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DOI: 10.1055/s-0031-1277700
Erfahrungen in einer Lepra-Mission – Die vergessene Krankheit
Publication History
Publication Date:
21 April 2011 (online)
- Erste Anzeichen: Helle Hautflecken
- Arztbesuch: Familie kommt mit
- Befund: Hemdzuknöpfen auf Zeit
- Prävention: Mit Topflappen und Schuhen
- OP-Indikation: Krallenhand und Fallfuß
- Postoperativ: Mobilisieren und Dehnen
- Vorbei, aber nicht vergessen
Was wissen wir heutzutage in Europa noch über Lepra? Diese Krankheit ist vergessen und vorbei – außer man besucht Länder, die nach wie vor damit zu kämpfen haben. Daniela Ulmer hat das gemacht. Sie berichtet von ihrem Praktikum auf einer Station der „Internationalen Lepra-Mission” im indischen Kothara.


Nach ihrer Rückkehr aus Indien arbeitete Daniela Ulmer in einer Physiotherapiepraxis in Heidelberg. Momentan besucht sie ein Fachseminar für Sonderpädagogik.
Autos, Motorräder, Pferdewagen, Fußgänger und frei herumlaufende Kühe teilen sich eine Straße. Kinder spielen am Straßenrand, wo Obst- und Gemüsehändler neben Müllbergen ihre Waren anpreisen – in Indien kommt ein Europäer aus dem Staunen nicht mehr heraus. Genau darum hat mich dieses Land schon immer gereizt. Kurz nach meinem Physiotherapieexamen bewarb ich mich bei der Entwicklungsorganisation „Internationale Lepra-Mission” für ein Praktikum in einem indischen Leprakrankenhaus. Ich wollte Land, Leute und vor allem die Behandlung einer Krankheit kennenlernen, von welcher wir in Europa kaum mehr etwas wissen. So verbrachte ich acht Wochen in Kothara, einer Kleinstadt im Herzen Indiens, rund fünf Autostunden vom nächsten Inlandsflughafen entfernt. Nur eine einzige geteerte Straße führt dorthin.
Verstümmelung heißt Ausgrenzung.
#Erste Anzeichen: Helle Hautflecken
Die Klinik ist eines von vielen Projekten der „Internationalen Lepra-Mission”. Mittels Spendengelder unterstützt sie weltweit von Lepra betroffene Menschen. Der indische Staat finanziert Aufklärungsprogramme und Operationen. So ist die Behandlung für Patienten mit Lepra kostenlos. Aus eigener Tasche könnten ohnehin die wenigsten die Therapie zahlen, denn Lepra ist nach wie vor die Krankheit der Armen. Sie wird über das Mycobacterium leprae vermutlich per Tröpfcheninfektion übertragen. Die ersten Anzeichen sind weiße Hautareale mit Sensibilitätsstörungen. Im Verlauf kommt es zu Nervenschädigungen, die wiederum Lähmungen und in Folge Gelenkkontrakturen verursachen. Durch die gestörte Sensibilität verletzen sich die Patienten oft, was zu Wundinfektionen oder gar einem Ulkus führen kann. Schlimmstenfalls droht ihnen eine Amputation. Doch dank verschiedener Therapien kommt es dazu heutzutage selten.
Kothara ist aber nicht nur Anlaufstelle für Patienten mit Lepra. Allen, denen es möglich ist zu kommen, steht die Klinik offen. So finden auch Patienten mit orthopädischen (Arthrosen, Frakturen) und neurologischen Beschwerden (Schlaganfällen) den Weg in die Klinik. Der Schwerpunkt liegt dennoch auf der Therapie von Lepra. Auf diesem Gebiet sind alle 54 Mitarbeiter speziell ausgebildet. Ein Allgemeinarzt, ein Dermatologe, eine Augenärztin und eine Internistin bieten eine für Indien breite medizinische Abdeckung. Für Eingriffe reisen Chirurgen aus anderen Kliniken der „Internationalen Lepra-Mission” an. Die Eckpfeiler der Lepratherapie sind die Prävention, medizinische Hilfe und Rehabilitation. Außerdem können die Patienten und ihre Familien an Gesprächs- und Seelsorgerunden teilnehmen, da sich die Wiedereingliederung in das familiäre Umfeld oft schwierig gestaltet: Eine Verstümmelung ist Grund zur Ausgrenzung, da der Betroffene die Familie nicht mehr unterstützen kann.
#Arztbesuch: Familie kommt mit
Für den europäischen Gaumen sind die indischen Speisen sehr pikant. Mit Weizen- oder Kartoffelfladen, einem würzigen Tomaten-Chutney und Chai-Tee als Frühstück startete ich in den Tag. Danach trafen sich alle Mitarbeiter zu einer kleinen Andacht in der Kapelle. Um halb neun begannen Ärzte, Pflegekräfte und Physiotherapeuten mit der Visite (Abb. 2). Die Stimmung war heiter, das Tempo von Bett zu Bett gemütlich, auch wenn es voll war.


Abb. 1 Ans Herz gewachsen: Durch ihr Praktikum bei der „Internationalen Lepra-Mission” in Indien lernte Daniela Ulmer viel über Land, Leute und Lepra. Der Abschied fiel ihr schwer, auch vom kleinen Samir.
Fotos 1-5: D. Ulmer


Abb. 2 Visite auf der Männerstation: Frauen und Männer sind in Indien auf getrennten Fluren untergebracht, den Männern ist das Betreten der Frauenstation verboten. In Kothara hat es auf beiden Stationen jeweils Platz für 20 Patienten.
Im Anschluss daran gingen wir in die Ambulanz. Dort warteten meist schon frühmorgens viele Patienten mit ihren Verwandten. Sie haben im Morgengrauen ihre Hütten verlassen, um noch vor der Hitze in die Klinik zu marschieren. Andere, deren Anreise den ganzen Tag dauerte, trafen erst am Abend völlig erschöpft in der Ambulanz ein. Jeder kommt nach seinen Möglichkeiten und zu seiner Zeit zum Arzt – Überweisungen und ein ambulantes System wie in Deutschland gibt es nicht.
#Befund: Hemdzuknöpfen auf Zeit
Egal wegen welchen Beschwerden die Patienten die Ambulanz aufsuchen, bei allen wird zuerst die Haut auf Pigmentveränderungen untersucht. Diese hellen Flecken sind auf der dunklen Haut der Inder leicht zu erkennen. Fanden wir weiße Stellen, brachte eine Blutuntersuchung Klarheit darüber, ob sie auf Lepra zurückzuführen sind. Bei den Leprakranken diente uns der Hautbefund zur Kontrolle, ob die Medikamente anschlagen. Zudem untersuchten wir ihre betroffenen Extremitäten, was meine Hauptaufgabe in der Ambulanz war. Für die Befunde gab es elektronische Dokumentationsformulare, in denen ich die Ergebnisse der Sensibilitäts- und Muskelkrafttests speicherte. Im Gesicht, an Händen und Füßen musste ich jeden Muskel einzeln testen (Abb. 3 und 4) – die indischen Physiotherapeuten legten großen Wert darauf. Ich habe sehr über ihr detailliertes anatomisch-funktionelles Wissen gestaunt. Ergänzt habe ich den Befund mit funktionellen Tests für die Handfeinmotorik. Dazu habe ich gestoppt, in welcher Zeit die Patienten ihre Hemdknöpfe öffnen und schließen konnten.


Abb. 3 Das A und O: Da weiße Hautareale die ersten Anzeichen für Lepra sind, wird bei jedem Patienten in Kothara erst einmal die Haut untersucht – ganz egal, wegen welcher Beschwerden die Patienten die Klinik aufsuchen.


Abb. 4 Krafttest des M. abductor pollicis longus: Die Physiotherapeuten müssen für den Leprabefund die Muskelfunktionstests für jeden noch so kleinen Muskel an Händen, Füßen und im Gesicht parat haben.
Prävention: Mit Topflappen und Schuhen
Patienten mit Lepra sollten zwei- bis dreimal jährlich für den Befund nach Kothara kommen. Doch vielen fehlt das Geld dazu. Zudem kommen die meisten Patienten aus der untersten Bevölkerungsschicht, sind wenig gebildet oder Analphabeten. Ihnen fehlt das Verständnis für ihre komplexe Krankheit. Darum spielt Aufklärung eine große Rolle. Die Physiotherapeuten informieren primär über Verletzungsrisiken und wie man diese an den Hautarealen mit Sensibilitätsstörungen wie Handteller und Fußsohlen senken kann. Sie raten den Patienten, beim Kochen am offenen Feuer vorsichtig zu sein und immer Topflappen zu benutzen. Sie sollten Schuhe tragen, Insektenstiche ernst nehmen und sich von gesunden Verwandten beim Baden helfen lassen, damit das Wasser nicht zu heiß ist. Diese Verletzungsprävention ist für die Patienten sehr wichtig. Denn haben sie sich einmal eine Wunde zugezogen, beginnt schnell ein Teufelskreis: Wegen der gestörten Sensibilität bemerken sie die Verletzung nicht oder beachten sie zu wenig, die Wunde infiziert sich, und ein Ulkus entsteht. Da auch die Wundheilung gestört ist, entwickeln sich oft unangenehm riechende Wurminfektionen oder gar Verstümmelungen an den Fingern oder Zehen. Eine Amputation der betroffenen Extremität ist daher manchmal der einzige Ausweg, um eine Ausbreitung nach proximal zu verhindern.
Ein Insektenstich zieht oft einen Teufelskreis nach sich.
#OP-Indikation: Krallenhand und Fallfuß
Doch so weit kommt es zum Glück selten. Oft liegt aufgrund der Nervenschädigung nur ein Verlust der Sensibilität und Muskelfunktion vor, weswegen die Patienten eine Krallenhand oder einen Fallfuß entwickeln. In diesen Fällen nehmen die Chirurgen Rekonstruktionsoperationen vor: Sie verlegen Sehnen oder splitten sie, sodass beispielsweise bei einer Krallenhand eine noch gesunde Unterarmextensorengruppe die Extension der Fingergelenke übernehmen kann. Im Anschluss daran ist eine gute postoperative Physiotherapie ausschlaggebend für den Erfolg. Dazu legten wir den Patienten erst einmal einen Gips an. Mit diesem durften sie dann drei bis vier Tage später nach Hause (Abb. 5). Das Datum, wann sie zur Gipsabnahme und zur anschließenden stationären Nachbehandlung wieder in das Krankenhaus kommen sollten, schrieben wir ihnen auf den Gips. Die Patienten mit Armgips sollten nach vier Wochen wieder kommen, die am Fuß Operierten erst nach sechs Wochen.


Abb. 5 Neu und strahlend weiß: So sieht der Gips von Akash nicht mehr aus, wenn er in sechs Wochen zur Nachbehandlung kommen wird. Denn mit dem eingearbeiteten Metallstück ist das Laufen kein Problem, sodass auch die Feldarbeit weitergehen kann. (Fotos 1-5: D. Ulmer)
Postoperativ: Mobilisieren und Dehnen
Für die Nachbehandlung sammelte sich meist eine Gruppe. Die Übungsrunde für die obere Extremität fand im Physiotherapiezimmer statt (Abb. 6). Ingesamt dauerte die Nachbehandlung, für welche die Patienten erneut stationär aufgenommen wurden, drei Wochen. Das Ziel war es, die steife Hand durch Mobilisieren und Dehnen wieder voll einsatzfähig zu bekommen. Dazu übten wir mit den Patienten zuerst die Extension in den Fingergrundgelenken. Dann lernten sie die Flexion und Extension der PIP- und DIP-Gelenke jedes einzelnen Fingers. Regelmäßig kontrollierten wir auch die Narben und leiteten zur Narbenmassage an. In der letzten Nachbehandlungswoche arbeiteten wir an der Feinmotorik, indem wir beispielsweise das Öffnen und Schließen von Knöpfen anleiteten.


Abb. 6 Selbsthilfe: Nach einer Operation ist eigenhändiges Mobilisieren angesagt.
Foto: D. Ulmer
Postoperativ hätte ich gerne selbst mehr Hand angelegt. Doch mit meinem Wunsch stieß ich auf Ablehnung – die Patienten mussten selbstständig üben. Ich sollte sie dazu ermutigen und sie davon abhalten, sich zu unterhalten. Das war nicht einfach, da ich sie kaum verstand. In Indien gibt es über 100 Sprachen, und nur wenige beherrschen die Landessprache Englisch. Schnell merkte ich, dass auch mit Mimik, Gestik und viel gutem Willen einiges möglich war. Und wenn mich meine Patienten einmal überhaupt nicht verstanden haben, hatten wir wenigstens viel zu lachen.
#Vorbei, aber nicht vergessen
Viele der Patienten, die während meiner Zeit operiert worden waren, kamen erst kurz vor meiner Abreise zur Behandlung. Ihre Therapie konnte ich nicht mehr verfolgen – meine acht Wochen in Kothara waren zu Ende.
Auf der einzigen geteerten Straße fuhr ich zum Flughafen. Mit nach Hause nahm ich viel Wissen über Lepra und Dankbarkeit darüber, dass diese Krankheit bei uns längst der Vergangenheit angehört. Die Zeit ging viel zu schnell vorbei. Doch vergessen werde ich sie nie.




Abb. 1 Ans Herz gewachsen: Durch ihr Praktikum bei der „Internationalen Lepra-Mission” in Indien lernte Daniela Ulmer viel über Land, Leute und Lepra. Der Abschied fiel ihr schwer, auch vom kleinen Samir.
Fotos 1-5: D. Ulmer


Abb. 2 Visite auf der Männerstation: Frauen und Männer sind in Indien auf getrennten Fluren untergebracht, den Männern ist das Betreten der Frauenstation verboten. In Kothara hat es auf beiden Stationen jeweils Platz für 20 Patienten.


Abb. 3 Das A und O: Da weiße Hautareale die ersten Anzeichen für Lepra sind, wird bei jedem Patienten in Kothara erst einmal die Haut untersucht – ganz egal, wegen welcher Beschwerden die Patienten die Klinik aufsuchen.


Abb. 4 Krafttest des M. abductor pollicis longus: Die Physiotherapeuten müssen für den Leprabefund die Muskelfunktionstests für jeden noch so kleinen Muskel an Händen, Füßen und im Gesicht parat haben.


Abb. 5 Neu und strahlend weiß: So sieht der Gips von Akash nicht mehr aus, wenn er in sechs Wochen zur Nachbehandlung kommen wird. Denn mit dem eingearbeiteten Metallstück ist das Laufen kein Problem, sodass auch die Feldarbeit weitergehen kann. (Fotos 1-5: D. Ulmer)


Abb. 6 Selbsthilfe: Nach einer Operation ist eigenhändiges Mobilisieren angesagt.
Foto: D. Ulmer