physiopraxis 2011; 9(4): 21-22
DOI: 10.1055/s-0031-1277693
physiowissenschaft

Wissenschaft nachgefragt: Wie sehen sich Therapeuten in Deutschland? – „Ich würde es wieder tun!”

Johanna Radenbach, Simone Gritsch
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Publication Date:
21 April 2011 (online)

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Er ist in vollem Gange: der Wandel der Ergo- und Physiotherapie. Themen wie Akademisierung, neue Berufsfelder und der Direktzugang schütteln die Berufsgruppen kräftig durcheinander. Sie müssen sich neu sortieren. Höchste Zeit, einmal genau hinzuschauen, wie sich die Therapeuten im Moment selbst sehen.

Sechs Physio- und zwei Ergotherapeuten fanden sich 2007 auf die Initiative des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zusammen und bildeten die Arbeitsgruppe „Physio- und Ergotherapeuten im Beruf”. Die Therapeuten waren tätig in Klinik, Praxis und Wissenschaft. Gemeinsam wollten sie dem Wandel ihrer Professionen auf den Grund gehen und herausfinden, was ihre Kollegen aktuell bewegt und wie sie sich selbst wahrnehmen. Beim Erstellen des Fragebogens standen ihnen Psychologen und Soziologen des Instituts beratend zur Seite, der Georg Thieme Verlag übernahm den Druck. 2008 lag der Fragebogen dann Fachzeitschriften wie physiopraxis und ergopraxis bei und wurde auf Kongressen sowie Fortbildungszentren an Physio- und Ergotherapeuten verteilt.

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Akademiker sind doch keine Theoretiker

Die Resonanz war enorm: 1.273 Ergotherapeuten und 2.233 Physiotherapeuten beteiligten sich an der Umfrage! Sie beantworteten Fragen zu ihrer aktuellen beruflichen Tätigkeit, zu ihrem Alltag als Therapeuten, zur Kooperation mit anderen Berufsgruppen, zur Zufriedenheit im Beruf, zur Zukunft ihrer Profession sowie zu Veränderungswünschen für die eigene Arbeit. Auf diese Weise identifizierte die Arbeitsgruppe die wichtigsten Spezialgebiete der Therapeuten. Bei Physiotherapeuten stehen Orthopädie/Chirurgie und Neurologie an oberster Stelle, bei Ergotherapeuten Pädiatrie und Neurologie.

Über einen akademischen Abschluss verfügen 14,2 Prozent aller Befragten. Ergotherapeuten sind etwas häufiger akademisiert als Physiotherapeuten. Der Anteil von Akademikern in der Patientenversorgung ist zwar niedriger als der von Nichtakademikern, zeigt aber, dass ein Studium nicht zwangsläufig von Patienten wegführt. Auffällig ist jedoch, dass Therapeuten mit Studienabschluss häufiger unterrichten als ihre nicht akademisierten Kollegen.

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Die meisten würden es wieder tun

Gut zwei Drittel aller Teilnehmer würden ihren Beruf jederzeit wieder ergreifen, vor allem selbstständige Therapeuten. Dennoch fühlt sich etwa die Hälfte häufig unter Stress, unabhängig davon, ob sie in der Klinik oder in der Praxis, angestellt oder selbstständig sind. Ergotherapeuten fühlen sich etwas gestresster als Physiotherapeuten, ebenso Männer im Vergleich zu ihren weiblichen Kolleginnen.

Fakten, Fakten, Fakten

Physio- und Ergotherapeuten in Deutschland

  • Akademisierte Therapeuten gehen häufiger einer Lehrtätigkeit nach.

  • Ergotherapeuten sind etwas häufiger akademisiert als Physiotherapeuten.

  • Zwei Drittel der Physio- und Ergotherapeuten würden ihren Beruf wieder ergreifen.

  • Die Hälfte aller Physio- und Ergotherapeuten fühlt sich in ihrem Beruf häufig unter Stress, vor allem die männlichen.

  • Die meisten Physiotherapeuten arbeiten in der Orthopädie/Chirurgie und Neurologie, die meisten Ergotherapeuten in der Pädiatrie und Neurologie.

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Jetzt sind Berufsverbände und Politiker dran

Die Arbeitsgruppe „Physio- und Ergotherapeuten im Beruf” hat ihr Ziel erreicht: eine deutschlandweite Standortbestimmung für die beiden größten Gruppen der therapeutischen Gesundheitsfachberufe. Im nächsten Schritt gilt es, die Öffentlichkeit über die Ergebnisse zu informieren. Nur so können auch Berufsverbände und Politik die Situation der therapeutischen Gesundheitsberufe stärker wahrnehmen. Die Daten bilden eine solide Basis, von der aus sie nun Problembereiche identifizieren und weitere Ziele formulieren können. Das heißt nicht, dass ein Ende des Wandels und damit eine neue Ära in Sicht sind. Aber ein Anfang für die weiteren Schritte ist getan.

Die Gesprächspartner: Dr. med. Anne Barzel (Ärztin für Allgemeinmedizin, Physiotherapeutin), Prof. Dr. Hendrik van den Bussche (Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin, Uniklinik Hamburg-Eppendorf), Gesche Ketels (Physiotherapeutin) und Bärbel Wagner (Ergotherapeutin Bc OT (NL))

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Die Macher der Studie im Interview

Ihre Studie bildet erstmals das Meinungsbild von Physio- und Ergotherapeuten zu ihrer beruflichen Situation ab. Welches Ziel haben Sie damit verfolgt?

Anne Barzel: Ursprünglich haben wir uns mit der Versorgungssituation von Schlaganfallpatienten auseinandergesetzt. Hier hatten wir den Eindruck, dass Physio- und Ergotherapeuten auch noch ganz andere Dinge tun als „nur” zu therapieren. Sie übernehmen zum Beispiel auch Aufgaben aus dem Case Management. Das führte uns zu dem Schluss, dass man viel zu wenig über die beiden Berufsgruppen weiß und nirgendwo das Selbstverständnis dieser therapeutischen Berufe nachlesen kann.

Hendrik van den Bussche: Außerdem fanden wir heraus, dass Physio- und Ergotherapeuten mit den Hausärzten, mit denen sie zusammenarbeiten, deutlich unzufriedener waren als die Hausärzte umgekehrt mit den Therapeuten. Das war ein eklatanter Unterschied. Somit stellte sich die Frage nach dem Warum. Dabei stellten wir fest, dass wir über diese beiden klassischen Kooperationspartner relativ wenig wissen – weder, wie die Kooperation zwischen Hausärzten und Therapeuten läuft, noch wie die gegenseitige Wertschätzung ist.

Sie fanden unter anderem heraus, dass sich die meisten Therapeuten auf ein Fachgebiet spezialisieren und die Bezahlung ihrer Leistungen als ungerecht empfinden. Diese Tatsachen überraschen zunächst kaum. Was ist das Besondere an Ihren Ergebnissen?

Gesche Ketels: Das Besondere ist, dass wir beide Berufsgruppen mit denselben Fragen konfrontiert haben und nun vergleichen können. Außerdem konnten wir so ermitteln, ob die Meinungen deutschlandweit dieselben sind. Im ersten Moment dachten wir auch, dass die Ergebnisse das widerspiegeln, was wir erwartet hatten. Je genauer wir aber die Ergebnisse mit Unterstützung eines Mitarbeiters des Instituts für Medizinische Biometrie und Epidemiologie analysiert haben, desto interessanter wurden sie. So konnten wir genau zwischen den Meinungen von Männern, Frauen, Selbstständigen, Angestellten, Freiberuflern, in der Praxis oder in der Klinik Tätigen differenzieren.

Anne Barzel: Es ging uns um die Meinung von Ergo- und Physiotherapeuten zu gängigen Fragen. Das betone ich sehr. Denn: Wir haben den Eindruck, dass die Diskussion, beispielsweise um die Akademisierung der Berufe, vorrangig auf berufspolitischer Ebene läuft. Man kann aber nirgendwo nachlesen, ob das auch wirklich die Meinung derer ist, die den Beruf aktiv ausüben.

Bärbel Wagner: Durch die Gegenüberstellung von Physio- und Ergotherapeuten wurde deutlich, dass beispielsweise der Direktzugang in der Physiotherapie ein Thema ist, in der Ergotherapie deutlich weniger. Das könnte den Ergotherapeuten vielleicht die Augen öffnen. Dasselbe gilt für Selbstzahlerleistungen, die für Physiotherapeuten vielfach bereits selbstverständlich sind.

Internet

Für Interessierte

Weitere Infos zur Studie finden Sie unter www.uke.de/institute/allgemeinmedizin/index_48903.php.

Ein Artikel über die Studie ist bereits in physioscience erschienen. Sie finden ihn exklusiv in dieser Ausgabe im Inhaltsverzeichnis. Weitere Artikel sind noch in diesem Jahr geplant.

Wer einen Blick in den Original-Fragebogen werfen möchte,findet diesen hier unter den Zusatzinformationen am Ende des Textes.

Was passiert nun konkret mit Ihren Studienergebnissen? Wie können Physio- und Ergotherapeuten davon profitieren?

Anne Barzel: Publikationen sind für uns der erste Schritt, um die Ergebnisse weiterzugeben. Wir könnten uns aber auch vorstellen, auf einem Kongress, zum Beispiel der Fachverbände, einen Workshop abzuhalten und mit den Teilnehmern und anderen Berufsgruppen über die Ergebnisse zu sprechen. Hier könnte man gemeinsam überlegen, in welche Richtung man weiter untersuchen könnte. Möglich wäre auch eine Podiumsdiskussion zu ausgewählten Themen oder die Kontaktaufnahme mit den Berufsverbänden.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Ergo- und Physiotherapeuten?

Bärbel Wagner: Also ich finde interessant, dass wir jetzt zu Beginn der Akademisierung eine Grundlage haben, die wir zum Beispiel mit den Berufsangehörigen in zehn Jahren vergleichen können. Das wird spannend, weil wir dann vielleicht auch den Direktzugang haben. Dann können wir sehen, inwiefern das mit den heutigen Daten korreliert. Von daher sehe ich keine Ziele, sondern eine Möglichkeit. Wir haben die Grundlage geschaffen, um überhaupt etwas vergleichen zu können und nicht nur zu sagen: „Damals war alles ganz anders.”

Anne Barzel: Eine Möglichkeit oder Idee ist auch, dass wir aus diesem sehr breit angelegten Fragenbogen ein Thema extrahieren und dazu eine gezielte Untersuchung, Fragestellung oder ein Modell erarbeiten. An der Stelle sind wir zurzeit aber noch nicht.

Hendrik van den Bussche: Wir sind ja weder Vertreter von Berufsorganisationen noch das Sprachrohr von irgendjemandem, sondern ein Club von Menschen, die sich für Ergo- und Physiotherapeuten interessieren, aber auf einer sehr inoffiziellen Ebene. Insofern sind wir nicht diejenigen, und ich schon gar nicht, die sich anmaßen, irgendetwas für die Berufsgruppen zu sagen. Aber Sie wissen besser als ich Nicht-Physio- und -Ergotherapeut, dass man in der ambulanten Versorgung von einer richtig guten Kooperation und einer Arbeit auf Augenhöhe nicht so ganz sprechen kann. Die Ärzte haben immer noch das Gefühl, sie seien die wichtigste Berufsgruppe und alle anderen seien eigentlich Hilfskräfte in diesem Versorgungsprozess. Das ist im Ausland nicht immer so. In bestimmten Ländern kann man wirklich von Arbeit auf Augenhöhe sprechen, sowohl für die Physio- und Ergotherapie als auch für die Krankenpflege. Darum hat mich persönlich interessiert, wie die Angehörigen dieser beiden Berufsgruppen ihre professionelle Lage einschätzen und ob sie mit dieser „abhängigen Hilfstätigkeit” zufrieden sind oder ob sie selber höhere Ansprüche an ihre Berufstätigkeit formulieren und durchsetzen wollen. Und wir können jetzt sagen, dass sie in der Mehrzahl umsteigen wollen – von einer nicht akademischen Berufskonstruktion zu einer akademisch unterfütterten. Das halte ich für „professionshistorisch”.

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