Psychiatrie und Psychotherapie up2date 2011; 5(5): 249
DOI: 10.1055/s-0031-1276923
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Persönliche Lebenserfahrungen als Motor für neue Therapien

Zur Lebensgeschichte von Marsha Linehan
Further Information

Publication History

Publication Date:
30 August 2011 (online)

Viele hatten es bereits seit Langem vermutet, ein öffentlicher Vortrag im Juni 2011 brachte Gewissheit: Die Gründerin der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) für Borderline-Störungen, Marsha Linehan, litt wohl selbst in ihrer Jugend an der Störung, für die sie das heute weltweit anerkannte Therapieverfahren geschaffen hat.

Welches Ausmaß ihre eigene Störung und welche Dramatik die Hilflosigkeit der Therapiekonzepte vor 40 Jahren hatten, ist trotzdem überraschend und erschütternd zugleich, wie in der New York Times vom 23. Juni 2011 zu lesen war (http://www.nytimes.com/2011/06/23/health/23lives.html?pagewanted=linehan&st=cse&scp=1). Frau Linehan kam im Alter von 17 Jahren auf Empfehlung eines Psychiaters in eine psychiatrische Klinik, wo sie mehr als 2 Jahre stationär blieb, lange Zeit zu den am schwersten Erkrankten zählte und die einzige Patientin im Isolierraum der Klinik war. Das Behandlungsteam wusste sich anders nicht zu helfen, da sie sich immer wieder selbst verletzte, sich mit Zigaretten verbrannte und mit scharfen Gegenständen Schnitte zufügte. Sie erhielt die Diagnose „Schizophrenie”, wurde mit Neuroleptika und vielen andere Psychopharmaka sowie mit Psychoanalyse behandelt. Schließlich erhielt sie auch 30 Elektrokrampfbehandlungen, alles ohne nennenswerten Erfolg.

Frau Linehan sagt selbst, dass sie „in der Hölle” war und sich damals geschworen habe, anderen zu helfen, ebenfalls aus einer solchen Hölle zu entkommen, wenn sie selbst wieder herauskomme.

Ein Wendepunkt in ihrem Leben war – nach vielen weiteren schweren Krisen – ein Glaubenserlebnis in einer Kapelle, als sie sich erstmals selbst als etwas Liebenswertes akzeptieren konnte. „Radikale Akzeptanz”, ein Kerngedanke der heute weit verbreiteten achtsamkeitsbasierten Therapien, ist auch ein wichtiges Element der DBT geworden. Dies kann man noch mehr verstehen, wenn man die Lebensgeschichte von Frau Linehan kennenlernt.

Frau Linehan hat in beeindruckender und konsequenterweise Weise ihren Schwur verwirklicht, indem sie mithilfe dieser eigenen Erfahrungen eine neue Therapie für Borderline-Störungen entwickelt hat, die deutlich wirksamer war als bisherige Konzepte; letztere waren ja mehr Ausdruck von Hilflosigkeit als tatsächlich Therapie. Patienten, die mit DBT behandelt wurden, begingen weniger Suizidversuche, landeten seltener im Krankenhaus und hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit, überhaupt innerhalb eines Behandlungsprogramms zu bleiben.

Für mich beeindruckend an dieser Lebensgeschichte ist auch, dass nicht Theorien und Ideologien, sondern Erfahrungen den Weg für die Weiterentwicklung von Therapien gewiesen haben.

Psychische Erkrankungen sind auch heute ein Stigma und ein Risiko, ausgeschlossen zu werden. Dabei ist es nicht nur die Stigmatisierung durch die Gesellschaft, sondern oft die Selbststigmatisierung durch die Betroffenen, die sich schämen und das Gefühl haben, weniger wert zu sein.

Die Lebensgeschichte von Marsha Linehan kann zur Entstigmatisierung und Enttabuisierung psychischer Erkrankungen beitragen und vielen Menschen, die ihr Leiden verbergen, Hoffnung machen.

Für ihren Mut und ihr an die Öffentlichkeit treten sollten wir ihr dankbar sein.

Noch mehr sollten wir ihr danken, dass sie ihr persönliches Leiden genutzt hat, um etwas Wertvolles für andere aufzubauen.

Ulrich Voderholzer

    >