ergopraxis 2011; 4(3): 16-18
DOI: 10.1055/s-0031-1274916
ergotherapie

Körpernahes Tragen von Säuglingen – Gut für Mutter und Kind

Alexandra Sinai
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Publication Date:
04 March 2011 (online)

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Diesen verunsichernden Rat hat sicher jede Mutter, die ihr Baby gerne trägt, schon mal gehört: „Trag das Kleine doch nicht ständig, du verwöhnst es noch.” Viele Argumente sprechen jedoch für dieses instinktive Verhalten. Denn Tragen wirkt sich positiv auf die Wahrnehmung, die Bewegungsentwicklung, die Vitalparameter, das Bindungs- und das Schreiverhalten eines Kindes aus.

Das Leben eines Kindes beginnt im schützenden Mutterleib. Reize wie Helligkeit und Geräusche dringen nur gedämpft an es heran. Die beruhigenden Rhythmen und Geräusche der Mutter nimmt es in diesem Raum hingegen genau wahr – ihren Herzschlag, ihre Atmung, ihre Stimme, die Bauchgeräusche, Bewegungen und Aktivitätszustände. Gegen Ende der Schwangerschaft, wenn der Platz im Uterus immer weniger wird, bekommt das Ungeborene zudem viele taktile Reize durch seine natürliche Begrenzung.

Die Geburt ändert alles schlagartig. Der Säugling wird in eine ihm unbekannte Welt katapultiert. Die schützende Umgebung fehlt, stattdessen muss er unzählige neue Erfahrungen machen. Seine Mutter erkennt ein Neugeborenes hauptsächlich an ihrer Stimme und ihrem Geruch [1]. Anfangs kann es circa 22 cm weit sehen, was in etwa seinem Abstand zum Gesicht der Mutter beim Stillen entspricht. Diese Sinneswahrnehmungen sind für das Neugeborene sehr wichtig. Trägt die Mutter es oft nah am Körper, kann es ihre Haut und Körperrhythmen spüren, kann sie hören, sehen und mit ihr Kontakt aufnehmen. Dies gibt dem Säugling Sicherheit und Geborgenheit und erleichtert ihm die „spannende” erste Zeit.

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Tragen aktiviert Säuglinge

In einer Tragehilfe nah am Körper einer engen Bezugsperson kann ein Säugling sensomotorische Erfahrungen sammeln, die außerhalb seiner eigenen motorischen Möglichkeiten liegen. Die Bewegungen des Tragenden fördern sein Lage-, Haltungs- und Bewegungsgefühl und seine Aktivität [1, 3]. Jeder, der schon mal ein Baby getragen hat, konnte sicher dabei bemerken, dass auf die eigenen Bewegungen immer eine Aktion des Kindes folgte. Es muss seinen Rumpf stabilisieren und den Kopf halten. Trägt eine Mutter ihr Kind zum Beispiel auf ihrem Rücken und beugt sich selbst nach vorne, so gleicht dies der Bauchlage des Kindes, in der es Stützimpulse für die Arme umsetzen kann. Damit das Kind die propriozeptiven Erfahrungen auf andere Situationen übertragen kann, sollten die Eltern ihm Zeit zum freien Bewegen lassen, beispielsweise auf dem Boden in Rücken- oder Bauchlage [3].

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Tragen die Hüftgelenkreifung bei Babys positiv beeinflusst. Die Bewegungen des Tragenden erzeugen beim Kind Rumpfrotationen in unterschiedlicher Ausprägung, die in andere Gelenke weiterlaufen. Bei den Hüftgelenken ist das am stärksten der Fall, wenn das Kind auf einer Beckenhälfte des Tragenden sitzt („Tragehilfen”). In dieser Spreiz-Anhock-Haltung werden die knorpeligen Anteile der Hüftgelenke durch die wechselnden Druckverhältnisse besser durchblutet [1]. Der Orthopäde Johannes Büschelberger ermittelte als günstigste Position für die kindliche Hüftgelenkentwicklung 40 ° Abduktion und 100 ° Flexion. Beim Tragen befinden sich die Hüftgelenke in 36–58 ° Abduktion und 90–120 ° Flexion. Die durch die Tragebewegungen entstehenden Kontraktionen der Gesäßmuskulatur in Hüftgelenkflexion zentrieren den Femurkopf in der Hüftgelenkpfanne. Die resultierende Druckverteilung in beiden Gelenkpartnern fördert deren jeweilige Verknöcherung [1].

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Nicht schädlich für die Wirbelsäule

Dass sich Tragen auf die Wirbelsäule des Kindes negativ auswirkt, konnte Dr. Evelin Kirkilionis in Studien widerlegen. Die Verhaltensbiologin, Buchautorin und Mitbegründerin der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM) stellte fest, dass Wirbelsäulenauffälligkeiten bei Kindern, die mehr als vier Stunden pro Tag aufrecht in einer Tragehilfe getragen wurden, nicht häufiger auftreten als bei solchen, die nicht getragen wurden [9, 10].

Auch aus physiologischer Sicht bringt körpernahes Tragen Vorteile für den Säugling mit sich. Die Wahrnehmung von Bewegung optimiert seine Atmung, Herztätigkeit und seinen Muskeltonus [1]. Der Herzschlag und die körperliche Wärme des Tragenden wirken sich zusätzlich beruhigend aus. Dies lässt sich damit erklären, dass das Kind Gleiches bereits intrauterin gespürt hat [3].

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Dem Baby Geborgenheit schenken

Damit das Kind die Vorteile des Tragens genießen kann, müssen die Eltern die Tragehilfe korrekt anwenden und ihrem Kind den richtigen Halt geben. Im Übrigen ist eine stabile Position die Voraussetzung dafür, dass das Baby seine Umwelt aufmerksam beobachten und Kontakt mit ihr aufnehmen kann. Liegt es stattdessen auf dem Rücken, benötigt es zumindest anfangs noch seine Konzentration, um seine Lage zu stabilisieren, und die Wahrnehmung der Umwelt tritt in den Hintergrund.

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Der Körperkontakt und die Bewegungsreize beim Tragen geben dem Kind das Gefühl, dass dort eine Bezugsperson ist, die sich um es kümmert und es vor allzu vielen und eventuell sogar bedrohlich erscheinenden Reizen schützt. Die Erfahrungen, die ein Baby hingegen in einem Kinderwagen macht, unterscheiden sich stark von denen, wenn eine Person es trägt. Die Hemmschwelle Fremder, in einen Kinderwagen zu greifen, ist eindeutig niedriger als bei einer Tragehilfe. Rasch nähern sich dem Kind dann Hände und Gesichter, ohne dass es ausweichen kann. Wie das aussieht, zeigt zum Beispiel anschaulich das YouTube-Video „Barnets perspektiv!” im Internet.

»Jede Mutter lernt schnell, dass Geschaukelt- oder Getragenwerden ihrem Kind Behagen bereitet und es gewöhnlich auch beruhigt.«, Anne Jean Ayres

Die Entwicklungspsychologin, Ergotherapeutin und Gründerin der Sensorischen Integration Anne Jean Ayres (1920–1989) machte Eltern stets Mut, ihrem Gefühl und Instinkt zu vertrauen. Sie war davon überzeugt, dass Tragen für Kinder angenehm ist und glücklich machende Empfindungen wie diese die Wahrnehmungsintegration fördern [2], sie also Reize aus der Umwelt leichter einordnen, verarbeiten und miteinander verknüpfen können.

Beim Tragen spürt das Kind die Liebe und den Schutz der Eltern. Diese Transportmöglichkeit kann dadurch das Bindungsverhalten zwischen Eltern und Kind positiv beeinflussen. Dr. Evelin Kirkilionis geht zudem davon aus, dass Eltern von getragenen Kindern häufig feinfühliger auf diese reagieren [1]. Auch Dr. Rüdiger Kißgen, Professor für Heilpädagogik an der Universität Köln, berichtete auf der Bobath-Tagung 2008 von der Wichtigkeit einer sicheren Eltern-Kind-Bindung, die durch die Feinfühligkeit der Eltern mitbestimmt werde. Feinfühlig bedeutet nach seiner Auffassung, angemessen und prompt auf die Signale des Kindes einzugehen [4].

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Tragen verringert Schreiphasen

Die Zeit nach der Geburt bedeutet für „frischgebackene” Eltern eine große Umstellung. Vor allem in den ersten drei Monaten können sie in Stress geraten, da Babys in dieser Zeit oft einige Stunden am Tag weinen. Der sogenannte Schreihöhepunkt kommt in der Regel in der sechsten Lebenswoche. Danach entspannt sich die Situation gewöhnlich wieder.

Beruhigend für Eltern ist sicher die wissenschaftliche Erkenntnis, dass das Schreiverhalten eines Neugeborenen weniger mit der elterlichen Erziehung als mit seinem individuellen Charakter zusammenhängt. Das unspezifische Weinen in den ersten drei Lebensmonaten lässt sich nicht immer so einfach „abstellen”. Oft hören Mütter dann den Satz: „Lass es doch auch mal schreien, du musst nicht bei jedem Ton springen.” Dieser Rat erscheint jedoch fraglich, wenn man bedenkt, dass Kinder frühestens ab dem sechsten Lebensmonat in der Lage sind, ihr Schreien bewusst einzusetzen, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu wecken. Bis zu diesem Zeitpunkt teilen sie lediglich ihre körperlichen und emotionalen Bedürfnisse mit. Diese sollte man soweit möglich direkt zufriedenstellen [5]. Experten raten als wirksamste Interventionen gegen das unspezifische Schreien Tragen – und zwar bevor das Baby zu weinen beginnt –, bewusstes Beschäftigen während seiner Wachphasen sowie das Einhalten konstanter Tagesrhythmen. So zeigte eine Studie vom Schweizer Kinder- und Jugendmediziner Dr. Urs Hunziker, dass Mütter, die ihre Kinder ab der dritten Lebenswoche vermehrt trugen, den Schreihöhepunkt ganz vermeiden konnten [6, 7].

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Bauch an Bauch mobil

Einige Punkte sollten Eltern beim Tragen ihrer Kinder beachten. Grundsätzlich ist es sinnvoll, wenn sie die Tragehilfe gemeinsam mit ihrem Baby ausprobieren, um das richtige Modell zu wählen. Dieses sollte leicht an das rasche Wachstum des Kindes anzupassen sein. Entscheidend ist für alle Tragepositionen, dass die Eltern die Tragehilfe immer so anlegen, dass Kopf und Rumpf des Säuglings gut gestützt sind. Tragetücher sind sicher am besten an das Kind anpassbar. Eine diagonale Webart verhindert, dass der Stoff ausleiert [1]. Empfinden die Eltern das Anlegen und Knoten eines Tuchs aber als zu aufwendig, so ist eine alternative Tragehilfe sinnvoll („Tragehilfen”,).

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Die Rückentrageweise ermöglicht dem Kind viele Reize und Eindrücke. Da Blickkontakt nicht ohne weiteres möglich ist, erfordert sie allerdings eine gute Interaktion und Kommunikation zwischen Tragendem und Kind. Vor allem zu Beginn kann es schwierig sein, das Kind auf dem Rücken zu platzieren. Sinnvollerweise sollte man dies zunächst mit einer unterstützenden Person üben. Trägt die Mutter ihr Kind an ihrem Bauch mit Blick nach vorne, kann sich das Kind einer Reizüberflutung nicht entziehen [1]. Beugt die Mutter sich nach vorne, wird das Baby großem Stress ausgesetzt, da es nicht einschätzen kann, ob die Mutter die Bewegung rechtzeitig vor dem Boden abbremst. Neben einer unphysiologischen Hüftgelenkposition – Extension statt Flexion – kommt bei Jungen außerdem durch die Tuchbindung beziehungsweise den Gestellsteg eine ungünstige Druckbelastung auf die Hoden hinzu.

Tragen garantiert zwar nicht zwangsläufig eine gute Eltern-Kind-Bindung, kann deren Aufbau aber gut unterstützen.

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Tragen nicht erzwingen

Auch wenn Kinder davon profitieren, ist es nicht sinnvoll, das Tragen mit aller Macht durchzusetzen. Eltern und Kind sollten sich in der Situation wohlfühlen. Das Tragen soll kein Zwang, sondern eine eindeutige Erleichterung für den Alltag sein. Ist beispielsweise die Mutter nicht davon überzeugt, so wird ihr Kind dies – gerade bei dem engen Körperkontakt – spüren und sich ebenfalls unwohl fühlen.

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