PD. Dr. Georg Schomerus
Die Alkoholabhängigkeit gehört zu den am stärksten stigmatisierten psychischen Krankheiten
überhaupt [1]
[2], und zudem zu den häufigsten und schwerwiegendsten [3]. Umso erstaunlicher ist es, dass es kaum Anti-Stigma-Initiativen gibt, die sich
mit dieser Erkrankung befassen. Woran mag das liegen? Fast hat man den Eindruck, Suchterkrankungen
würden auch innerhalb der Anti-Stigma-Bewegung der Psychiatrie und Psychotherapie
diskriminiert. Allerdings ist die Sache bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach.
Eine zentrale Strategie der Stigma-Bekämpfung in der Psychiatrie ist die Edukation,
die Korrektur falscher Stereotype. So gibt es zahlreiche Studien darüber, dass Personen
mit Schizophrenie viel weniger gefährlich sind als allgemein angenommen [4], und es ist ein plausibles Argument, dass die bereitwillige Darstellung von Gewalttaten
psychotisch Erkrankter in den Medien ein Zerrbild geschaffen hat, das erhebliche negative
Konsequenzen für die Betroffenen hat. Aber kann man sich eine solche Argumentation
bei der Alkoholabhängigkeit vorstellen? Auch Alkoholkranke werden von der überwiegenden
Mehrheit der Bevölkerung für gefährlich gehalten – aber diese Einschätzung kann man
nicht einfach von der Hand weisen. Ein Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalttaten
ist evident, Alkohol im Straßenverkehr stellt eine sehr reale und häufige Gefahr dar.
Würde man versuchen, das Stereotyp der Gefährlichkeit bei Alkoholabhängigen zu widerlegen,
setzte man sich schnell dem Verdacht aus, ein schwerwiegendes Problem zu verharmlosen.
Andererseits existieren auch über die Alkoholabhängigkeit Stereotype, die eindeutig
falsch sind [5]: Die Einschätzung, Alkoholabhängigkeit sei unheilbar ignoriert hohe Spontanremissionsraten
in bevölkerungsbezogenen Studien [6]. Wenn man in Betracht zieht, dass eine tatsächliche gesundheitsförderliche Verhaltensänderung
bei anderen chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus keineswegs
häufiger erreicht wird als bei der Alkoholabhängigkeit [7], lässt sich auch das Stereotyp der „besonderen Willensschwäche” kaum aufrechterhalten.
Trotzdem scheint die Strategie, dem negativ geprägten Bild des Alkoholikers einfach
ein positives Gegenbild entgegenzusetzen, an den sozialen Realitäten der Alkoholabhängigkeit
vorbeizugehen.
Bemühungen, die Stigmatisierung Alkoholkranker zu bekämpfen, müssen in Betracht ziehen,
dass „Alkoholabhängigkeit” nicht nur als Krankheit, sondern auch (und vielleicht in
erster Linie) als Verletzung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen wird. Bevölkerungsstudien
zeigen, dass Suchtkranke von der Allgemeinbevölkerung viel stärker für ihre Erkrankung
verantwortlich gemacht werden als Personen, die an einer Schizophrenie oder Depression
leiden [1]. Anders als bei der Schizophrenie oder einer Depression könnte deshalb das Stigma
der Alkoholabhängigkeit eine auf den ersten Blick plausible Funktion haben, nämlich
diese gesellschaftlichen Normen zu schützen [8]. Das „Rational” der Stigmatisierung hieße: Wer mutwillig bestimmte Regeln verletzt,
gehört nicht mehr zu uns. Ausgrenzung könnte als Druckmittel funktionieren, um den
Betroffenen zur „Umkehr”, also zur Verhaltensänderung zu bewegen und ihn wieder in
die Gesellschaft hineinzuholen. Sie könnte sogar präventiv wirken, indem sie allen
Gruppenmitgliedern signalisiert, wo die Grenze akzeptablen Verhaltens liegt und was
passieren würde, wenn man diese überschreitet. Diesem Muster folgt z. B. die Stigmatisierung
von kriminellem Verhalten. Könnte das Stigma der Alkoholabhängigkeit also eine rationale,
erfolgreiche Strategie sein, um letztendlich die Abstinenz zu fördern?
Mehrere Argumente sprechen m. E. gegen diese optimistische Sichtweise: Erstens sind
nicht das Trinken oder der Rausch stigmatisiert, also das unmittelbar problematische
Verhalten, sondern die Abhängigkeit. Alkoholkonsum dagegen ist oft sozial akzeptiert,
geradezu erwünscht: Nur wer trinkt gehört „dazu”, und diese Akzeptanz reicht vom Glas
Sekt beim Empfang bis zum Rausch auf der Party [9]. Die Doppelbödigkeit alkoholbezogener Normvorstellungen wird auch in der Mediendarstellung
von Alkohol, etwa bei Champagner-Duschen für siegreiche Rennautofahrer (!), überdeutlich.
Weil nicht das regelmäßige, auch starke Trinken zu negativen Reaktionen führt, sondern
erst der Verlust der Kontrolle über das Trinkverhalten, setzt die Stigmatisierung
der Alkoholabhängigkeit viel zu spät ein, um überhaupt präventiv wirken zu können.
Ein zweites Argument betrifft die Bereitstellung von Hilfe: Bevölkerungsstudien zeigen,
dass Alkoholkranke nicht nur persönlich abgelehnt werden, sondern dass auch ihre Behandlung
im Vergleich zu anderen Erkrankungen die bei Weitem niedrigste Priorität in der Öffentlichkeit
genießt. Auf die Frage, bei welchen Erkrankungen man am ehesten Geld bei der Behandlung
einsparen könnte, wurde die Alkoholabhängigkeit unter 9 medizinischen und psychischen
Krankheiten bei Weitem am häufigsten genannt [10]. Der „Weg zurück” wird Menschen mit Alkoholabhängigkeit durch das Stigma offenbar
nicht geebnet, da ihnen auch bei der Vergabe von Hilfe Diskriminierung droht.
Drittens schließlich macht es die Stigmatisierung den einzelnen Betroffenen schwerer,
mit dem Trinken aufzuhören. Angst vor Stigma verhindert mutmaßlich das frühzeitige
Aufsuchen von professioneller Hilfe [11]. Patienten mit Alkoholabhängigkeit berichten häufig, dass erst die Inanspruchnahme
von Hilfe, z. B. die erste Entgiftung, sie in ihrer eigenen Wahrnehmung und in der
ihres Umfelds zum „Alkoholiker” gemacht habe. Selbststigmatisierung führt dazu, dass
die Betroffenen sich noch weniger zutrauen, in Zukunft abstinent zu bleiben – die
Identifikation mit der Gruppe der „Alkoholiker” führt zu Selbstwertverlust und verminderter
Selbstwirksamkeit [12]
[13]. Während Menschen mit Alkoholabhängigkeit eigentlich ein hohes Maß an persönlicher
Stärke und Unterstützung durch andere im Kampf gegen ihre Erkrankung benötigen, bewirkt
ihre Stigmatisierung genau das Gegenteil: Das Stigma der Alkoholabhängigkeit schwächt
und isoliert die Betroffenen, und es untergräbt die Bereitstellung effektiver Hilfen
[14].
Die Bekämpfung der Stigmatisierung Alkoholkranker scheint also richtig und notwendig
zu sein – aber welche Strategien bieten sich hierfür an? Klassischerweise gibt es
hier 3 grundsätzliche Möglichkeiten: Protest, Kontakt und Edukation. Die Schuldzuweisungen
der Öffentlichkeit, aber auch Selbststigmatisierung und Scham der Betroffenen machen
Protest als Form der Stigma-Bekämpfung besonders schwer. Wie können Alkoholkranke es wagen,
gegen eine Benachteiligung aufzubegehren, an der sie in den Augen der Mehrheit und
vielleicht auch in ihren eigenen Augen selber schuld sind? Aber gerade dieser Zusammenhang
mit Schuldgefühlen und Selbststigma lässt den selbstbewussten Protest gegen Diskriminierung
als eine zwar schwierige, am Ende aber gesunde und erwünschte Antwort auf die Stigmatisierung
Alkoholkranker erscheinen – man könnte die Betroffenen also durchaus ermutigen, sich
gegen Benachteiligungen zu wehren. Die stigmareduzierende Wirkung von Kontakt ist für andere psychische Krankheiten gut belegt [15]. Kontakt mit „trockenen Alkoholikern” könnte ein sehr geeignetes Mittel sein, um
das negative und stereotype Bild der Öffentlichkeit von Alkoholkranken zu korrigieren.
Erfolgreiche Schulprojekte zu anderen psychischen Störungen sind hier ein ermutigendes
Vorbild [16]
[17]. Auf der Ebene der Edukation schließlich müsste berücksichtigt werden, dass jede Form von Stereotypen schädlich
ist: Weil Stereotype per Definition verallgemeinern, und damit den Blick auf die Situation,
die Schwierigkeiten und die Ressourcen eines Individuums verstellen. Dies gilt sowohl
für negative wie auch für positive Verallgemeinerungen. Schädlich sind Stereotype
aber auch, weil sie keine Veränderung zulassen. Veränderung ist aber das zentrale Thema der Auseinandersetzung mit einem Alkoholproblem. Anti-Stigma-Initiativen
sollten die Vielfalt der Biografien und die Möglichkeit der Veränderung ins Zentrum
ihrer Botschaften stellen. Anstatt zu versuchen festzulegen, wie Personen mit Alkoholabhängigkeit
„wirklich sind”, sollten sie deutlich machen, was diese wirklich brauchen: nicht Ausgrenzung
und Ablehnung, sondern Wertschätzung und Hilfe.