Prof. Dr. Manfred Wildner
Das Schauspiel für die anwesenden Gäste muss eindrücklich gewesen sein: kaum hatte
Ludwig XIV., der „Sonnenkönig”, ein Glas Wein getrunken, sprudelte die Hälfte des
Getrunkenen zu seiner Nase wieder heraus. Grund war ein Defekt im Gaumen – eine unerwünschte
Komplikation der Maßnahme seines Leibarztes, ihm alle Zähne zu ziehen, zur größeren
Glorie Frankreichs und seiner Majestät. „Zum Zweck der Desinfektion habe ich seiner Majestät das Loch im Gaumen 14-mal mit
einem glühenden Eisenstab ausgebrannt”, notiert Dr. Daquin einen Monat später [1]. Waren doch nach unbestrittener Lehre der Sorbonne, der Dr. Daquin entstammte, die
Zähne die gefährlichsten Infektionsherde des menschlichen Körpers. Ob die vereinten
Bemühungen seiner Leibärzte Dr. Vallon, Dr. Faggon und Dr. Daquin seiner Gesundheit
mehr Schaden als Nutzen zugefügt haben, sei dahingestellt. „L’Etat, c’est moi!” (dt. „Der Staat bin ich!”) – dem absolutistischen Selbstverständnis des großen Monarchen
haben seine Leiden keinen Abbruch getan.
Ob dieses Modell der Leibärzte (gr. Archiatros, „Chefarzt”), welche rund um die Uhr
zur Verfügung stehen, tatsächlich ein Optimum an medizinischer Versorgung gewährleistet,
gar ein Optimum an Gesundheit? Das tödliche Ringen König Ludwig II. von Bayern mit
seinem Psychiater Dr. Gudden im Wasser des Starnberger Sees weist ebenfalls auf möglicherweise
gesundheitsschädigende (Leib-)Arzt-Patienten-Interaktionen. „Ich brauche keine Ärzte, die mir meine Laster verbieten, sondern solche, die sie mir
ermöglichen!”, soll ein römischer Kaiser gesagt haben. Dieses Diktum ist wiederum erhellend für
eine Medizin, welche sich von der therapeutischen Notwendigkeit entfernt und sich
zunehmend zu einer wunscherfüllenden Medizin wandelt.
Im Licht des Sozialgesetzbuches (SGB) verbietet sich derartiges Agieren, zumindest
auf Kosten der Solidargemeinschaft. § 70 SGB V bestimmt: „Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben eine bedarfsgerechte und gleichmäßige,
dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung
der Versicherten zu gewährleisten. Die Versorgung der Versicherten muss ausreichend
und zweckmäßig sein, darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muss in
der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden”. Die in den geschilderten historischen Fällen anzuwendenden Urteile wären Über-
und Fehlversorgung, mangelnde Evidenzbasis und fehlende Wirtschaftlichkeit. In wieweit
zusätzlich vermeidbare (Kunst-)Fehler zu thematisieren wären, ist eine weitere Frage.
Eine mögliche Schlussfolgerung: Mehr ist nicht unbedingt besser, auch nicht bei der
ärztlichen Versorgung.
Doch auch ein zu wenig an ärztlicher oder psychotherapeutischer Versorgung schadet
mit großer Sicherheit der Gesundheit. Richtig ist, dass sich der Erhalt der Gesundheit
und die Heilung bzw. Linderung von Krankheit komplementär, nicht identisch zu einander verhalten. Mehr als die Hälfte der in den letzten hundert Jahren sich
verdoppelnden Lebenserwartung ist überwiegend auf Public Health/Hygiene-Maßnahmen u. a. Entwicklungen zurückzuführen,
nicht auf individualmedizinische Leistungen. Demgegenüber ist der Großteil der verbesserten
Überlebenschancen und Lebensqualität bei Krankheit und Verletzungen von der kurativen und rehabilitativen medizinischen Versorgung bewirkt.
Der Bedarf an haus- und fachärztlichen Leistungen wird aufgrund demografischer Entwicklungen
in Deutschland hoch bleiben und aufgrund einer Zunahme des Machbaren wie des Gewünschten
wohl weiter steigen. Etwa 430 000 Ärztinnen und Ärzte waren im Jahre 2009 bei den
Landesärztekammern gemeldet, was einer jährlichen Steigerungsrate von knapp 2% entspricht.
Nur jeder dritte Arzt war berufstätig (ca. 325 000), zunehmend auch in Teilzeit, bei
steigenden Ärztinnenzahlen: Ärztinnen haben einen Anteil von knapp 44% an der Gesamtzahl
und knapp 60% bei den Erstmeldungen bei den Ärztekammern. Dieser „Feminisierungstrend”
ist bei den Studienanfängern weiter steigend.
Von den verschiedenen Verbänden und Körperschaften wird auf stagnierende bzw. in Relation
sinkende Hausärztezahlen bei gleichzeitig steigenden Fachärztezahlen verwiesen – ein
europaweiter Trend. Das Saldo an verfügbaren Ärzten ist im ambulanten Sektor jedenfalls
positiv. Und auch im stationären Sektor finden sich steigende Arztzahlen – Folge einer
Leistungsverdichtung, welche in Deutschland zu höheren Zahlen an Krankenhaus-Behandlungsfällen
trotz sinkender Bettenzahlen und Liegezeiten geführt hat. Dass bei steigenden Arztzahlen
insgesamt und vielfach geschlossenen kassenärztlichen Versorgungsgebieten das Durchschnittsalter
in den Teilkompartimenten Krankhaus („ich kann mich (noch) nicht niederlassen”) und
in der Konsequenz auch in der ambulanten Versorgung steigt, ist zunächst ein nüchtern
erwerbsbiografisch erklärbares Phänomen. In einem System kommunizierender Röhren dürfte
sich ein freiwerdender Kassenarztsitz rasch wieder besetzen lassen – wenn er denn
attraktiv ist. Auf unbesetzte Kassenarztsitze insbesondere in ländlichen Regionen
wird von den Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern immer wieder mahnend
hingewiesen. Von den Ersatzkassen wird demgegenüber darauf verwiesen, dass 800 fehlenden
Ärzten in wenigen Regionen etwa 25 000 überzählige Ärzte in überversorgten Regionen
gegenüberstehen [2]. Hier ist eine differenzierte Diskussion angezeigt, wie sie auch z. B. von der Weltgesundheitsorganisation
unterstützt wird [3].
Lässt sich daraus die Notwendigkeit steigender Ausbildungskapazitäten in der Humanmedizin
ableiten, gar ein absehbarer Ärztemangel? Der Medizinische Fakultätentag (MFT) äußert
sich hierzu dezidiert ablehnend. Eine vom MFT veranlasste Sonderauswertung des Statistischen
Bundesamtes zu Absolventenzahlen belegt deutliche Ausbildungssteigerungen der Medizinischen
Fakultäten und Höchstzahlen beim medizinischen Nachwuchs, der auch überwiegend (94%)
klinisch tätig werden will [4]. Die Quote von 90% erfolgreichen Studienabschlüssen ist eine Bestnote verglichen
mit dem bundesweiten Durchschnittswert von 72,5% bei allen Studiengängen. Ein vom
Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten (Ramboll-Gutachten) stellt
fest, dass unter den Wechslern in verschiedene Führungs- und Managementfunktionen
im Gesundheitswesen und andere Public Health-Bereiche über die Hälfte die klinische
Tätigkeit erst nach der fachärztlichen Weiterbildung aufgeben [5]. Studien, die sich mit den genannten Daten nicht decken, sollten wegen wahrscheinlicher
methodischer Mängel mit Zurückhaltung aufgenommen werden [4].
Wiederum statistisch liegt die Ärztedichte in Deutschland im Schnitt der entwickelten
Industrienationen sehr hoch – mit 3,3 Ärzten /100 000 Bevölkerung deutlich höher als
beispielsweise in Japan (2 Ärzte/100 000 Bevölkerung) mit seiner weltweit führenden
Lebenserwartung. Umgekehrt lässt sich die hohe Ärztedichte in Griechenland (4,3 Ärzte/100 000
Bevölkerung) nicht mit einer hervorragenden Platzierung bei der medizinischen Versorgung
korrelieren. Was ist die „richtige” Ärztedichte und gibt es diese überhaupt? Bei einer
ökonomischen Betrachtung ist von einer großen Elastizität der Nachfrage nach ärztlichen
Leistungen über einen Grundbedarf hinaus auszugehen, also einer grundsätzlich nach
oben offenen Nachfrage, welche stark vom Preis bestimmt wird. Legen diese länderspezifischen
Durchschnittswerte nicht starke kulturelle und systembedingte Einflüsse auf den Bedarf
bzw. auf Angebot und Nachfrage nahe? „L’Etat, c’est nous!” (dt. „Der Staat sind wir!”), ist das große Freiheitsversprechen unserer demokratischen
Grundordnung einschließlich der Freiheit festzulegen, wie viele Ärzte/innen oder Psychotherapeuten/innen
wir wollen.
Darf sich die Diskussion dabei an Absolutzahlen und Durchschnittswerten erschöpfen?
„Am Durchschnitt ist die Kuh ersoffen”, sagt ein statistisches Bonmot, welches darauf hinweisen will, das beruhigende Durchschnittswerte
nichts über die mögliche Unbill extremerer Ausprägungen sagen. So wie eben plötzliche
tiefe Stellen eines im Durchschnitt flachen Dorfteichs möglich und dann auch verhängnisvoll
sind. Worauf uns dieses Bonmot hinweisen will, ist ein Verteilungsproblem („Fehlallokation”) der kostbaren Ressource Arzt/Ärztin und anderer Gesundheitsberufe.
Die Anreize auf die Verteilung werden zum Teil monetär gesetzt. Eine Studierendenbefragung
der Universität Trier macht darüber hinaus deutlich, dass auch Standortfaktoren großen
Einfluss auf die Berufsentscheidungen haben: Orte mit weniger als 5 000 Einwohnern
werden gemieden, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat mit 96% bei den Einflussfaktoren
den höchsten Stellenwert [6].
Damit sind die mit den Steuerungsaufgaben betrauten Institutionen gefragt. Vorhandene
Personalressourcen – in den überversorgten Gebieten und bei den nicht berufstätigen
Ärzten/Ärztinnen – lassen sich durch geeignete Anreize vermutlich in größerem Maßstab
zurückgewinnen und im Interesse der Bevölkerungsgesundheit steuern. Denkbare Maßnahmen
sind flexible Praxismodelle mit Angestelltenverhältnissen, Teilzeitanstellungen, Kinderbetreuungen
für Arbeitnehmer/innen an Krankenhäusern, Studienplatzquoten für Niederlassungen in
ländlichen Bereichen, Vergütungsangleichungen vor- und „nachklinischer” (Management-)
Bereiche mit dem klinischen Bereich, familiengerechte Dienstzeiten und Organisationsformen,
finanzielle Anreize durch Bereitstellung von Praxis- und Wohnräumen, die Freisetzung
ärztlicher Kapazität durch die Verringerung der „Bürokratiekosten” und durch neue
Gesundheitsberufe wie Gemeindeschwester/-pfleger, Stationssekretären/innen und Operationsassistenten/innen,
E-Health-Unterstützung im ländlichen Raum, Anreize für eine zum Patienten gehende
(„ambulante”) und sprechende Medizin. Die Frage lautet nicht nur, wie viele Ärzte
das Land braucht, sondern auch wo und mit welchen Qualifikationen. Die Ärzteschaft
sollte hierzu Antworten mit der gebotenen (Public Health-)Expertise als Beitrag zur
Steuerung von Prozessen in komplexen Systemen geben können.
Solchen Steuerungsfunktionen und anderen Gesundheitsfragen gehen die Beiträge in diesem
Heft nach: sozialer Ungleichheit und der Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung, regionalen
Unterschieden der Lebenserwartung und vermeidbarer Sterbefälle, der tabakattributablen
Mortalität, Gesundheitswirkungen der Prävention und Auswirkungen des Stalkings.
Dass auch Leibärzte solchen Systemfragen offen gegenüber stehen können, belegt Francois
Quesnai (1694–1774). Zunächst als Wundarzt chirurgisch ausgebildet, richtete er eine
Streitschrift gegen die Ansicht des damaligen Leibarztes des Königs Ludwig XV., Krankheiten
freizügig mit Aderlässen zu behandeln. Seine weitere Karriere führte ihn, nach erfolgreicher
Behandlung der Windpocken des Thronfolgers und mit Unterstützung durch Madame Pompadour
schließlich selbst zur Anstellung als königlicher Leibarzt. In dieser Position überwand
er die berufliche Abgrenzung der schneidenden und nicht-operativ tätigen Ärzte. In
höherem Alter entwickelte Quesnay Interesse an Fragen der Volkswirtschaft. 1758 entwickelte
er ein Modell des wirtschaftlichen (Geld-)Kreislaufes, vermutlich orientiert an seinen
Kenntnissen über den Blutkreislauf. Wesentlicher Fortschritt war die Erkenntnis, dass
Ausgaben nicht nur verbrauchte Ressourcen sind, sondern an anderer Stelle als Einnahmen
erscheinen und damit eine Interdependenz der Wirtschaftsprozesse bedingen. (Auch)
solche Ärzte braucht das Land.