Anschläge mit hochprozentiger Säure werden in Kambodscha – wie auch in anderen süd-
und südostasiatischen Ländern – vergleichsweise häufig beobachtet. Meist handelt es
sich um Rache- bzw. Vergeltungsakte für ein tatsächlich oder vorgeblich erlittenes
Unrecht.
Was ist technisch unter einem Säureanschlag zu verstehen? „Ein vorsätzlicher Angriff
auf ein Individuum in Form des Werfens, Schüttens oder sonstigen Applizierens von
Säure oder anderen korrosiven Substanzen mit dem Ziel, ernsthaft zu verletzen, zu
entstellen, zu foltern oder zu töten” [1]. Die Konsequenz einer derartigen Attacke ist für das Opfer in aller Regel katastrophal:
Falls sie nicht zum Tode führt, verändert sie radikal die Perspektive eines Lebens,
welches fortan oftmals „einer nie enden wollenden Folter” [2] gleicht. Das Resultat eines Säureanschlages ist insofern besonders gravierend als
sich die Säure in kürzester Zeit durch Haut, Muskeln, Knorpel und selbst Knochen hindurchfrisst,
ein Vorgang, der mit qualvollen Schmerzen verbunden ist und der Überlebende in aller
Regel physisch und psychisch schwer geschädigt sowie sozial isoliert und stigmatisiert
hinterlässt.
Die Konsequenzen eines Säureanschlags führen jedoch über das persönliche Schicksal
eines Betroffenen hinaus und reichen ganz allgemein bis weit hinein in Fragen der
medizinischen Versorgung, der sozialen Sicherung, des Strafrechts und schließlich
der Mentalität einer Gesellschaft, in welcher solche Verbrechen begangen werden.
Opfer sind in Kambodscha (im Unterschied zu anderen Ländern, in denen ganz vorwiegend
Frauen betroffen sind) Männer und Frauen ungefähr zu gleichen Teilen. Etwa ein Drittel
der Betroffenen hat mit der Intention des Anschlages jedoch gar nichts zu tun: Hier
handelt es sich um Personen, die zufällig in der Nähe stehen, um Irrtümer auf Seiten
des Täters oder – besonders tragisch – um Kinder auf dem Arm eines angegriffenen Erwachsenen.
Die Gründe einer derartigen Attacke können vielfältig sein. Während es sich in muslimischen
Ländern sehr oft um die Vergeltung eines Mannes für tatsächliche oder angebliche Untreue
seiner Frau, Tochter oder Schwester handelt, spielen in Kambodscha unterschiedliche
Motive eine Rolle. Meist handelt es sich um innerfamiliäre Emotionen wie Hass, Ärger,
Eifersucht oder Vergeltung, welche diese spezielle Form der häuslichen Gewalt bedingen.
Aber auch geschäftliche Konflikte oder Streitigkeiten über Immobilien können Auslöser
eines Anschlages sein [3]. In nicht wenigen Fällen bleibt die auslösende Ursache unklar, sei es, weil das
Opfer nicht weiß, warum es angegriffen wurde, sei es, weil es nicht darüber sprechen
möchte. Scham, Unsicherheit, Unbehagen im Umgang mit Polizei und Justiz sowie Angst
vor einem Folgeanschlag lassen nicht wenige Betroffene davor zurückschrecken, auf
Klärung zu drängen.
Hochprozentige Säure stellt in Kambodscha eine viel verwendete, leicht erhältliche
und billige Substanz dar: Schwefelsäure wird für Autobatterien gebraucht, Salpetersäure
wird von Gold- und Silberschmieden verwendet und Salzsäure ist ein notwendiger Stoff
in der Latexproduktion [1]. Kaum verwunderlich ist es daher, dass die höchste Zahl von Säureanschlägen aus
jenen Provinzen gemeldet wird, in denen Kautschuk verarbeitet wird. Säure kann in
Kambodscha völlig legal und ohne jegliche Beschränkung gekauft, transportiert und
verwendet werden. Gesetzliche Initiativen, den Erwerb hochprozentiger Säure zu reglementieren,
wurden von Opferverbänden mehrfach angeregt, sind bislang jedoch im Dickicht der kambodschanischen
Gesetzgebung stecken geblieben.
Der unmittelbare Effekt des Kontaktes mit Säure wird beschrieben als relativ unspezifisches
Gefühl der Nässe und des Brennens auf der Haut. Bereits nach fünf Sekunden setzt eine
Verätzung des oberflächlichen Gewebes ein; nach einer halben Minute ist die Haut unwiderruflich
schwer geschädigt [4]. In aller Regel ist das Gesicht primäres Ziel der Attacke und hier kommt es zu den
gravierendsten Einbußen: Augenlider, Ohren und Lippen schmelzen oftmals in kürzester
Zeit bis zur Unkenntlichkeit, während Nasenlöcher, Gehörgänge und Atemwege verkleben.
Die Haut von Rumpf und Extremitäten wird durch herunterlaufende und abtropfende Säure
verätzt. Zügige Erste Hilfe kann die Schwere der Verletzungen deutlich reduzieren,
aber Hilflosigkeit, Verwirrung und Angst vor dem Angreifer führen meist zu lähmender
Untätigkeit auf Seiten der Zeugen eines Anschlages, während das Opfer selbst in seinem
Schrecken kaum einen klaren und zielgerichteten Gedanken zu fassen vermag.
In aller Regel führen Attacken mit hochkonzentrierter Säure daher zu schwerwiegenden
und bleibenden Behinderungen. Dabei kann es sich neben der erheblichen funktionell-ästhetischen
Beeinträchtigung durch chronische Ulzera, Narben, Keloide und Poikilodermie der Haut
um die Einbuße oder schwere Schädigung des Seh- und Hörvermögens, den permanenten
Verlust von Haaren, Augenbrauen und Wimpern sowie um Kontrakturen, insbesondere im
Bereich der Arm- und Fingergelenke, handeln.
Erschwert wird die Lage in Kambodscha durch ein weithin unzureichend organisiertes,
fachlich wenig kompetentes und technisch-apparativ völlig unterversorgtes Medizinwesen.
Der im Rahmen einer Säureverätzung erforderliche rasche interdisziplinäre Ansatz von
Verbrennungsspezialisten, Intensivmedizinern, plastischen Chirurgen, Ophthalmologen,
Dermatologen und Psychologen stellt schon für ein Land mit entwickelter medizinischer
Infrastruktur eine Herausforderung dar – in Kambodscha ist er derzeit noch nicht einmal
ansatzweise vorhanden. Hinzu kommt die Notwendigkeit der sich an die Akutbehandlung
anschließenden jahrelangen physischen und psychischen Rehabilitation, welche unter
Drittwelt-Bedingungen nicht geleistet werden kann. Besonders dramatisch ist die Situation
bei Kindern, deren Wachstum wesentlich höhere Anforderungen an die Quantität plastisch-operativer
Maßnahmen stellt, als dies bei Erwachsenen der Fall ist [5]. Einige wenige Betroffene suchen Behandlung in umliegenden Ländern mit entwickelterer
medizinischer Infrastruktur oder in Einrichtungen der medizinischen Spitzenversorgung
wie etwa in Singapur oder Australien, aber der übergroßen Mehrheit der Patienten bleiben
diese Optionen aus finanziellen Gründen versagt.
Über die körperliche Problematik hinaus sind Überlebende in der Regel mit erheblichen
psychologischen, emotionalen and sozialen Folgen konfrontiert. Hierfür sind u. a.
verantwortlich:
-
der Anschlag selbst mit seiner traumatisierenden Erfahrung des Schmerzes, des Schreckens,
der Angst und Hilflosigkeit,
-
die Erkenntnis der kostspieligen Abhängigkeit von meist inadäquater ärztlicher Versorgung
und daraus resultierender unzureichender körperlicher Besserung und finanzieller Verarmung,
-
die Wahrnehmung, erotisch zerstört zu sein und vom Partner verlassen zu werden bzw.
keinen Partner zu finden (wie in zahlreichen anderen asiatischen Ländern ist es in
Kambodscha ein Zeichen von Minderwertigkeit, unverheiratet zu sein),
-
durch körperliche Behinderung bzw. ästhetische Beeinträchtigung bedingte Stigmatisierung
und der damit verbundene Ausschluss aus der Gemeinschaft,
-
die Scham für den Umstand, ein wenig produktives Mitglied der Gesellschaft und somit
auf die finanzielle Unterstützung anderer angewiesen zu sein.
Aus dieser massiven Belastung entstehen bei vielen Betroffenen quälende psychosomatische
Symptome wie Kopfschmerzen, Herzrasen, Unruhe und Schlaflosigkeit. Die resultierenden
Rückzugstendenzen können eine anhaltende depressive Verstimmung bis hin zur manifesten
Depression und bis zum Suizid zur Folge haben.
Das bei den meisten Opfern vorherrschende Gefühl ist Angst: Angst vor der künftigen
Lebenssituation, der Notwendigkeit anhaltender und kostspieliger medizinischer Behandlung,
Angst vor dem Täter, vor weiteren Racheakten – kurz: Angst vor der Welt außerhalb
des engsten Freundes- und Familienkreises. Nicht selten vertreten Außenstehende, insbesondere,
wenn es sich bei der Geschädigten um eine Frau handelt, die Ansicht, dass der Anschlag
schon einen Grund gehabt haben wird und dass das Opfer selbst nicht ganz unschuldig
an dem ihm zugefügten Unrecht sein kann.
Diese Haltung ist mit einem in Kambodscha (übrigens nicht nur im Bereich von Säureanschlägen)
weit verbreiteten Phänomen assoziiert: Straflosigkeit. Meist entgehen Täter der Anklage
und Bestrafung, weil ein Anschlag mit Säure im öffentlichen Bewusstsein nicht wirklich
als Kapitaldelikt wahrgenommen wird [3], es insofern dem Opfer überlassen ist, ob es strafrechtliche Verfolgung anstrebt
oder nicht. Die vielfach aus bildungsfernen und finanziell schwachen Schichten stammenden
Betroffenen verfügen meist jedoch nicht über die Kenntnisse, die Verbindungen und
die finanziellen Mittel, um eine polizeiliche Anzeige, anwaltliche Vertretung und
gerichtliche Aufarbeitung der Tat anzustreben. Hinzu kommt die Angst vor der Rache
des Verursachers. Täter erreichen es nicht selten, eine strafrechtliche Verfolgung
durch Drohungen an die Adresse des Betroffenen und Bestechung von Polizei und Justiz
zu blockieren. Insbesondere reiche und politisch oder gesellschaftlich einflussreiche
Täter werden in aller Regel von einer weithin unterqualifizierten, desinteressierten
und beeinflussbaren Justiz noch nicht einmal ansatzweise belangt [6]. In Fällen, in denen es doch zur Anklage kommt, werden Täter meist mit völlig inadäquaten
Geld- oder Haftstrafen belegt. Insofern ist ein Vertrauen der Betroffenen in die zuständigen
staatlichen Organe kaum gegeben.
Auf wiederholtes Drängen von Nichtregierungs-Organisationen, Menschenrechtsgruppen
und Opferverbänden wurde von den verantwortlichen Behörden nachdrücklich eine verbesserte
Gesetzgebung zur konsequenteren Verfolgung von Säureattentätern gefordert, entsprechende
Initiativen scheinen (im Gegensatz etwa zu Bangladesch) in Kambodscha jedoch bislang
keine vorrangige Priorität zu haben.
Abb. 1 Akute Säureverätzung, Z. n. Débridement (© Dr Jim Gollogly, Children’s Surgical Center, Phnom Penh, Kambodscha).
Abb. 2 Säureverätzung nach sechs Monaten: erheblicher Verlust des Kopfhaares, ausgeprägte
Keloidstränge, Sklerosierung und Verziehung des linken Ober- und Unterlides (© Dr Jim Gollogly, Children’s Surgical Center, Phnom Penh, Kambodscha).
Abb. 3 Säureverätzung nach einem Jahr: partieller Verlust des Kopfhaares, Kontraktur des
Ellenbogens, Keloidstränge, Poikilodermie (© Dr Jim Gollogly, Children’s Surgical Center, Phnom Penh, Kambodscha).
Abb. 4 Säureverätzung nach zwei Jahren: Verlust des rechten Auges, Trübung der linken Hornhaut,
weitgehender Verlust der Nase, Hyperpigmentierung der Haut. Z. n. chirurgischer Rekonstruktion
der Oberlippe (© Dr Jim Gollogly, Children’s Surgical Center, Phnom Penh, Kambodscha).