Geburtshilfe Frauenheilkd 2011; 71(3): 212-213
DOI: 10.1055/s-0030-1270967
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Migrationshintergrund als Risikofaktor für eine Hyperemesis gravidarum

Leserbrief zum Artikel: Hyperemesis gravidarum. Boer et al. Geburtsh Frauenheilk 2011; 71: 26–37Migration as Risk Factor for a Hyperemesis GravidarumLetter Referring to: Hyperemesis gravidarum. Boer et al. Geburtsh Frauenheilk 2011; 71: 26–37M. David1
  • 1Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Klinik für Frauenheilkunde, Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. April 2011 (online)

Die unlängst publizierte Übersicht zur Hyperemesis gravidarum von Boer et al. (2011) widmet sich vor allem den verschiedenen Therapieansätzen dieser Erkrankung in der Frühschwangerschaft. Die Ausführungen zur Pathogenese kommen dagegen etwas kurz. Aktuell favorisiertes Erklärungsmodell für die Hyperemesis gravidarum ist sicher die sog. „Hormontheorie“ – die meisten Studien bestätigen einen Zusammenhang zwischen erhöhten β‐hCG-Werten und dem Auftreten des pathologischen Erbrechens in der Schwangerschaft [7]. Da letztlich eine Vielzahl von biologisch-somatischen Ansätzen, sie werden von Boer et al. jeweils kurz dargestellt, keine befriedigende Erklärung erbrachten bzw. der zugrunde liegende pathophysiologische Mechanismus der Hyperemesis gravidarum nicht eindeutig identifiziert werden konnte, findet das ursprünglich in der psychoanalytischen Theorie wurzelnde Psychogenese-Modell zahlreiche Unterstützer. Munch hat die bis 2002 publizierten, englischsprachigen Studien, welche psychische und psychosoziale Aspekte bei der Hyperemesis gravidarum untersucht haben, zusammengestellt und kritisch kommentiert [5]. Des Weiteren sei im Hinblick auf den Zusammenhang von psychosozialen Faktoren und verstärktem Erbrechen in der Schwangerschaft auf die Arbeit von Buckwalter und Simpson [1] verwiesen, die in der umfänglichen Literaturliste von Boer et al. leider fehlt.

Ebenfalls keine Erwähnung findet ein weiterer möglicher Ursachenfaktor in der multifaktoriellen Genese der Hyperemesis gravidarum: die Migration. Bereits seit Jahrzehnten sind mögliche negative psychische Folgen des Migrationsprozesses für die zugewanderten Patientinnen bekannt (z. B. Hertz 1988 [3], Golding und Burnam 1990 [2] u. v. a.). Zuwanderung ist ein Prozess mit adaptivem Charakter, bei dem in jeder Phase das Risiko einer Nichtbewältigung dieser adaptiven Herausforderungen besteht. Psychische und/oder körperliche Beeinträchtigungen können die Folge sein.

In den letzten 15 Jahren haben Arbeitsgruppen aus Skandinavien und Kanada, z. T. im Ergebnis großer epidemiologischer Studien, über einen möglichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Migrationserfahrung und Hyperemesis gravidarum berichtet ([Tab. 1]). Die Versorgungsrealität zumindest in Kliniken (west-)deutscher Großstädte und Ballungsräume dürfte dies bestätigen. Im Virchow-Klinikum als Standort der Charité in Berlin-Wedding wurden 4,5-mal mehr Migrantinnen als deutsche Patientinnen (n = 476 vs. 105) in einer nahezu 13-jährigen Beobachtungsphase wegen Hyperemesis gravidarum behandelt. Auch die Wiederaufnahmerate war bei den Patientinnen mit Migrationshintergrund höher (Publ. in Vorb.). Die 5 in der [Tab. 1] aufgeführten Arbeiten und die eigenen Daten legen die Vermutung nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen Migrationserfahrung resp. Belastungen im Aufnahmeland und dem Auftreten einer Hyperemesis-Symptomatik gibt. Demnach treten bei den Migrantinnen belastende Faktoren (Stressverarbeitungstheorie) während oder nach der Migration bzw. der Migrationsprozess selbst zusätzlich zu den auch von Boer et al. (2011) diskutierten Ursachen für eine Hyperemesis gravidarum auf.

Tab. 1 Publikationen zu einem möglichen Zusammenhang von Hyperemesis gravidarum und Migrationserfahrung der betroffenen Schwangeren. Autoren, Jahr der Veröffentlichung Untersuchungsdesign wesentliche Ergebnisse Vangen et al. 1999 6 1991: 71 norwegische Schwangere vs. 66 pakistanische Schwangere, die in Oslo leben pakistanische Migrantinnen hatten häufiger Hyperemesis gravidarum Vilming und Nesheim 2000 10 1993–1997: 175 wegen Hyperemesis gravidarum hospitalisierte Schwangere, Kontrolle 115 Frauen ohne Hyperemesis gravidarum als Risikofaktor für Hyperemesis gravidarum wurde u. a. identifiziert: nicht norwegische Ethnizität (hauptsächlich pakistanische und afrikanische Frauen) Jimenez und Marleau 2000 4 1992–1997: kanadische Provinz Quebec, 254 Patientinnen mit Hyperemesis gravidarum, Kontrollgruppe alle Schwangeren des Untersuchungszeitraums (n = 19 839) in Quebec geborene Schwangere wurden wegen Hyperemesis gravidarum in 7,9 %, außerhalb Quebecs, aber in Kanada geborene in 11,1 % und außerhalb Kanadas geborene Frauen in 16,7 % stationär aufgenommen Vikanes et al. 2008 8 50 904 Migrantinnen von verschiedenen Kontinenten, Auswertung Geburts- u. a. Statistiken Norwegens kein klarer Zusammenhang zwischen Hyperemesis gravidarum und Aufenthaltsdauer in Norwegen; Ausnahme: Frauen aus Nordafrika, Iran und Türkei (Neuankömmlinge weniger Hyperemesis gravidarum) Vikanes et al. 2008 9 1967– 2005, Norwegen, n = 900 074 Schwangerschaften von Erstgebärenden, Zusammenhang zwischen Geburtsland und Hyperemesis gravidarum Gesamt-Hyperemesis-gravidarum-Prävalenz 0,89 %, am niedrigsten bei Frauen, die in Westeuropa geboren wurden, deutlich höher bei Frauen aus Indien, Sri Lanka, Afrika (3,2–3,4 %); Erklärung nicht durch soziodemografische Faktoren

Hyperemesis gravidarum kann nach dem heutigen Stand des Wissens als klassisches Beispiel für das Zusammenspiel biologisch-körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren angesehen werden, wobei im multifaktoriellen Erklärungsmodell nach unserer Meinung der Schwerpunkt auf der psychosozialen Komponente liegt. Ein Migrationshintergrund der Patientin sollte als ein wichtiger Faktor für die Entwicklung einer Hyperemesis gravidarum beachtet werden.

Literatur

  • 1 Buckwalter J G, Simpson S W. Psychological factors in the etiology and treatment of severe nausea and vomiting in pregnancy.  Am J Obstet Gynecol. 2002;  186 S210-S214
  • 2 Golding J M, Burnam M A. Immigration, stress, and depressive symptoms in a Mexican-American community.  J Nerv Ment Dis. 1990;  178 161-171
  • 3 Hertz D G. Identity – lost and found: patterns of migration and psychological and psychosocial adjustment of migrants.  Acta Psychiatr Scand Suppl. 1988;  344 159-165
  • 4 Jimenez V, Marleau J D. Is hyperemesis gravidarum related to country of origin?.  Can Fam Physician. 2000;  46 1607-1608
  • 5 Munch S. Chicken or the egg? The biological-psychological controversy surrounding hyperemesis gravidarum.  Soc Sci Med. 2002;  55 1267-1278
  • 6 Vangen S, Stoltenberg C, Stray-Pedersen B. Complaints and complications in pregnancy: a study of ethnic norwegian and ethnic pakistani women in Oslo.  Ethnicity & Health. 1999;  4 19-28
  • 7 Verberg M F, Gillott D J, Al-Fradan N et al. Hyperemesis gravidarum, a literature review.  Hum Reprod Update. 2005;  11 527-539
  • 8 Vikanes A, Grjibovski A M, Vangen S et al. Variations in prevalence of hyperemesis gravidarum by country of birth: a study of 900,074 pregnancies in Norway, 1967–2005.  Scand J Public Health. 2008;  36 135-142
  • 9 Vikanes A, Grjibovski A M, Vangen S et al. Length of residence and risk of developing hyperemesis gravidarum among first generation immigrants to Norway.  Eur J Public Health. 2008;  18 460-465
  • 10 Vilming B, Nesheim B J. Hyperemesis gravidarum in a contemporary population in Oslo.  Acta Obstet Gynecol Scand. 2000;  79 640-643

Prof. Dr. med. Matthias David

Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
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