Via medici 2010; 15(4): 7
DOI: 10.1055/s-0030-1265102

Hätten Sie’s gewusst? – Gibt es überflüssige Organe?

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Publication Date:
13 September 2010 (online)

Früher entfernten Chirurgen Milz, Appendix & Co. ohne große Not. Eine wichtige Funktion sprach man diesen Organen ab. Die Medizin glaubte, dass der Mensch auch ohne diese evolutionären Relikte gut leben könne. Doch gibt es wirklich überflüssige Gewebe? Das fragten wir Prof. Erik Schulte, Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Mainz.

Kann ich mir die Appendix vermiformis einfach so entfernen lassen?

Prof. Schulte: Seit Darwin hat man geglaubt, dass die Appendix vermiformis ein evolutionäres Relikt des Blinddarms sei. Heute weiß man, dass der Wurmfortsatz ein wichtiges immunologisches Organ ist. Chirurgen sprechen sogar manchmal von der „Darmtonsille”. In der Histologie zählen wir die Appendix zum „GALT”, dem darm-assoziierten lymphatischen Gewebe. Deshalb sollten Sie sich den „Wurm” auf keinen Fall einfach so entfernen lassen.

Welche Funktion hat der Wurmfortsatz konkret?

Prof. Schulte: Neben einer Prüffunktion für die im Magen-Darm-Trakt vorhandenen Antigene, vermutet man, dass die Appendix ein Reservoir für physiologisch sinnvolle Darmbakterien ist. Hier kommt ihr ihre Lage als Blindsack zugute: Denn bei starkem Durchfall werden diese Bakterien in großen Mengen aus dem Darm gespült. In der Appendix können sie aber wie in einem Schutzraum überleben. Offenbar werden sie dort von speziellen Antikörpern in einem Biofilm vor pathogenen Keimen geschützt. Nach der Diarrhö bauen die „gesunden” Bakterien dann von dort die physiologische Flora wieder auf.

Trotzdem kann man auf die Appendix verzichten?

Prof. Schulte: Bei Menschen aus Industrieländern kann man sie relativ folgenlos entfernen, da diese aufgrund der Umweltbedingungen nicht so starken Infektionen ausgesetzt sind. Aber bei Menschen aus Ländern mit schlechter Hygiene und schmutzigem Trinkwasser sieht das schon anders aus: Diese Menschen haben ohne die Appendix ein höheres Sterblichkeitsrisiko.

Auch die Milz hat man lange Zeit großzügig entfernt! Zurecht?

Prof. Schulte: Sie können zwar die Milz entfernen und der Patient überlebt – aber er hat Risiken. Das liegt vor allem daran, dass Monozyten, die bekapselte Bakterien phagozytieren können, überwiegend in der Milz zu finden sind. Fehlt durch eine Splenektomie diese spezielle Kompetenz, dann besteht ein erhöhtes Risiko, an einem OPSI [*] , einer speziellen Sepsis, zu erkranken. Deshalb sollten Splenektomierte gegen diese Erreger geimpft sein. Weitere Risiken ergeben sich dadurch, dass auch bis zu 30% der Thrombozyten in der Milz gespeichert werden. Bei starken Blutverlusten fehlt Milzlosen dieser Speicher.

Gibt es überhaupt „überflüssige” Organe?

Prof. Schulte: Eher nein. Was Appendix und Milz betrifft, können Sie sicher gerade in unseren Breiten und in unserer Zeit ohne diese beiden Organe mehr oder weniger gut überleben. Aber überflüssig sind sie deswegen noch lange nicht. Viele Jahre glaubte man sogar, dass das Stirnhirn überflüssig sei. War es verletzt, fand man keine Lähmung oder sensible Störung. Man vermutete deshalb, dass es eine Reserve des Gehirns darstelle – für spätere Zeiten, wenn der Mensch sich weiterentwickelt hat und durchs viele Lernen mehr Speicher benötigt. Das ist natürlich Unsinn. Ein Organ, das zu nichts zu gebrauchen ist, würde sich im Laufe der Zeit sicher „herausmendeln”.

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1 OPSI: „overwhelming postsplenectomy infection syndrome”

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