Man weiß noch wenig über das Klinische Reasoning von Ergotherapeuten, die Hausbesuche
durchführen. Das ist das Ergebnis einer systematischen Literaturübersicht und Analyse
des ergotherapeutischen Teams um Annie Carrier von der Université Sherbrooke, Kanada.
Klinisches Reasoning, oder auch Klinische Argumentation genannt, ist der Prozess,
den Ergotherapeuten anwenden, um Probleme zu lösen und Entscheidungen für die Therapie
zu treffen. Er hat direkten Einfluss auf die Effektivität der Intervention. Um dieses
Vorgehen speziell im Hausbesuch zu untersuchen, nutzten die Forscher mehrere Datenbanken
einschließlich CINAHL, Embase und Medline. Sie verwendeten die Suchwörter „clinical
reasoning and occupational therapy”, „clinical reasoning and rehabilitation”, „clinical
reasoning and community practice” und „clinical reasoning and home care”. Von den
652 gefundenen Artikeln beinhalteten lediglich 10 die gesuchten Begriffe „clinical
reasoning and community practice” und „clinical reasoning and home care”. Darüber
hinaus bezogen die Forscher relevante Fachbücher in ihre Untersuchung ein, sodass
sie letztendlich 15 Fachbücher und 25 Artikel analysierten. Die Essenz war, dass Klinisches
Reasoning ein sehr komplexer Prozess ist und auf kognitiver Ebene stattfindet. Vier
interne sowie externe Faktoren beeinflussen ihn besonders stark: die Fachkompetenz
und der persönliche Kontext der Ergotherapeutin einerseits sowie der Klient und der
therapeutische Kontext andererseits. Wie diese sich jedoch speziell im Hausbesuch
verhalten bzw. inwiefern sich das Klinische Reasoning im Hausbesuch verändert, bleibt
jedoch weitgehend unbekannt. Obwohl Ergotherapie im häuslichen Umfeld bereits jetzt
eine wichtige Rolle spielt und in der Zukunft noch spielen wird, existieren bislang
nur sehr wenige Studien, die sich mit dem Klinischen Reasoning in diesem Arbeitsumfeld
beschäftigen. Aus diesem Grund plädieren die Forscher dafür, weitere Untersuchungen
auf den Weg zu bringen, um zum Beispiel die Wirkung der vier identifizierten Faktoren
genauer zu untersuchen und den Unterschied zur Behandlung in einer Klinik oder Praxis
herauszustellen.
akb
AOTJ, 2010; 57: 356–365
Kommentar
Ein wichtiger Aufruf, der da aus Kanada kommt! Was bei Ergotherapeuten oft so leicht
und aus dem Bauch heraus erscheint, ist tatsächlich eine enorm komplexe Leistung,
die sie in der Therapie vollbringen. Um Entscheidungen zu treffen, gehen sie keinesfalls
nur nach Gefühl oder intuitiv vor, sondern wägen unzählige Faktoren ab. Diese sehen
im häuslichen Umfeld anders aus als in der therapeutischen Praxis oder in der Klinik.
Welche Voraussetzungen bringt der Klient mit? Kann ich ihm diese Aufgabe zumuten?
Ist sie in seinem häuslichen Umfeld überhaupt möglich? Könnte ich Angehörige einbeziehen?
Was muss ich aus Sicht der Therapiemethode beach-ten? Wie leite ich den Klienten entsprechend
seiner Fähigkeiten an? Stimmt diese Aktivität mit seinen Wünschen und Bedürfnissen
überein?
Was in Gedanken in Form eines narrativen, pragmatischen oder auch ethischen Reasonings
stattfindet, können andere nicht sehen und schon gar nicht verstehen. Es sieht von
außen ja auch so einfach aus. Eine logische Folge wäre, all das aufzuschreiben. Und
zwar für den jeweiligen Kontext und mit Studien untermauert. Damit ließe es sich prima
argumentieren, und die nächste Generation müsste das Rad nicht neu erfinden.
Simone Gritsch, Ergotherapeutin BcOT (NL)