physiopraxis 2010; 8(11/12): 20-21
DOI: 10.1055/s-0030-1270085
physiowissenschaft

Wissenschaft kommentiert – Gonarthrose: Abduktorentraining lindert Schmerzen

Susanne Hannig, Robert Pfund
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Publication Date:
30 November 2010 (online)

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Patienten mit Gonarthrose haben beim Gehen oft einen vergrößerten Valguswinkel im Kniegelenk. Kraftübungen für die Hüftgelenkabduktoren verbessern zwar die Schmerzen, reduzieren die Fehlstellung aber nicht. Das könnte an den unspezifischen Übungen in dieser Studie liegen, meinen Susanne Hannig und Robert Pfund.

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Susanne Hannig ist Physiotherpeutin (OMT) und Pilates-Instruktorin aus Kempten. Sie arbeitet seit zehn Jahren mit dem GRAVITY-Trainingssystem und befindet sich gerade im Master studiengang „Muskuloskeletale Therapie” in Winterthur/Schweiz.

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Robert Pfund ist Physiotherapeut, Manualtherapeut (OMT) und Master of Applied Science in Physiotherapy. Er ist Mastertrainer „GRAVITY Post Rehab”, Fachlehrer für Manuelle Therapie und KGG und Mitinhaber einer Praxis in Kempten.

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Fragestellung

Welchen Effekt hat ein achtwöchiges Krafttraingsprogramm für die Hüftgelenkabduktoren auf die Kraft und die funktionelle Belastbarkeit des Kniegelenks sowie auf die Schmerzen von Patienten mit medialer Gonarthrose?

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Hintergrund

Eine übermäßige Belastung des Kniegelenks kann dazu führen, dass sich bereits bestehende Kniegelenkarthrosen verschlechtern. Einer dieser belastenden Faktoren ist der sogenannte Knie-Adduktions-Moment (KAddM), der die medial auf das Knie einwirkenden Kräfte bezeichnet. Studien zeigen, dass der KAddM bei Patienten mit medialer Gonarthrose größer ist als bei Gesunden. Sled und Kollegen vermuten, dass eine Kräftigung der Hüftgelenkabduktoren unter anderem diesen KAddM verringern und somit die schädlichen, auf das mediale Kompartment eintreffenden Kräfte reduzieren könnte.

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Einschlusskriterien

Patienten konnten teilnehmen, wenn sie älter als 40 Jahre waren, an den meisten Tagen eines Monats an Kniegelenkschmerzen litten sowie einen radiologischen oder arthroskopischen Nachweis einer Arthrose des medialen Kniegelenkkompartments hatten.

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Ausschlusskriterien

Ausgeschlossen wurden Patienten, die während der letzten drei Monate eine intraartikuläre Injektion mit Kortison erhalten hatten oder signifikante Komorbiditäten oder andere Erkrankungen aufwiesen, die durch die Einnahme von Medikamenten für das arthrotische Kniegelenk entstanden waren. Ebenfalls nicht teilnehmen konnten Menschen mit Koxarthrose, vorausgegangenen Traumata oder Totalendoprothesen der unteren Extremität sowie Betroffene, die bereits an anderen Rehabilitations- oder Kräftigungsprogrammen für die Hüftgelenkmuskulatur partizipierten.

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Studiendesign

Nonequivalent, pretestposttest control design. Dieses Design beinhaltet zwei nicht äquivalente Gruppen (in diesem Fall Patienten mit Gonarthrose und Gesunde), von welchen eine Gruppe eine Intervention durchläuft und die Kontrollgruppe keine Behandlung erhält. Entsprechend gab es auch keine Randomisierung.

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Intervention

80 Patienten wurden gleichmäßig auf zwei Gruppen verteilt:

Gruppe 1 (mit Arthrose, n=40): Ein Physiotherapeut instruierte den Patienten ein Kräftigungsprogramm für die Hüftgelenkabduktoren, das die Teilnehmer 3–4-mal pro Woche über einen Zeitraum von acht Wochen durchführen sollten. Die Probanden bekamen außerdem ein Handbuch mit der genauen Übungsabfolge sowie Therabänder.

Die Übungen waren:

  • Hüftgelenkabduktion in Seitenlage gegen den Widerstand eines Therabands

  • Stabilisationsübungen im Einbeinstand bzw. Abduktionsübungen im Einbeinstand gegen Widerstand

  • Training der Hüftgelenkabduktoren im Einbeinstand auf einer Stufe

Gruppe 2 (gesunde Kontrollgruppe, n=40): Diese Gruppe sollte ihre täglichen Aktivitäten wie gewohnt fortführen und kein Übungsprogramm beginnen.

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Ergebnisparameter

Outcome-Parameter waren radiologische Aufnahmen der unteren Extremität, bei denen die Forscher die Achsenverhältnisse von Femur und Tibia in der Frontalebene mithilfe eines speziellen Computerprogramms ermittelten. Die Schwere der Gonarthrose schätzten Radiologen mithilfe der Kellgren-Lawrence Scale ein. In einer Ganganalyse wurden zudem dreidimensionale Daten der Bewegung des Kniegelenks ermittelt. Die Kraft der Hüftgelenkabduktoren maßen die Wissenschaftler mit einem isokinetischen Dynamometer. Zur Beurteilung der funktionellen Leistungsfähigkeit verwendeten sie den Five-times-sit-to-stand-Test. Die Stärke der Knieschmerzen eruierten sie mithilfe des Western-Ontario-and-McMasters-Fragebogens.

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Ergebnisse

Nach acht Wochen hatte die Interventionsgruppe deutlich mehr Kraft bei der Hüftgelenkabduktion als die übrigen Probanden, eine bessere funktionelle Leistungsfähigkeit und weniger Schmerzen im Kniegelenk. Der KAddM hatte sich nicht verändert.

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Schlussfolgerung

Obwohl das Übungsprotokoll die Varuskomponente des betroffenen Kniegelenkes nicht beeinflusste, profitierten die Patienten mit medialer Gonarthrose trotzdem von ihm: Sie hatten eine bessere funktionelle Leistungsfähigkeit und weniger Schmerzen im Kniegelenk.

  • Sled EA, Khoja L, Deluzio KJ et al. Effect of a Home Program of Hip Abductor Exercises on Knee Joint Loading, Strength, Function, and Pain in People with Knee Osteoarthritis. Phys Ther 2010; 90: 895–904

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Kommentar: Schmerzlinderung ein Effekt der Kokontraktion?

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Patientencharakteristika lückenhaft

Es fehlen einige Angaben bei den Patientencharakteristika. So wird nicht beschrieben, wie lange die Patienten schon Beschwerden hatten und wie ausgeprägt die radiologischen Zeichen waren. Außerdem erwähnen die Autoren nicht, wie viele Teilnehmer eine Gonarthrose auf beiden Seiten hatten. Diese Faktoren können Einfluss auf die Resultate haben. Die Probanden der Gonarthrose-Gruppe hatten einen höheren BMI (Body Mass Index) und ein größeres Varus-Alignement. Vor der Intervention bewältigten sie die Gehstrecke in einem langsameren Tempo als die Kontrollgruppe und führten auch den Five-times-sitto-stand-Test langsamer aus. Im Verlauf der Studie konnten die Betroffenen allerdings weder die Steifheit noch die Funktion ihres Kniegelenks verbessern.

Interessant ist, dass die Patienten mit Gonarthrose insgesamt ein höheres Aktivitäts niveau hatten als die gesunde Kontrollgruppe.

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Kniemuskelkraft und Gangstrategien nicht beachtet

Eine Limitation der Studie ist die fehlende Messung der Kniemuskelkraft vor und nach der Intervention. Sled und ihre Kollegen vermuten, dass die gewichttragenden Übungen, die als Teil des Kräftigungsprogramms durchgeführt wurden, eine Kokontraktion anderer Muskeln des Beines und der Rumpfmuskulatur erzeugten. So könnte es sein, dass die Verbesserungen des Sit-to-stand-Tests und die Schmerzlinderung im Knie eher auf den Kraftzuwachs der knieumgebenden Muskulatur zurückzuführen sind als auf die Verbesserung der Kraft der Hüftgelenkabduktoren. Außerdem untersuchten die Autoren nicht, ob die Probanden Gangstrategien hatten, die den KAddM beeinflussen könnten – also ob sie zum Beispiel beim Gehen den Oberkörper über das betroffene Bein verlagerten.

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Fazit: Spezifischere Übungsprotokolle entwickeln

Diese Studie zeigt, dass sich Kräftigungstraining der Hüftgelenkabduktoren positiv auf einen Teil der vielfältigen Beschwerden von Patienten mit Gonarthrose auswirkt und daher auf jeden Fall in der Therapie zum Einsatz kommen sollte. Auf gestörte Bewegungsmuster, beispielsweise die erhöhte Varusbelastung des arthrotischen Kniegelenks (KAddM), scheint eine solche Intervention jedoch keinen Einfluss zu haben. Interessant zu wissen wäre, ob sich die Schmerzen deutlicher verbessern würden, wenn die Kräftigungsübungen nicht nur die Hüftgelenkabduktoren, sondern auch andere Abschnitte des Bewegungsapparats mit einbeziehen würden – beispielsweise die obere Extremität und den Rumpf. Zusätzlich wäre eine genauere Diagnostik der Kraft und Innervation der gleichseitigen Hüftgelenkabduktoren in unterschiedlichen Hüftgelenkstellungen sinnvoll. Denn in der klinischen Praxis zeigt sich häufig, dass die Abduktionskraft des extendierten Hüftgelenks sowie die Innervation der kleinen Glutealmuskulatur in angenäherter Stellung nicht zufriedenstellend sind. Mit solchen Daten könnten spezifischere Übungsprotokolle entwickelt werden als das in der Studie beschriebene.

Wir glauben, dass Übungen zur Verbesserung der Wahrnehmung und der Bewegungskontrolle hier zu einem besseren Ergebnis führen würden. Doch das müssen aussagekräftige Studien zuerst zeigen.

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