Eine qualifizierte Schmerztherapie ist kein Hexenwerk. Vielmehr bedarf es optimierter
Prozesse und Strukturen sowie Empfehlungen für die medikamentöse Therapie, um das
Schmerzmanagement im Klinikalltag zu verbessern. Implementierte Schmerzstandards bieten
hierfür ein hilfreiches Schema. Wie Ärzte, Pflegende, Patienten und sogar die gesamte
Klinik von ihnen profitieren, erläutert Dr. Matthias Richl, Schmerzexperte und Oberarzt
an der Klinik Mühldorf am Inn.
Dr. Matthias Richl
? Herr Dr. Richl, wo liegen die größten Herausforderungen, um eine adäquate schmerztherapeutische
Versorgung sicherzustellen?
Dr. Matthias Richl: Zuerst muss das Bewusstsein für den Schmerz geschaffen werden. Zudem entscheidet
nicht der Arzt oder die Pflegekraft, sondern der Patient, wie stark die Schmerzen
sind. Unsere Aufgabe ist es, diesen Schmerz adäquat zu behandeln und so die Lebensqualität
des Patienten zu verbessern. Hierbei differenziert der Arzt auch nach der Schmerzart,
also beispielsweise Akut-, Tumor-, Bewegungs- oder neuropathischer Schmerz. Diese
Vorgehensweise sollte standardisiert werden. Die Implementierung von Schmerzstandards
kostet zwar etwas Zeit und Mühe, lohnt sich aber.
? Welche Schmerzstandards haben Sie in Ihrer Klinik eingeführt und für welche Berufsgruppen
gelten sie?
Richl: Der erste Standard, den ich erstellt und implementiert habe, fordert, dass jeder
Arzt Schmerztherapie betreiben muss. Weitere Schmerzstandards gelten für verschiedene
Schmerzarten. Wichtiger ist jedoch die Unterscheidung nach der Schmerzintensität.
Wir haben Standards für schwache, mittelstarke und sehr starke Schmerzen entwickelt.
Welchen Standard wir anwenden, entscheiden wir nach der Schmerzintensität, die der
Patient uns mit der numerischen Ratingskala mitteilt. Die Standards sind nie in Stein
gemeißelt, sondern müssen regelmäßig geprüft und überarbeitet werden. Nichtsdestotrotz
sind sie für unsere Ärzte, Anästhesisten, Pflegekräfte und Pain Nurses verbindliche
Handlungsanweisungen.
? Wie profitieren Ihre und auch andere Kliniken von der Etablierung solcher Schmerzstandards?
Richl: Sie vereinfachen den Alltag auf einer Station, schaffen Transparenz und steigern
das Wohlergehen der Patienten. Zudem bieten sie Sicherheit für Ärzte und Pflegende.
Durch engmaschige Schmerzkontrollen erfahren alle Beteiligten frühzeitig, ob die angewandte
Schmerztherapie hilft. Optimierte Abläufe und Zuständigkeiten ermöglichen mehr Effizienz.
Das Pflegepersonal misst und dokumentiert die Schmerzstärke und führt innerhalb vorgegebener
Interventionsgrenzen selbstständig die analgetische Therapie durch. Zwar bedeutet
diese Kompetenzerweiterung mehr Fortbildungsbedarf, aber sie entlastet Arzt und Pflegende.
Denn ein gut versorgter Patient ist schneller mobil und kann meist rascher entlassen
werden kann. Das Ergebnis: Der Patient ist zufrieden, das Krankenhaus bekommt positive
Mund-zu-Mund-Propaganda und die Kostenträger profitieren.
? Weshalb hat das Messen und Dokumentieren von Schmerzen einen so hohen Stellenwert
innerhalb der Schmerzstandards?
Richl: Zusammen mit der Anamnese und Schmerzdiagnose ist es grundlegend für eine frühzeitige,
adäquate analgetische Behandlung. In den Schmerzstandards ist eine standardisierte
Dokumentation vorgeschrieben, die in der Patientenkurve erfolgen soll. Besonderheiten,
zum Beispiel beim Umbetten oder bei Belastung, sind hier vermerkt. Für das regelmäßige
Messen und Dokumentieren der Schmerzen sind die Pflegenden zuständig, da sie den Patienten
mehrmals täglich sehen.
? Ein wesentlicher Bestandteil der Schmerztherapie ist die medikamentöse Behandlung.
Auch hier bieten Schmerzstandards eine wichtige Hilfe. Was sind die Kernpunkte, nach
denen Sie die medikamentöse Therapie ausrichten?
Richl: Neben der Schmerzintensität bietet das Stufenschema der WHO eine Orientierung. Jedoch
geht man dazu über, nach Nicht-Opioiden direkt starke Opioide einzusetzen. Für Durchbruchschmerzen
gibt es spezielle Handlungsanweisungen, wann wie viel von welcher Bedarfsmedikation
angewendet werden soll. Sinnvoll ist, ein retardiertes und ein schnell wirksames Opioid
mit dem gleichen Wirkstoff zu wählen. In unseren Standards stehen im Durchschnitt
3 verschiedene Präparate für die Dauer- und Bedarfsmedikation. Unsere Ärzte dürfen
auch andere Präparate verwenden. Aber die empfohlenen Präparate - wie zum Beispiel
Targin® als Basismedikation und Oxygesic® akut bei Durchbruchschmerzen - haben sich
in unserem Klinikalltag bewährt. Erfolgskriterien sind eine wirksame Schmerzlinderung
sowie eine sehr gute Verträglichkeit. So erhält zum Beispiel Targin® als Fixkombination
aus retardiertem Oxycodon und retardiertem Naloxon die normale Darmfunktion und verursacht
im Durchschnitt weniger Übelkeit. Natürlich ist auch die Komedikation in unseren Schmerzstandards
aufgeführt, was vor allem für chronische Schmerzpatienten wichtig ist.
? Herr Dr. Richl, was wünschen Sie sich für die zukünftige schmerztherapeutische Versorgung
in Krankenhäusern?
Richl: Mein größter Wunsch ist, dass alle Ärzte und Pflegenden das Symptom Schmerz sehr
Ernst nehmen und den Patienten dazu ermutigen, den Schmerz mitzuteilen statt ihn auszuhalten.
Eine flächendeckende Anwendung von Standards in der Schmerztherapie, die genauso selbstverständlich
ist wie das Operieren nach Standards, muss angestrebt werden.
! Herr Dr. Richl, wir danken Ihnen für das Gespräch.