Aus früheren Reisen war mir Korea in bester Erinnerung
geblieben. Vermutlich lag es auch daran, dass meine Frau und ich früher
das Privileg hatten, in Begleitung koreanischer Kollegen, die uns mit viel
Umsicht und Sachkenntnis führten, ausgesucht schöne Seiten Koreas
kennenzulernen. Seoul selbst schien uns dabei weniger attraktiv, nach
Ableistung meiner Vortragsverpflichtungen verließen wir die Stadt und
bereisten mit großer Begeisterung die Provinz. Nicht zuletzt der
Süden der Halbinsel mit Gyeongju, der alten
Kapitale aus der Blüte der Silla-Dynastie
während des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechung, hatte uns tief
beeindruckt.
Gyeongju, heute eine kleine Provinzstadt,
ist wie ein offenes Landschafts-Museum. Es ist ein Welterbe der UNESCO, in dem
die zahlreichen Kulturdenkmäler einschließlich der bis zu 20 Meter
hohen, begrünten Tumuli-Gräber der Könige und Strategen des
vereinigten Silla-Reichs bis an die Grenze der heute
bewohnten Siedlungen reichen. Von jugendlicher Neugierde angespornt, war es
für uns ein Vergnügen, tagelang die mühsamen Wege zu den
verschiedenen Pagoden zu laufen und die kleinen Buddha-Tempel aufzusuchen, die
in den Hügeln der Umgebung in Grotten versteckt sind, umgeben von dichten
Gingo-Bewaldungen in herrlichen herbstlichen Farben. Im Süden der
Halbinsel hatten wir das Land des koreanischen Buddha kennengelernt, an manchen
Stellen eine nahezu mystische Erfahrung; als solche blieb sie jedenfalls in
meiner Erinnerung haften. Im reich bestückten Museum von
Gyeongju hatten wir die kunstvollen Grabbeigaben aus
den wenigen geöffneten Königsgräbern bewundert, die anderen
Grabstätten wurden respektvoll gepflegt und blieben verschlossen, um ihre
Geheimnisse für kommende Generationen zu bewahren. Bei anderen Reisen
standen alte buddhistische Klöster im Norden und Feste mit
Tanzvorführungen hübscher Koreanerinnen in ihren traditionellen
bunten Kleidern auf unserem Programm, ebenso wie private Kunstsammlungen und
Künstlerwerkstätten, wo die atemberaubend ästhetische
koreanische Celadon-Keramik nach alten Rezepten noch
hergestellt wurde.
Insgesamt war es das traditionelle Bild Koreas, das wir als kostbare
Erinnerung behalten hatten und später zu Hause auf diverse Weise pflegten,
das zusammen mit der köstlichen Küche und der Trinkfreudigkeit der
Koreaner unsere als kurz empfundenen Aufenthalte in diesem ostasiatischen Land
zu einem Erlebnis gemacht hatten.
Bei meinem letzten Besuch anlässlich des
22. Dermatologischen Weltkongresses war Seoul mein alleiniges Reiseziel.
Nach der Landung in Incheon ging es über den
„Olympic Highway” direkt in die 70 km weit entfernte
koreanische Hauptstadt, die inzwischen mächtig gewachsen ist.
Groß-Seoul soll über 20 Millionen Einwohner haben, manche Koreaner
erzählen gern, dass sie das größte oder zweitgrößte
Ballungszentrum der Welt sei, sie strahlt stellenweise den
„westlichen” Fortschritt mit all seinen superglatten Facetten
aus, die in vielen Großstädten unserer Welt zu finden sind. Korea
reiht sich heute in die Riege der ostasiatischen „Tigerstaaten”
ein, diesmal unter der Führung des wieder erstarkten chinesischen
Nachbarn.
Das Umfeld
Das Umfeld
Der Kongress fand im relativ neuen Wirtschaftszentrum der Stadt im
Süden von Seoul statt. Das hochmoderne Kongressgebäude, das
gleichzeitig als Geschäftszentrum aufgestellt ist, wird von breiten
Straßenzügen mit Hochbauten und Apartmentblocks aus Stahl und Glas
umsäumt, eine Etage tiefer befinden sich die in Japan und Korea so
beliebten, labyrinthisch verzweigten malls, in denen
bis in die späten Abendstunden dichte Massen von Menschen herumlaufen,
essen oder sich mit Leidenschaft dem Konsum widmen. Die Vielzahl der kleinen
und größeren Geschäfte mit den vielfältigen bunten
Attributen und diversen Accessoires westlicher Mode, für die man
neuerdings erstaunlich hohe Preise verlangt, war verwirrend. Dazwischen hielten
Kaufläden aller Art, Elektronik- und Automatengeschäfte, Friseure,
Massage- und Kosmetiksalons, Kitas, „dental clinics” und
ähnliche Geschäfte und Einrichtungen ihre Türen offen,
überall wurde Kleinkram angeboten, um die Touristen zu locken. Lediglich
die Küchengerüche der unzähligen kleinen koreanischen
Restaurants, Bars und Imbissbuden, die an jeder Ecke auftauchten, erinnerten
den Besucher daran, dass er sich in Ostasien befand.
Gerade in diesen malls konnte man den
Eindruck nicht loswerden, dass Korea nun endgültig dabei ist mit seinen
alten Traditionen zu brechen und in globalisierter Flachheit seinen Charme zu
verlieren. Der Anblick der Massen modisch gekleideter junger Menschen, die in
ihrer Freizeit sorglos herumschlenderten und sich mit dem größten
Eifer und Hingabe einem Allerwelts-Konsum widmeten, war für mich
bedrückend. Es war eine Szenerie, die mich teilweise an Zukunftsvisionen
von Isaac Asimov erinnerte.
Der Kongress
Der Kongress
Der Schock durch den medizinischen Weltkongress, dessen Besuch
Anlass meiner Reise gewesen ist, war nicht kleiner: Die Eröffnung wurde
von einer Multimedia-Show einer gewaltigen Drumband mit den obligatorischen
Riesentrommeln begleitet, die in ihrer Lautstärke und unkontrollierter
postmoderner Wildheit nichts zu wünschen übrig ließ. Die
Kongressteilnehmer schienen überwältigt, zumal die schrillen
Megalaute aus den zahlreichen Lautsprechern, die im Saal gleichmäßig
verteilt waren, einem die Trommelfelle sprengten. In den kurzen Pausen zwischen
den Darbietungen langhaariger wilder Trommler und akrobatischer Tänzer,
die auf der langen Bühne in der raschesten Abfolge, die man sich
vorstellen konnte, ihre Künste vorführten, informierte uns die
hübsche Ansagerin mit freundlichem Lächeln, dass dieses Spektakel die
Eröffnung eines medizinischen Weltkongresses war, um uns dann im gleichen
Atemzug darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihr Kleid einem berühmten
westlichen Designer verdanke, ich glaube aus Hamburg, obwohl ich mir
darüber nicht sicher bin, da ihr Pigeon-English
mit koreanischem Akzent als vereinfachte Form der Kommunikation nicht immer
verständlich war. Ob wir ihr Kleid schön fanden, wollte sie
jedenfalls wissen, worauf sie in betont lässiger Art westlicher Showmaster
uns um kräftigen Applaus bat, den sie von vielen faszinierten Zuschauern,
wenn auch etwas zögernd, bekam.
Um mich herum konnte man im Dunkeln die Gesichter der vielen
Kollegen nicht sehen, geschweige denn ihre Gedanken ablesen. Schauelemente
waren auch früher in den Eröffnungsveranstaltungen von Weltkongressen
vorhanden, aber dies übertraf alle meine Erwartungen. Ich dachte an
frühere Erfahrungen in Korea, Tagungen, die ich in einem reizvoll
traditionellen koreanischen Ambiente erlebt hatte, und wollte den Riesensaal
möglichst unauffällig verlassen, ließ es mir jedoch nicht
nehmen, die Ansprache des Präsidenten der Internationalen Liga,
Prof. Jean-Hilaire Saurat, zu hören, die
allerdings nur wenige Minuten dauern durfte. So wollte es das
„Protokoll”, sagte er mir später. Im Schutz der Dunkelheit
flüchtete ich in die hintersten Reihen des Saales und harrte auf das Ende.
Nach einigen weiteren Grußworten und Darbietungen brachte die
hübsche Showmasterin das Ganze erfolgreich zum Abschluss, indem sie ein
10-minütiges Schlusswort dem Vertreter einer bekannten Kosmetikfirma
überließ. Seine Hinweise auf die Leistungen der koreanischen
Kosmetikindustrie waren vermutlich als Höhepunkt der Veranstaltung
gedacht. Ich spürte Schmerzen in den Ohren und hatte das Glück, dass
die Eröffnungszeremonie zu einem baldigen Ende kam.
Viele medizinische Großkongresse scheinen sich inzwischen zu
derartigen Massenveranstaltungen entwickelt zu haben, erfuhr ich in
späteren Gesprächen mit meinen jüngeren Kollegen. Sie sind
endgültig dabei, ihren ursprünglichen Ansatz eines hoch angesiedelten
wissenschaftlichen Ereignisses aufzugeben. Korea durfte hier keine Ausnahme
machen. Bei den Vorträgen der wissenschaftlichen Sitzungen, die ich
später besuchte, war mein persönlicher Eindruck, dass allenfalls
Weiterbildunginhalte noch präsentiert bzw. aufrechterhalten wurden und
eine gewisse Beachtung fanden, während die überwiegende Mehrheit der
Teilnehmer eher an den Veranstaltungen und Pröbchen der ausstellenden
Industrie interessiert war. Ich selbst halte jedenfalls als Zuhörer wenig
von solchen Veranstaltungen, wenn ich die Chance außer Acht lasse,
Freunde aus allen Ecken dieser Welt dort anzutreffen.
Die Redner waren auch, mit wenigen Ausnahmen, nicht ganz unschuldig
an dieser unglücklichen Entwicklung. Viele erfahrene Forscher passten sich
dem allgemeinen Trend an und drückten ihrerseits das Niveau ihrer
Ausführungen nach unten, waren bemüht, gedankliche Feinheiten
auszulassen, und beschränkten sich auf die wesentlichen Punkte ihrer
Aussagen, um bei ihren Zuhörern besser anzukommen. Ein Problem schien mir
dabei die Sprache zu sein, denn mit dem Kongress in Korea wurden die
üblichen fünf offiziellen Sprachen unserer früheren
Weltkongresse endgültig aufgegeben, zugunsten eines Einheits-Englisch
mittlerer oder gar schlechter Qualität, je nach Vermögen des Redners.
Was für ein Jammer! Vorbei die Zeiten, in denen man prominente
Vertreter unseres Faches in ihrer eigenen Sprache hören und ihre
persönliche Ausstrahlung am Rednerpult spüren konnte, während
man komplizierte Inhalte über die simultane Übersetzung klar und
deutlich vermittelt bekam. Kosten für Simultanübersetzer müssten
heute aus finanziellen Überlegungen „eingespart” werden,
wurde mir gesagt, darüber hinaus würde Englisch als einheitliche
Vortragssprache der besseren Kommunikation dienen. Das Argument ist nur
scheinbar schlüssig: Bei der persönlichen Kommunikation könnte
man ja ohnehin das übliche Englisch verwenden, bei den wissenschaftlichen
Präsentationen hingegen geht durch die oft unzulängliche
Sprachenbeherrschung inhaltlich viel Wertvolles verloren oder wird gar nicht
angeführt. Auch auf die Chance, die Besonderheiten und Feinheiten unserer
multikulturellen Welt während der alle fünf Jahre stattfindenden
Weltkongresse zu pflegen, wird verzichtet, ihr Charme wird dem Geldwahn
geopfert. Der Einzug der Ökonomie in Bildung und Wissenschaft ist
allgegenwärtig, der Wille zum besseren Verständnis des anderen wird
peu á peu aufgegeben.
Dazu kommt, dass ein immer größer werdender
Teil der Vortragenden bei den heutigen Kongressen finanziell, direkt oder
indirekt, von Industriefirmen unterstützt wird, sodass vielfach
gefällige Vorträge im Sinne der Sponsoren gehalten werden.
Beraterverträge ermöglichen Honorare, Übernahme von Reisekosten
oder sonstige Vergünstigungen, einen Eindruck davon kann man aus den
Erklärungen am Ende des gewichtigen Programmheftes entnehmen. Es
dürfte inzwischen ein offenes Geheimnis sein, dass die Inhalte mancher
Kongress-Präsentationen von den Marketing-Spezialisten der Industrie
beeinflusst oder zumindest feinfühlig durch sie gesteuert werden. Vielfach
werden die Dias und die Kernaussagen vorgefertigt, der Sprecher beschränkt
sich weitgehend in der Präsentation auf das Gewünschte. Von den
meisten Plenarvorträgen abgesehen, war bei einigen Beiträgen des
Hauptprogramms die industrielle Liaison deutlich, bei anderen war für den
weniger kundigen Zuhörer die Verbindung weniger gut erkennbar. In den
Marketing-Sitzungen der Industrie, die man immer noch euphemistisch als
„Satelliten-Symposia” deklariert, wurden die Beiträge gar
reichlich mit Showelementen geschmückt und mit kleineren Geschenken,
Buffets etc. begleitet, um die „Kunden” zu locken.
In den überdimensionierten Hallen der begleitenden Ausstellung
standen vor den diversen Ständen lange Schlangen von Teilnehmern, deren
offensichtliches Bemühen darin bestand, große Taschen mit
möglichst vielen Musterproben und Pröbchen der Aussteller zu
füllen. Was für ein Anblick! Wie konnten sich Ärzte und
Ärztinnen so verhalten? Die mit Schminken, Shampoos und sonstigen
Mustertuben prall gefüllten, großen Plastiktaschen ließen den
Eindruck einer Markthalle aufkommen. Gleichzeitig waren die Vortragssäle,
in denen die Sitzungen der eigentlichen Dermatologie stattfanden, fast leer,
den meisten Kongressbesuchern ging es offenbar nicht mehr um Inhalte. War dies
meine akademische Jungfamilie? Ich fühlte mich betroffen, es war fast
würdelos.
Beim Rückflug hatte ich Gelegenheit mit der klugen
Repräsentantin einer seriösen pharmazeutischen Firma ein
längeres Gespräch über ihre Kongresseindrücke zu
führen. Auch sie sei vom Verhalten meiner Kollegen und Jungakademiker
schockiert, der Anblick all dieser jungen Ärzte …, alles
studierte Menschen, zum Teil gestandene Akademiker …, in diesen
Schlangen …, das war nicht schön, meinte sie. Hätten
sie es nötig? Natürlich sei die Kosmetik-Industrie dafür
verantwortlich, man lockt doch die Massen von Teilnehmern mit vielen
Geschenken, Verlosungen teurer iPads, Einladungen zum Essen und anderen Dingen
regelrecht an, während Diskussion und Gedankenaustausch an den
Ständen der pharmazeutischen Industrie kaum noch stattfinden. Der
deutsche, strenge „Pharma-Codex”, den alle Hersteller
verschreibungspflichtiger Medikamente einhalten müssen, verbiete solche
Dinge. Zweifellos, die Verflechtung der medizinisch-kosmetischen Industrie mit
der Medizin hat inzwischen Ausmaße erreicht, die für viele
ärgerlich sind. Meine Gesprächspartnerin schien mir jedenfalls
enttäuscht und stellte für sich die Frage, ob sich der ganze Aufwand
für ihre solide pharmazeutische Firma gelohnt hätte.
In der Tat, die Stände der Kosmetikahersteller waren
während dieses Weltkongresses gezielt und ständig belagert und die
der Laser und ähnlicher Geräte gut besucht, demgegenüber war an
den Ständen der Pharmafirmen der Andrang bescheiden, man beschränkte
sich auf ein Erfrischungsgetränk und gelegentliches Plaudern. Ich dachte
zurück an Zeiten, in denen das Auftreten der Pharmavertreter bescheiden
war und wir zumindest teilweise das Gefühl hatten, dass bei unseren
Begegnungen, trotz der Verkaufsargumente, immerhin der Patient im Vordergrund
stand. Man müsste vielleicht ein gewisses Verständnis für unsere
jungen Ärzte haben: Wenn bürgerliche Tugenden in der Gesellschaft
nicht mehr gefragt wären, warum sollten die sogenannten
„akademischen” weiter Beachtung finden? Wie auch immer, die
Entscheidung des BGH, ob praktizierende Ärzte der Korruption belangt
werden können, erwarte ich mit Spannung, ein klares Wort darüber ist
längst fällig.
Ein unabhängiger, neutraler Beobachter muss jedoch die Frage
stellen, ob die Dermatologie weiterhin solche Weltkongresse braucht? Und wenn
ja, ist Weiterbildung das Ziel oder das globale Geschäft?
Wissenschaftliche Ergebnisse seriöser Forscher werden heute nahezu
ausschließlich in den einschlägigen wissenschaftlichen Journalen
veröffentlicht oder in anderen hochwertigen, meist kleineren
Veranstaltungen präsentiert, wo die Spezialisten unter sich sind.
Weltkongresse seien dafür nicht der richtige Platz, gäbe es zu
bedenken. Andererseits, das kritische Abfiltrieren und sorgfältige
Abwägen, das Formulieren von Zielsetzungen, Dinge, die bisher alle
fünf Jahre Aufgabe der Weltkongresse waren und in den Vorträgen der
besten Kliniker und Forscher weltweit als Resümee und Standortbestimmung
des Faches galten, bleiben auf der Strecke. Eine Standortbestimmung findet
durchweg nicht statt, eine Richtschnur für die Zukunft brauche man nicht,
meint man. Die Resümees werden dem Einzelnen überlassen, die Vielfalt
der Interessen führt aber dazu, dass die Rat- oder Orientierungslosigkeit
zunimmt. Es entstehen beliebige, teilweise unkontrollierte Trends, denen man
kritiklos oder vorteilsorientiert nach dem Motto „everything goes” nachläuft, Hauptsache, das
„Geschäft” läuft. Kann dies das Ziel der Dermatologie
als Heilkunst und Wissenschaft sein?
Großkongresse scheinen heute nur noch
Schauplätze für Mediziner zu sein, die in ihrer überwiegenden
Mehrheit an den finanziellen Strippen der pharmazeutischen und kosmetischen
Industrie hängen, als ob sie am Hungertuch nagen würden und keine
andere Einnahmequelle hätten. Man braucht sich nicht zu wundern, mit dem
Einzug der Ökonomie in der modernen Medizin wurden bei den Ärzten die
Berührungshemmungen zum industriellen, profitorientierten Denken abgebaut,
die monetären Interessen geben die Richtung vor, der wissenschaftliche
Wert der Kongresse nähert sich dem Nullpunkt.
Nirgendwo konnte dies in Bezug auf die Dermatologie besser erkennbar
werden als im ostasiatischen Raum, wo die weibliche Schönheit hoch im Kurs
steht und die Geschäfte der Kosmetikindustrie boomen.
Tempel, Königsgräber, Museen
Tempel, Königsgräber, Museen
Eine gute Abwechselung vom Kongressprogramm war Bongeumsa, der älteste buddhistische Tempel Seouls
aus der Silla-Periode, den man auf einer grünen
Anhöhe in der Nähe des Kongresszentrums leicht zu Fuß erreichen
konnte. Dieses Tempelareal und die Seonjeonneung-Königsgräber aus der
Joseon-Periode im 16. Jahrhundert sind die
einzigen Sehenswürdigkeiten im Süden der Hauptstadt.
Bongeumsa geht auf das 8. oder 9. Jahrhundert
zurück und gehört zur traditionstreuen Jogye-Sekte, deren Tempel in einer weitläufigen
grünen Anlage gut erhalten und für die Besucher offen sind. Er ist
einer der Anlaufpunkte der landesweiten Initiative „stay in
temple”, die es dem Besucher ermöglicht, einige Tage in den
Unterkünften der Mönche zu verbringen und an ihrem Tagesablauf aktiv
teilzunehmen. Das Programm hat in den letzten Jahren sowohl unter Koreanern als
auch unter westlichen Besuchern Zuspruch gefunden, wobei das Motto der
Jogye-Anhänger
„Bongeumsa, be One through
Practice and Effort”
in etwa:
„Bongeumsa, sei Einzig (Du selbst)
durch praktische Übung und Mühe”
an die puristische Tradition des koreanischen Buddhismus erinnert
und nicht wenige anspricht. Ich weiß nicht, wie lang man sich vorher
anmelden muss oder wie umständlich die Formalitäten für
derartige Unternehmungen sind, mir schoss schnell der Gedanke durch den Kopf,
aus meinem glattpolierten Hotel auszuziehen und einige Tage im nahe gelegenen
Tempel zu verbringen. Leider habe ich nicht den Mut dazu aufbringen
können, doch einige ruhige Nachmittagsstunden in Bongeumsa haben mir geholfen, meine Unzufriedenheit zu
überwinden. Die laufenden Zeremonien mit den monotonen Gesängen und
die ausgeglichenen Gesichter der Betenden strahlten Ruhe und Zuversicht
aus.
Ein besondere Sehenswürdigkeit Seouls ist das
Leeung- oder Samsung-Museum,
von der gleichnamigen Firma konzipiert und unterhalten, das in zwei
supermodernen Bauten europäischer Architekten zum einen ausgewählte
Objekte traditioneller koreanischer Art, vor allem Keramik und Metallarbeiten,
und zum anderen Werke zeitgenössischer Künstler wie
Beuys, Rothko, Francis Bacon, Koons, natürlich
auch des Koreaners Nam June Paik, bis zu neuesten
Werken von Andreas Gursky und Damiel Hirst zeigt. Das Ganze besticht durch die hohe
Qualität der ausgesuchten und ausgestellten Objekte und den Charakter
eines privaten exklusiven Museums, doch der Versuch das Alte mit dem Neuen zu
verbinden gelingt nicht, die Welten, die sie trennen, werden vielmehr
nüchtern und brückenlos aufgezeigt. Spätestens beim Anblick der
Riesenspinne, einer surrealistischen Skulptur von Louise
Bourgeois, in der vorgelagerten Terrasse kommt einem der Gedanke, ob alles
Gezeigte überhaupt zur gleichen Gattung unter dem Begriff
„Kunst” einzuordnen ist.
Einen ganzen Tag widmete ich dem Nationalmuseum, das sich
im Norden der koreanischen Hauptstadt, in der Nähe der früheren
Altstadt, befindet. Ich war voller Erwartung, da ich das alte Nationalmuseum
Seouls, das in einer alten Palastanlage untergebracht war, noch in
prächtiger Erinnerung hatte. Meine Eindrücke aus dem neuen
Gesamtkomplex blieben diesmal zwiespältig: Das neue Nationalmuseum
erschien mir wie ein megalomaner Bau, imposant in seinen Zementdimensionen,
doch ohne architektonische Rücksicht auf die traditionelle Feinheit und
den meditativen Charme der Kunst, die man dort präsentiert. Immerhin war
ich dankbar, mich einen weiteren halben Tag von den vielfältigen
Ergebnissen des Fortschritts der modernen Medizin fernzuhalten. Ich fand viel
Wissenswertes über die Historie, die Epochen des vereinten
Silla-Reichs im 7. bis 9. Jahrhundert, der
späteren Goryeo- und der anschließenden
Joseon-Periode gingen in den leicht verdunkelten
Sälen an einem vorbei, dazu einiges aus Zentral- und Südostasien, der
nördlichen Seidenstraße von Buchara
über Kashgar und Turfan
(Bizeklik) bis nach Chang'an und von dort nach
Gyeongju im Süden der koreanischen Halbinsel. Die
besten Exponate, die feinsinnigen kalligrafischen Blätter, die wunderbaren
Exemplare der klassischen Celadon-Ware aus der
Goryeo-Zeit (937 – 1392) und des
weißen koreanischen Porzellans (Baekja genannt)
aus der Joseon-Periode
(1392 – 1910) waren in den riesigen, verwinkelten
Sälen des neuen Museums ästhetisch durchdacht aufgestellt, man konnte
alles um sich herum verdrängen und den Anblick genießen. Vor allem
die koreanische Keramikkunst ist einer der Glanzpunkte Ostasiens.
Lediglich die laut schreienden Kinderklassen, die von ihren
überforderten Lehrern durch die Säle und Hallen des Museums in
schnellem Schritt geführt, man könnte fast sagen gejagt, wurden,
machten zuweilen einen ruhigen Museumsbesuch unmöglich. Im weiten
grünen Gartenareal des Gesamtkomplexes sind mehrere Bauten, darunter auch
eine Bibliothek, ein Bildungszentrum und auch ein Kindermuseum untergebracht,
doch der Aktivitätsdrang der kleinen quirligen Geister machte vor nichts
Halt, ohne Hemmungen liefen sie in wechselnden Scharen durch die Säle und
taten ihre Freude kund, den Tag außerhalb ihrer Klassenräume zu
verbringen. Immerhin, der Anblick der laut schreienden Kinder, die um einen
herum rannten und kicherten, war mir keinesfalls unangenehm, sie rauschten an
einem vorbei, ihre hübschen runden Gesichter betrachteten mich offen und
neugierig, ohne auch nur anstandshalber die wertvollen Exponate in den Vitrinen
eines Blickes zu würdigen. Manche wagten ein flüchtiges „hallo” oder „how are
you?”, stolz, ihr Englisch zu üben, das ich gern beantwortete.
Sie erinnerten mich an die ausgelassenen Kinder Ostafrikas, die kleinen
„totos”, die meine Frau und ich während unseres Aufenthaltes
in Tansania in den Schulen der Dörfer um den Kilimanjaro besuchten, und
machten mich nachdenklich.
In Europa sieht man Kinder in fröhlicher Ausgelassenheit recht
selten, der Anblick war eine wahre Freude, als Erwachsene haben wir es verlernt
damit umzugehen und sind oft verklemmt. Viele junge Menschen fragen sich in
Deutschland, kann man es noch verantworten und Kinder in diese Welt setzen?
Obwohl mir die Frage eher als Vorwand denn als echte Sorge vorkommt, kann ich
als alter Mann ein gewisses Verständnis dafür nicht
unterdrücken. Die Koreaner scheinen sich um solche Gedanken nicht
ernsthaft zu kümmern.
Das koreanische weiße Porzellan ist ohnehin seit meinen
früheren Besuchen in Korea mein ausgesprochener Favorit gewesen, so konnte
ich mit großer Freude die vielen Exponate genießen. Interessiert
las ich den Hinweis, dass dieses Porzellan, das vornehme Ruhe ausstrahlt,
bereits früher ausnehmend teuer und nur für zeremonielle Zwecke und
die Aristokratie gedacht war, während das Volk billiges Geschirr aus dem
haushaltsüblichen braunen Ton verwendete, wovon reichlich Museumsexponate
aus der gleichen Periode zeugten. Entschädigt wurde ich auch durch die
reichhaltige Sammlung der großartigen bemalten Seidenrollen mit den
klassischen Blumenmuster, die sog. „4
Gentlemen” (= Pflaumenblüte, Orchidee,
Chrysanthemen und Bambus), wobei gerade Bambus-Zeichnungen nicht nur wegen
ihrer ausdrucksvollen Zartheit früher besonders beliebt waren. Bambus ist
für den Asiaten eine romantische Pflanze, das Rauschen der
Bambusblätter im Wind ist die richtige Untermalung für die zeitweise
schweigsam-melancholische Stimmung Ostasiens. Die begleitende Erläuterung,
dass die ostasiatische Kalligrafie als Versuch zu verstehen ist, aus dem
„alten etwas Neues zu kreieren, ohne das Gesetz zu
brechen”, fand ich recht typisch für das asiatische
Verständnis. Ein guter Hinweis an unsere heutigen Künstler im Westen,
in Anbetracht der Werke, die sie zustande bringen auf ihrer Suche nach
Neuem!
Auf ihr neues Nationalmuseum sind die Koreaner nicht ohne Grund
stolz. Der durchdachte Aufbau und die große Sammlung ostasiatischer Kunst
sind zweifellos beeindruckend. Eine kleine Tonstatuette aus Khotan (2. – 3. Jh.) habe ich darunter
mit Vergnügen registriert, die eine Verbindung von Serapis mit Harpocrates (!)
sein soll. Sollte es denn einen mir unbekannten griechischen Mediziner dieses
Namens gegeben haben?
Einen Hinweis, den ich aus den im Museum angeführten
Interpretationen der buddhistischen Periode entnommen habe, möchte ich
hier kurz anführen, weil mir die Vorstellung originell und sympathisch
erschien:
Nach dem buddhistischen Glauben soll die untere Welt aus Himmel,
Erde, der Hölle der hungernden Geister, der Tierwelt und der Welt der
Menschen bestehen. Im Museum sind Exponate aus einem buddhistischen Tempel
aufgestellt und ein Schrein des Höllengottes Ksitigarbha wird erwähnt. Er sei jemand, der sich
verpflichtet hat, in der Hölle zu bleiben, um die Geister der Hölle
solange zu beschimpfen, bis es unter den Menschen „keine Leidenden mehr
gibt”! So habe ich es zumindest verstanden. Ein bemerkenswerte
Idee, die mir bis heute völlig entgangen war. Beim stillen Betrachten des
Schreins kam mir flüchtig der Gedanke, ob es auch in der modernen
medizinischen Welt, die teilweise einer Hölle gleicht, sinnvoll wäre,
einen Ksitigarbha-Geist zu haben, der solange die Verantwortlichen peinigt, bis die Medizin sich
wieder auf ihre Mission besinnt und sich wieder dort findet, wo sie
ursprünglich war und wo ihre eigentliche Aufgabe liegt, nämlich im
Dienst am kranken Menschen.
Kurzer Ausblick
Kurzer Ausblick
Die Reise nach Seoul war das Wiedersehen mit einer alten Kultur, die
in die Postmoderne eingebrochen ist und beim Kampf mit der Globalisierung und
ihren Folgen auf verlorenem Posten steht. Beim diesjährigen Weltkongress
und all seinen Sitzungen, Zeremonien und sonstigen Abläufen gewann ich den
Eindruck, dass die Medizin, so auch unser Fach, zur Zeit eine
Übergangsperiode durchmacht, in der die derzeitigen Akteure sich selbst
nicht im Klaren darüber sind, was man als echten Fortschritt aufnehmen,
aufrecht erhalten und weiterentwickeln soll, und was eine Fehlentwicklung ist,
die man am besten sofort unter den Tisch fallen lässt. Viele neue
Medikamente, medizinische Apparate und Techniken, die relativ schnell auf den
Markt kommen, werden auch schnell als „Pionierleistungen”
gepriesen, obwohl sie in der kurativen Praxis nach kritischer Abwägung
nicht unverzichtbar, viele davon eher unnütz sind. Vergleichsweise sind
die bisherigen Behandlungsmethoden in gleicher Weise wirksam, wenn man sie
beherrscht, vielleicht etwas langsamer, dafür umso sicherer. Die Zulassung
der meisten neuen, sogenannten „innovativen” Medikamente wird
offenbar mit Hilfe wohlwollender Gutachten von Wissenschaftlern, z. T.
auch Ärzten, ermöglicht, die von den Industrievertretern geschickt
mit „an Bord” genommen wurden oder aus eigener Leichtfertigkeit
dort hineingeraten sind.
Wenn man sich mit jüngeren Kollegen unterhält, die
teilweise an verantwortlichen Gremien beteiligt sind oder dort
maßgeblichen Einfluss haben, merkt man ihre Unsicherheit. Manche
spüren ein eigenes Unbehagen über diese Zustände, was aber
nichts daran ändert, dass sie dem herrschenden Trend widerspruchslos
folgen und vieles als „Fortschritt” preisen, was diesen Namen bei
kritischer Abwägung nicht verdient. Auch erfahrene Fachvertreter sind
mitunter von der Schnelligkeit neuer Entwicklungen und der massiven Werbung
überwältigt, und verkünden ihre ehrliche Überzeugung, dass
letzten Endes alles unserem Fach zugute käme. Das kritische, dringend
notwendige Abwägen und Abfiltrieren des überbordenden Datenflusses
scheinen sie der Einfachheit halber der Zukunft zu überlassen. So ist es
sicherlich bequemer.
Wenn man sich da nicht gewaltig täuscht …
Hinweis: Überarbeitete Fassung vom
21. 9. 2011