurgen. Ich habe sehr viel von ihnen gelernt. Durch sie bekam ich wieder Freude an der Traumatologie“.


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1952–1958: Freundschaft, Zusammenarbeit, Gründung

Im September 1952 – es war „Kalter Krieg“ – treffen sich im 3-wöchigen Militärdienst einer chirurgischen Sanitätsfronteinheit 2 dort frisch eingeteilte Männer im Hauptmannsgrad ([Abb. 13]):

  • Maurice Edmond Müller, der neue Kommandant, 34-jährig, klein, quicklebendig, voller Tatendrang, im Zivilleben Oberarzt an der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Zürich und

  • Robert Schneider, 40-jährig, typische große, ruhige, imponierende Berner Persönlichkeit, im Zivilleben soeben Chefarzt in Grosshöchstetten – ein so kleines Krankenhaus, dass ihm nicht einmal ein Assistent zur Weiterbildung zugeteilt war. Er kommandierte während und nach dem Krieg eine Eliteschützenkompagnie, stand vor der Beförderung, wurde stattdessen jedoch als Chirurg zur Sanität umgeteilt.

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Abb. 13 Das Kader der Chir. Amb. IV 2 vor dem Wiederholungskurs Sept. 1952. Rechts außen: M. E. Müller, Kdt. (wirkt größer als in Natur). Links außen: Rob. Schneider, Chefchirurg der Einheit (Schneider ist größer, als es hier erscheint). Ph. 31.

Zwischen den beiden Ungleichen kommt es rasch zu intensiven Gesprächen über die so vernachlässigte Traumatologie. Müller berichtet über seine Erfolge mit der Technik von Danis. Schneider hat eine 130 kg schwere Problempatientin mit unerträglichen Schmerzen nach einer humeroskapulären Trümmerluxationsfraktur. Nach vergeblichem Suchen eines kompetenten Operateurs willigt nun Müller ein. An einem dienstfreien Samstag operieren sie. Der Erfolg ist stupend. Müllers Theorie hat sich in der Praxis bewährt. Ich fragte ihn später einmal, wie er es damals mit den primitiven wenigen Implantaten geschafft habe: „Eine Art Zuggurtung mit Kirschner-Drähten, äußerem Spanner und Drahtschlingen“ war die Antwort.

Schneider bringt nun seine Chefarztfreunde – die 3 „Walter“ (alle [Abb. 20]). Bandi in Interlaken, 40-jährig, Schär in Langnau, 46-jährig, und Stähli in St.-Imier (im französisch sprechenden Bernischen Jurabezirk), 41-jährig, mit Müller zusammen. Dieser wird nun bei Problemfällen beigezogen. Er kommt in der Folge an Samstagen (an denen man in Zürich nicht operiert) oft in die Berner Spitäler. Man operiert gemeinsam.

Die Tochter von Robert Schneider hat mir erzählt, wie sie oft am Sonntagmorgen die noch auf Canapés im Wohnzimmer schlafenden erschöpften Operateure vom Vorabend entdeckte.

Auf diese Weise entstand unter diesen jungen Chirurgen eine von Müller fest überzeugte Kerngruppe.

Zwei Jahre später kam noch ein weiterer Berner dazu: Hans Willenegger, damals 44-jährig, Privatdozent in Basel und seit Kurzem Chefarzt in Liestal. Die Berner kannten sich alle schon vom Studium her. Er hatte Müller für orthopädische Hüftoperationen in sein Spital gebeten und war beeindruckt. Über die stabile Osteosynthese nach Danis war er skeptisch. Willenegger war ein sehr erfahrener Traumatologe, kannte den Marknagel seit mehr als 10 Jahren.

Müller hatte sich 1957 für Orthopädie in Zürich habilitiert. Er verließ aber noch im gleichen Herbst die Klinik Balgrist und wirkte fortan als freier orthopädischer Gastoperateur in einer zunehmenden Zahl verschiedener Krankenhäuser im ganzen Land. Seine erstaunlichen Resultate machten ihn weit herum bekannt. Bei Willenegger führte er jeweils am Montag Demonstrationsoperationen durch.

In dieser Zeit kam er auch erstmals für eine spezielle Hüftoperation zu Allgöwer (damals 40-jährig), Privatdozent in Basel und seit 1956 Chefarzt im Kantonsspital Chur.

Allgöwer und Müller organisierten nun für die Bisherigen und einige ausgesuchte Interessierte eine 3-tägige Arbeitstagung im Kantonsspital Chur (damals das größte Krankenhaus der Gruppe), um alle Probleme der Traumatologie durchzudiskutieren. Diese fand vom 15.–17. März 1958 statt und war das Muster für die späteren, 2-mal jährlich stattfindenden, kürzeren „AO-Tagungen“.

Sie wurde eingeleitet vom grundlegenden Vortrag von Maurice Müller: „Ziele und Grundprinzipien der modernen Osteosynthese beim Erwachsenen“.

  • Bei Frakturen wird die restitutio ad integrum postuliert. Dazu notfallmäßige Operation (8-Stundengrenze), anatomische Reposition und Stabilisierung des Frakturherds mit Kompression. Sofortige schmerzfreie aktive Mobilisierung aller Gelenke. Damit bleiben Zirkulationsstörungen, Gelenksteife und Muskelschwund aus. Kurze Hospitalisation. Belastung erst nach knöcherner Überbrückung. Es entsteht eine kallusfreie „primäre“ Knochenheilung. Raschere Wiederaufnahme der Arbeit in vielen Berufen, daher geringere Kosten für die Versicherungen. Asepsis und bisherige Implantate sind ungenügend.

  • Bei Pseudarthrosen: Ausschaltung der mechanisch-biologischen Dysfunktion durch die Operation. Fast immer genügt zur Ausheilung nach Stellungskorrektur die Stabilisierung mit axialem Druck ohne Anfrischung oder Resektion des Herdes.

Anschließend wurden die einzelnen Frakturen der Reihe nach durchbesprochen.

Im Spitalkeller ([Abb. 14]) wurden alle damals im Handel erhältlichen Implantate und Instrumentarien an Leichenknochen auf Festigkeit und Handlichkeit geprüft.

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Abb. 14 Zeichnung K. Oberli, Bern: Die mechanische und praktische Prüfung vorhandener Instrumentarien an Leichenknochen. Keller des Kantonsspitals Chur am 15. 03. 1958.

Der Verlauf der Arbeiten, Lustbarkeiten und Zwischenfälle in diesen 3 Tagen ist im Buch (Ph. 34 ff.) festgehalten. Entscheidend waren die Beschlüsse:

  1. Es sollte ein eigenes Instrumentarium geschaffen werden mit den Eigenschaften: Vollständigkeit, Kompatibilität der Elemente untereinander, Einfachheit der Bedienung und biologisch einwandfreie Verträglichkeit der Implantate. Diese Aufgabe sollte Müller – der für die Orthopädie bereits mehrere eigene Konstruktionen besaß – übernehmen.

  2. Das Auffinden von Räumlichkeiten für die Grundlagenforschung (speziell am Bewegungsapparat): der Auftrag wurde Allgöwer übertragen. Er hatte bereits 1 Monat vorher das stillgelegte Institut für Pathologie der Tuberkulose in Davos ins Auge gefasst ([Abb. 15]). Dieses benötigte interne Anpassungen.

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Abb. 15 Das Forschungsinstitut in Davos, in welchem 2 Stockwerke als Laboratorium für experimentelle Chirurgie eingerichtet wurden. Ph. 37.
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Abb. 16 Erste Werkstatt von Robert Mathys, daneben Wohnhaus, mit Dank von der Familie überlassen.

Drei Wochen später erschien Müller auf spezielle Empfehlung hin in der Werkstatt von Robert Mathys (1921–2000, damals 31-jährig) ([Abb. 18]) in Bettlach. Dieser hatte 1946 die eigene Firma gegründet, war auf die Bearbeitung von rostfreiem Stahl für die Industrie spezialisiert und beschäftigte 12 Arbeiter ([Abb. 17]). Mathys war ein äußerst ideenreicher, innovativer, praktisch denkender Techniker. An der für ihn neuen Zusammenarbeit mit Ärzten war er interessiert und begeistert. Man ließ ihn als Laien auch Operationen beiwohen.

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Abb. 17 Zeichnung K. Oberli, Bern: Vertragsabschluss zwischen M. E. Müller und R. Mathys durch Handschlag.
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Abb. 18 Robert Mathys am Zeichentisch 1958. Ph. 59. AO-Diakurssammlung.

Müller schloss mit Mathys durch Handschlag (damals rechtsgültig) ([Abb. 17]) einen Vertrag ab: Die für die Knochenchirurgie entwickelten Produkte durften nur in persönlicher Zusammenarbeit mit ihm entstehen und während 3 Jahren nur an die Mitglieder der eigenen Ärztegruppe geliefert werden. Denn bei der langsamen Heilung von Frakturen waren diese Teil eines klinischen Experiments. Erst nachher durfte Mathys im freien Markt verkaufen. „Aber dann werden Sie Millionär“, soll ihm Müller gesagt haben. Mathys machte sich sofort an die Arbeit ([Abb. 19]), zum Nachteil der bisherigen Kundschaft.

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Abb. 19 Zeichnung K. Oberli, Bern: Pakete mit Implantaten und Instrumenten werden von Frau Violette Moraz-Müller auf den letzten Zug gebracht.

Weil die Bezahlung der Spitäler für die Implantate erst nach Lieferung erfolgte und die vereinbarten Preise die Kosten für die Entwicklung und Fabrikation (kleinere Serien, Lagerhaltung und Spezialanfertigungen) nicht deckten, geriet Mathys in dieser Zeit 2-mal an den Rand des Konkurses. Die Ärzte intervenierten für ihn bei den Banken.

1960 war das Instrumentarium vollständig, wenn auch in ungenügender Quantität vorhanden.

Bei vielen Details von Entwicklung und Konstruktion lässt sich nicht entscheiden, wer von den beiden Vertragspartnern in puncto Idee, Design und technischer Ausführung etc. am meisten beigetragen hat.

Die Ärztegruppe traf sich in der fast identischen Zusammensetzung in Biel am Nachmittag des 6. November wieder zur offiziellen Gründung der „Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen“ oder wie es in den Statuten später formuliert wurde „… für das Studium der Osteosynthese“. Man wollte die gute konservative Frakturenbehandlung nicht verurteilen. Anwesend waren die 13 Gründer, die im nächsten Abschnitt kurz vorgestellt werden.

Der Begriff „Arbeitsgemeinschaft“ war damals neu und ungewöhnlich. Er wurde von Martin Allgöwer eingebracht, nachdem vorher Müller aus dem Französischen (auch für das Englische) das viel unverbindlichere und schwächere Wort „Association“ vorgeschlagen hatte. Der deutsche Terminus ist in andere Sprachen nur mittels Umschreibungen zu übertragen. Er beinhaltet teilweise schon später geschriebene (Statuten) Regelungen.

Weiter folgten an diesem Abend noch Berichte über Osteosynthesen und die Vorbereitungen in Davos. Als Starthilfe für das dortige Laboratorium für experimentelle Chirurgie spendete jedes Mitglied Fr. 500,–, Müller, Willenegger und Allgöwer je Fr. 10 000,–.

Ein neues Problem war auch die Lagerung und Verteilung der (schon vorhandenen) AO-Schrauben und der bald erwarteten weiteren Fabrikate auf die sich vermehrenden Spitäler. Es wurde durch die Einrichtung einer sogenannten „Produktionsstelle“ – später „Verkaufsstelle“ – im Haus der vor Kurzem verwitweten und etwas planlosen jüngeren Schwester von Maurice Müller, Violette Moraz-Müller, gelöst. Sie arrangierte sich in ihrem kleinen Haus in Biel mit ihrer damals 9-jährigen Tochter so, dass die allabendlich von Mathys selbst gebrachten neuen Produkte sortiert und die Notfallbestellungen noch am gleichen Abend via Post (vor Schalterschluss) oder via Bahn (letzte Abfahrt 22 Uhr) ([Abb. 20]) versandt wurden und am nächsten Morgen zur Operation bereit standen. Die beiden führten diese äußerst mühsame und diffizile Arbeit bis 1963 aus.

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Abb. 20 Fotomontage der Gründerportraits aus: Schneider, 10 Jahre AO, op. cit. Obere Reihe Müller, Schneider, Schär, Bandi, 2. Reihe Stähli, Willenegger, Guggenbühl. Dritte Reihe Brussatis, Baumann, Patry. Untere Reihe Allgöwer, Hunziker, Ott.

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Die ersten 13 Mitglieder

(in der ungefähren Reihenfolge ihres Erscheinens in der Gruppe) ([Abb. 20])

Maurice Edmond Müller (1918–2009)

Ältestes von 5 Geschwistern, geboren in der 2-sprachigen Stadt Biel. Vater in die USA ausgewandert und dort für kurze Zeit Arzt und Chirurg. 1916 zurück in die Schweiz: Übernahme des elterlichen Geschäfts. Mutter Berufsmusikerin, nur französisch sprechend, betonte Bibelfrömmigkeit und Hinneigung zu den Kopten Ägyptens. Maurice außergewöhnlich geschickt, lernte mit 17 Jahren autodidaktisch das Zaubern. Studium in Neuchâtel, Lausanne und auch Bern. Nach Kriegsausbruch viel Militärdienst. Staatsexamen 1944, dann Assistent an der orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Sommer 1945 als Mitglied der Schweizerischen ärztlichen Mission in das befreite Äthiopien. Bewältigte dabei außerordentlich heikle chirurgische Aufgaben und sagt darüber: „Dass ich nach Äthiopien ging, war für mein Leben entscheidend.“

Nach Rückkehr 1946 Oberarzt für Chirurgie im Spital Liestal, anschließend Besuch der führenden orthopädischen Kliniken Europas. 1. März 1950 bei Robert Danis in Bruxelles.

1950 chirurgischer Oberarzt im Hôpital des Bourgeois in Fribourg: 72 Osteosynthesen nach dem Prinzip von Danis, lückenlos dokumentiert.

1952 Oberarzt an der Orthopädischen Klinik Balgrist in Zürich.

Trifft 1952 die Berner Chirurgen und dann weitere Freunde (s. o.).

Im Herbst 1960 wird Müller Chefarzt der neu gebauten großen unabhängigen orthopädisch-traumatologischen Klinik des Kantonsspitals St. Gallen, die weitaus größte AO-Abteilung. 1963 zusätzlich Ordinarius für Orthopädie in Bern.

Das Kader in St. Gallen:

  • Bernhard G. Weber (1927–2002). 1967 Habilitation „Die Verletzungen des oberen Sprunggelenks“ [9]. Nachfolger von Müller, 1974 Titularprofessor.

  • Andrea Mumenthaler (1927–2000). 1966–82 Chefarzt Langenthal.

  • Hans Christoph Meuli (geb. 1929). 1982 Titularprofessor in Bern.

  • Alexandre-J. Boitzy (geb. 1930). Übersetzungen ins Französische und Wortschöpfungen für das neue Instrumentarium. Habilitation 1970.

  • Harald Vasey (1930–2002). 1987–1995 Chefarzt-Direktor der Orthopädisch-Traumatologischen Klinik in Genf.

  • Eric Courvoisier (geb. 1928). Habilitation 1973 in Genf, dann Privatpraxis.


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Robert Schneider (1912–1990)

In Biel geboren, 2-sprachig, auch italienisch. Studium in Bern. Befreundet mit Bandi. Staatsexamen 1937. Oberarzt der chirurgischen Universitätsklinik. 1945 Praxis in Grosshöchstetten. Chefarzt 1951–1970. AO-Obmann bis 1978. In den ersten Jahren häufiger Gastoperateur und Referent in Deutschland. 1977 Honorarprofessor in Mainz.


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Walter Bandi (1912–1997)

Medizinstudium in Bern. Freundschaft mit Robert Schneider, gemeinsames Semester in Paris. Staatsexamen 1937. Belegarzt am kleinen Landspital Wattenwyl. 1951 Chefarzt Interlaken. 1974 Titularprofessor.


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Walter Schär (1906–1982)

Staatsexamen 1931 in Zürich. Oberarzt der chirurgischen Universitätsklinik in Bern, hatte Bandi und Schneider als Assistenten. 1944–1968 Chefarzt Langnau Emmental.


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Walter Stähli (1911–2009)

Staatsexamen 1936 in Bern. 1945–1981 Chefarzt St.-Imier.


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Hans Robert Willenegger (1910–1998), genannt “Housi”

Werkstudent: gibt Nachhilfestunden, verfasst Studienhilfen. Staatsexamen 1935. 1937 hämatologisch-experimentelles Doktorat. 1938 Chirurgie in Winterthur. Habilitation 1944. Multiple Publikationen über Bluttransfusion. Präsident der Deutschen Gesellschaft für „Bluttransfusion und Immunhämatologie“. Mit Chef Schürch (1958 Ordinarius für Chirurgie) nach Basel. 1953 Chefarzt in Liestal. Fast fanatischer Verbesserer der Asepsis. Zusammenarbeit mit der Veterinärmedizin (1. Marknagelung am Femur des Hundes 1943). Enorme Geduld mit den Untergebenen, aber stets penetrante Didaktik.

1968 ord. Professor „ad personam“ in Basel. 1972 Gründung der AO-International. Weltweite Aktivität: internationales Ansehen. Stets sehr konziliant, aber limitierter Humor.

Mitarbeiter in Liestal:

  • A. Guggenbühl (s. u.)

  • Liselotte Witschy: für Geburtshilfe, Gynäkologie

  • Gottfried Moser (1922–2003), 1965 Chefarzt Zieglerspital Bern.


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Martin Allgöwer (1917–2007), alte St. Galler Familie

Staatsexamen 1942 in Basel. Anschließend 2 Jahre in der pharmazeutischen Firma CIBA (Gewebezüchtung, Biochemie, Tierversuche). Nach erfolgloser Suche einer Assistentenstelle in innerer Medizin chirurgische Ausbildung mit eigenem Labor. 1950–1951 Stipendienaufenthalt in Plastischer Chirurgie in Texas: Verbrennungs- und Schockforschung. Idee des Verbrennungstoxins. 1952 im Militärdienst Unterschenkeltorsionsfraktur. Cerclage. Bedrohliche Lungenembolie. 1956 Chefarzt Kantonsspital Chur. 1957 Zusammenarbeit mit Müller s. o. Allgöwer ist 1. nicht Bernisches AO-Mitglied. 1983 ao. Professor, 1967–1983 Ordinarius für Chirurgie in Basel. 1984 Gründer der AO-Foundation und Förderer des Zentrums in Davos.

Das Team in Chur war weniger stabil und profiliert als in St. Gallen: Hermann Lüdi bis 1957, Praxis in St. Gallen, später Langenthal. Emilio Bisaz, bis 1957 Praxis in Fribourg. 1959–1961 Urs Heim, dann Chefarzt im benachtbarten Kreuzspital, 1963 Richard Hochuli, anschließend Chefarzt in Thusis. Die folgenden Mitarbeiter gingen meist mit Allgöwer nach Basel und sind als jüngere spätere AO-Mitglieder allgemein bekannt.


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August Guggenbühl (1918–2009)

Staatsexamen 1945 in Basel. 1957 Chefarzt im Spital Grenchen. Von Willenegger in die Berner Gruppe eingeführt. Tierfreund und Gründungsmitglied der AO-VET. Nach der Emeritierung Leitung der staatlichen Traumaklinik in Dubai bis 1995, speziell zur Ausbildung einheimischer Ärzte.


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Walter Ott (geb. 1915)

Medizinstudium in Zürich und München, dann Assistent in Innerer Medizin, Urologie und Chirurgie in Winterthur. Speziell an der Behandlung der offenen Frakturen interessiert: 1954–1977 Chefarzt Rorschach. Struktur und Pläne der AO-Gruppe entsprachen ihm nicht. Trat 1962 wieder aus. Mit vielen Mitgliedern weiterhin freundschaftliches Verhältnis.


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Willy Hunziker (1915–1987), befreundet mit Martin Allgöwer

1948–77 Chefarzt Bezirksspital Belp. In der Gruppe wenig auffallend.


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Fritz Brussatis (1919–1989), wurde von M. E. Müller aus der Neurochirurgie in die Orthopädie übernommen

Einziges nicht Schweizer Mitglied. Zurück nach Deutschland Ende 1958. 1969 Ordinarius für Orthopädie in Mainz.

Ernst Baumann und René Patry wurden als Seniormitglieder wegen ihrer Funktionen und Stellung in der Schweizer Chirurgie aufgenommen.


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Ernst Baumann (1890–1978)

1928–1960 Chefarzt Bezirksspital Langenthal. 1957 Titularprofessor. Nestor der Schweizerischen Traumatologen. Präsident der SGUB (Schweizerische Gesellschaft für Unfallmedizin und Berufskrankheiten) 1955–1960.


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René Patry (1890–1983), altes Genfer Geschlecht, sprachgewandt und hochgebildet

1948–1968 Direktor der Chirurgischen Universitätspoliklinik Genf, ließ Müller zum Operieren nach Genf kommen, verachtete jedoch das AO-Instrumentarium. War 1959 bis Mai 1960 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie.

Die aktiven AO-Gründer waren ausgesprochen junge Chirurgen. Ihr Durchschnittsalter 1958 (mit Ausnahme der beiden Senioren) betrug 44½ Jahre (40–52 [Schär]). Keiner stammte aus einem intellektuell-akademischen Milieu. Vater Bandi war Agronom mit Titel Dr. phil.

Literatur

Eine vollständige Literaturliste wird am Ende des 2. Teils veröffentlicht.


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Priv.-Doz. Dr. med. U. Heim
Schänzlistraße 65
3013 Bern
Schweiz

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Abb. 1 Umschlag des Buches Das Phänomen AO/2001 Huber Bern, deutsche Ausgabe, ISBN 3-456-83638-4, englische Ausgabe The AO Phenomenon, gleiche Daten. Die Reproduktion sämtlicher Bilder aus diesem Buch ist vom Verlag genehmigt.
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Abb. 2 Krankenzimmer für Patientinnen in Extension wegen Tibiafrakturen, ca. 1945, Universitätsklinik Zürich. Provisorische Einrichtung im Dachstock mit 7 Betten. Eine Schwester bringt 7 Nachttöpfe (Professor Otmar Trentz, Zürich, aus seiner Diasammlung).
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Abb. 3 Abduktionsgips unter Einschluss des Thorax bei Humerusschaftfraktur. Die Stellung hängt mit der Gefahr der Schulterversteifung zusammen. Behinderung der täglichen Lebensweise und des Schlafens, keine Passage durch enge Türen möglich (Aus Matti: Die Knochenbrüche und ihre Behandlung. Berlin: Springer; 1931. 2. Aufl. S. 141).
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Abb. 4 Lorenz Böhler am Krankenbett kontrolliert die Stellung und die transossäre Extension mit dem Stationsarzt. Femurfraktur (AO-Diasammlung für Kurse).
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Abb. 5 Frühe Femurmarknagelung bei Böhler 1941: Stückbruch Oberschenkel. Extension 9 kg. Marknagel nach 23 Tagen. Fragmentstauchung, nach 5 Wochen etwas Extension, dann Beginn Mobilisation. Konsolidiert nach 17 Monaten (Aus: Lorenz Böhler: Die Technik der Knochenbruchbehandlung in Frieden und im Kriege. 3. Band 9–11. Auflage 1945, Wilhelm Maudrich, Wein, S. 1822–1823).
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Abb. 6 Zu schwache und zu wenig komprimierende Platte bei Pseudarthrose am Humerus („Coapteur“ von Danis). Nach Kompression mit dicker AO-Prototypplatte (1959) sofortige Konsolidation (Aus: Technik der operativen Frakturenbehandlung. Springer; 1963. S. 18).
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Abb. 7 Persistierende subkapitale Humeruspseudarthrose nach Bruch des zu schwachen Marknagels und dem Versuch einer zusätzlichen Zuggurtung, Draht-Cerclage (Beispiel aus der AO-Diasammlung für Kurse).
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Abb. 8 Persistierende Unterarmschaftpseudarthrosen nach zu dünnen Plättchen (Aus: Matti 1931. op. cit., 2. Aufl. S. 650).
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Abb. 9 Albin Lambotte, vielfach publiziert, u. a. in Van der Elst. Les débuts de lʼosteosynthèse en Belgique Imprimérie des sciences, Bruxelles; 1971.
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Abb. 10 Gerhard Küntscher (Aus: Heim U. Das Phänomen AO. Bern: Hans Huber; 2000: S. 18).
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Abb. 11 Stabile Marknagelung der Tibia wegen Pseudarthose. Durch Küntscher selbst in einem Schweizer Landspital 1947 erfolgreich ausgeführt (Aus: Diasammlung H. Willenegger).
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Abb. 12 Heutige Grenzen des Kantons Bern in der Schweiz und sein z. T. historisch bedingter Kulturkreis (Grauton). Namen der Ortschaften, in denen die Chefärzte AO-Gründungsmitglieder waren.
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Abb. 13 Das Kader der Chir. Amb. IV 2 vor dem Wiederholungskurs Sept. 1952. Rechts außen: M. E. Müller, Kdt. (wirkt größer als in Natur). Links außen: Rob. Schneider, Chefchirurg der Einheit (Schneider ist größer, als es hier erscheint). Ph. 31.
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Abb. 14 Zeichnung K. Oberli, Bern: Die mechanische und praktische Prüfung vorhandener Instrumentarien an Leichenknochen. Keller des Kantonsspitals Chur am 15. 03. 1958.
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Abb. 15 Das Forschungsinstitut in Davos, in welchem 2 Stockwerke als Laboratorium für experimentelle Chirurgie eingerichtet wurden. Ph. 37.
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Abb. 16 Erste Werkstatt von Robert Mathys, daneben Wohnhaus, mit Dank von der Familie überlassen.
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Abb. 17 Zeichnung K. Oberli, Bern: Vertragsabschluss zwischen M. E. Müller und R. Mathys durch Handschlag.
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Abb. 18 Robert Mathys am Zeichentisch 1958. Ph. 59. AO-Diakurssammlung.
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Abb. 19 Zeichnung K. Oberli, Bern: Pakete mit Implantaten und Instrumenten werden von Frau Violette Moraz-Müller auf den letzten Zug gebracht.
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Abb. 20 Fotomontage der Gründerportraits aus: Schneider, 10 Jahre AO, op. cit. Obere Reihe Müller, Schneider, Schär, Bandi, 2. Reihe Stähli, Willenegger, Guggenbühl. Dritte Reihe Brussatis, Baumann, Patry. Untere Reihe Allgöwer, Hunziker, Ott.