Immer wieder beschäftigen Streitfragen um den Einsatz von Medikamenten außerhalb ihrer
Zulassung – Off-Label – die Gerichte. Der Jurist und Arzt Professor Alexander P.F.
Ehlers erklärt wegweisende Urteile und gibt Beispiele, wann Ärzte Off-Label auf Kassenrezept
verordnen müssen – und wann sie das nicht dürfen.
? Herr Professor Ehlers, in einer "Maischberger"-Talkshow Ende März in der ARD berichtet
ein Patient mit Lungenhochdruck, wie seine Ärzte zwar überzeugt sind, dass er das
für seinen Fall nicht zugelassene Medikament Sildenafil benötigt. Auf Kassenrezept
verschreiben sie es ihm trotzdem nicht – aus Angst vor Regressforderungen. Stattdessen
müht sich der Betroffene seit Monaten um eine Kostenübernahme durch seine Krankenkasse.
Handeln die Ärzte richtig?
Den konkreten Fall kann ich nicht beurteilen. Grundsätzlich ist es aber allein Sache
des Arztes zu entscheiden, welches Arzneimittel er einem Patienten verordnet. Damit
entscheidet er auch über den Einsatz eines nicht zugelassenen Medikaments, einen Off-Label-Use.
Der Arzt trägt die Verantwortung, die Haftung und auch ein mögliches Regress-Risiko
seiner Therapie.
? Stattdessen landen aber viele Patienten in einer Art Pingpong. Auch in diesem Fall
hatte die Kasse den Patienten an seinen Arzt zurück verwiesen, der müsse eben entscheiden,
ob er verordnet oder nicht. Sie betonte aber wohl zugleich, dass sie die Kosten am
Ende nicht trägt. Noch einmal die Frage: Wer hat den Schwarzen Peter?
Wenn Sie so wollen, der Arzt. Wenn ein Arzt zur Einschätzung gelangt, dass sein Patient
ein Arzneimittel benötigt, dann darf er ihn nicht zur Kasse schicken, um sich dort
nach der Kostenübernahme zu erkundigen. Das könnte gegebenenfalls sogar zu einem Disziplinarverfahren
führen.
Der Arzt muss im Rahmen des 5. Sozialgesetzbuchs und der untergesetzlichen Normen
entscheiden: Braucht mein Patient dieses Mittel aus medizinischen Gründen und ist
es zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig? Ist seine Antwort
in beiden Fällen ja, dann muss er auf Kassenrezept verordnen. Grundsatz ist zugleich
zunächst mal, dass jeder Patient Anspruch auf Arzneimittel hat, die zugelassen sind.
? … nach dem Arzneimittelgesetz, AMG. Die Behörden prüfen den Wirkstoff vor Zulassung
auf therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit alias Sicherheit.
Ja. Diese Medikamente sind dann auf jeden Fall zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung
erstattungsfähig. Ausnahme: Es gibt durch den Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA Therapieausschlüsse
oder -einschränkungen, die sich in der Arzneimittelrichtlinie nachlesen lassen (Anm.
Red. http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/3/). Der G-BA hat z. B. Sildenafil (Viagra) bei Potenzproblemen von der Erstattung ausgenommen.
In dem Fall kann ein Arzt das Mittel nur auf Privatrezept verordnen.
? Und der Patient muss die Kosten tragen?
Er kann seine Krankenkasse fragen, ob sie die Kosten nicht doch übernimmt. Tut sie
es nicht, kann der Patient sozialrechtlich dagegen vorgehen und klagen. Wie hoch die
Erfolgsaussichten im Einzelfall sind, lässt sich nicht generell beurteilen.
? So lange ein Arzneimittel also für eine Indikation nach AMG zugelassen ist, der
G-BA es nicht ausschließt, kann der Arzt auf Kasse verordnen – fertig.
Nicht ganz, denn er muss auch noch das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten. Medizinische
Leistungen müssen immer ausreichend, zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich sein.
Dies unter Berücksichtigung von Qualität, Humanität und Fortschritt in der Medizin.
So ist es in den Paragrafen 2, 12 und 70 des 5. Sozialgesetzbuchs verankert.
? Geht das etwas konkreter?
Nehmen wir an, Sie hätten ein Originalpräparat und ein günstigeres Generikum mit gleichem
Wirkstoff. Dann sind in der Regel nicht beide zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung
verordnungsfähig, weil das Originalpräparat teurer ist.
? Zurück zum Off-Label-Use: Warum gibt es ihn überhaupt? Der Arzt könnte doch einfach
nur das verschreiben, was nach AMG zugelassen ist. Damit ist er auf der sicheren Seite.
Nein, überhaupt nicht. Dagegen steht die Therapiefreiheit und Therapiehoheit des Arztes.
Er muss den Stand der Wissenschaft genau prüfen, schauen, wovon sein Patient profitieren
könnte – und dabei geht es um alle Wirkstoffe, die überhaupt für irgendeine Indikation
eine Zulassung haben. Dahinter liegt zivilrechtlich die berühmte Aciclovir-Entscheidung
des Oberlandesgerichts Köln aus dem Jahr 1990.
? Worum ging es?
Die Ärzte eines Krankenhauses waren bei einem Kind mit einer schweren Herpes-Enzephalitis
mit zugelassenen Arzneimitteln nicht erfolgreich. Für das antivirale Medikament Aciclovir
gab es zwar in der Literatur Hinweise auf einen Nutzen, aber es war in dieser Indikation
nicht zugelassen. Daher haben die Ärzte das Mittel erst sehr spät verordnet. Nach
Meinung der klagenden Eltern zu spät – das Kind behielt dauerhafte Lähmungen. Das
OLG Köln hat hier rechtskräftig entschieden, dass die fehlende Zulassung kein Argument
war und die Ärzte zu spät behandelt haben. Die Möglichkeit eines Off-Label-Einsatzes
steht dem Arzt aufgrund der Therapiefreiheit eben zu, ist damit womöglich auch seine
Pflicht.
Mitunter kann darin sogar der medizinische Standard bestehen.
? Wann?
Ein häufiger Fall ist, wenn die Daten einer Phase-III-Studie für eine Zulassung bereits
zeigen, dass eine Substanz hochpotent gegen eine Erkrankung ist, sie aber noch nicht
zugelassen ist. Dann muss der Arzt gegebenenfalls trotzdem verordnen. Oder Studien
zeigen, dass ein Mittel bei Krankheiten helfen könnte, für die ein Hersteller die
Zulassung gar nicht anstrebt. Im Bereich der Onkologie bewegen sich v. a. aus diesen
Gründen bis zu 80% aller Verordnungen im Off-Label-Bereich. Auch die Kinderheilkunde
kämpft oft mit dem Problem.
Dr. iur. Dr. med. Alexander P.F. Ehlers ist Fachanwalt für Medizinrecht und Facharzt
für Allgemeinmedizin. Der gebürtige Berliner (Jahrgang 1955) ist Mitinhaber der Münchener
Anwaltssocietät Ehlers, Ehlers und Partner. Zugleich hat er diverse Lehraufträge an
Hochschulen, ist Mitglied zahlreicher Aufsichtsräte von Firmen und des Wehrmedizinischen
Beirats im Bundesverteidigungsministerium.
? Ein Arzt muss damit auf seinem Fachgebiet auch über das Phase- III-Studiengeschehen
Bescheid wissen?
Ja.
? Und wie wägt der Arzt ab, dass er an Stelle eines Therapiestandards besser ein Off-Label-Mittel
verordnet?
Diese Frage stellt sich so nicht. Erst wenn ein Patient auf den herkömmlichen Therapiestandard
nicht anspricht, dieser wegen zu großer Nebenwirkungen nicht infrage kommt, oder es
gar keine zugelassenen Mittel gibt, kommt ein Off-Label-Use in Betracht. Dann aber
kann dies sogar verpflichtend sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
im Nikolaus-Urteil vom 6. Dezember 2005 festgeschrieben.
? Können Sie es erläutern?
Es ging um einen Patienten mit Duchenne‘scher Muskeldystrophie. Auch die Schulmedizin
kennt kein Mittel gegen dieses tödliche Leiden. Der Patient wünschte eine immunbiologische
Behandlung, nebst homöopathischer Mittel und Bioresonanztherapie, doch die Kasse bezahlte
nicht. Das Bundessozialgericht, BSG, wies die Klage des Patienten ab. Das BVerfG aber
vollzog einen Schwenk: Die Kosten solch einer Behandlung, so die Verfassungshüter,
müssten sehr wohl von der Kasse getragen werden, wenn die Behandlung auch nur eine
"auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens
auf eine spürbar positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf" verspreche. Und zwar
immer dann, wenn es um eine lebensbedrohliche oder tödlich verlaufende Erkrankung
geht und eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung
nicht zur Verfügung steht.
? Dann könnten oder müssten Ärzte allen schwerkranken Patienten am Ende sogar esoterischen
Quackquack zulasten der GKV verordnen?
Es gibt eine Diskussion um diese Frage. Klar ist: Es kommt immer auf den Einzelfall
an. Das Bundessozialgericht hat die Entscheidung des Verfassungsgerichts seit 2006
in weiteren Urteilen konkretisiert. Und dabei wieder stärker die Rolle wissenschaftlicher
Evidenz betont.
? Also doch harte Daten auch für eine Off-Label-Therapie?
Ja. Das BSG fordert sehr klar, dass die Datenlage schon eine begründete Aussicht hergeben
muss, dass von dem betreffenden Präparat ein heilender oder zumindest ein palliativer
Behandlungserfolg auf die Krankheit ausgeht. Zumindest einen wissenschaftlichen Konsens
unter den Experten muss es geben.
? Esoterische Therapien Off-Label zulasten der Kasse wären danach doch nicht möglich?
So ist es, die Entscheidungen des BSG sind für uns da schon sehr nahe liegend.
? Wie viele Ärzte kennen sich mit dem Thema Off-Label aus?
Ich schätze, dass nur eine kleine Minderheit der Entscheidungen wirklich falsch ist.
Wenn, dann ist in der Tat, wie eingangs besprochen, die fehlende Übernahme der Therapieentscheidung
ein Hauptfehler. Weil die Off-Label-Verordnung womöglich zu Regressforderungen der
Kasse führt, ist es tatsächlich so, dass manche Ärzte aus Angst fälschlicherweise
ein Privatrezept ausstellen. Und dann ihrem Patienten empfehlen, dies bei ihrer Kasse
zur Erstattung einzureichen. Ein Arzt kann aber gar nicht von der Kasse verlangen,
dass diese auf Regress verzichtet.
? Kennen Sie denn Fälle, wo Ärzte wirklich finanzielle Probleme bekommen haben durch
Regressforderungen?
Wer gut dokumentiert hat, wer weiß, warum er etwas macht, und die Voraussetzungen
einer Off-Label-Verordnung genau analysiert hat, dem passiert in der Regel gar nichts,
selbst wenn es ein Verfahren gibt. Die wenigen Fälle, die ich kenne, wo es negativ
für den Arzt ausging, da lagen die Voraussetzungen für den Off-Label-Use tatsächlich
nicht vor.
? In der Praxis wird, ein Seitenthema, längst heimlich rationiert: Was ist mit einem
Krankenhaus, das einer Patientin das für Brustkrebs zugelassene Präparat Trastuzumab
(Herceptin) erst nach mehrfacher Nachfrage verordnet und wo Ärzte dann hinter vorgehaltener
Hand sagen, das könnten sie eigentlich wegen der hohen Kosten nicht machen.
Die Ärzte handeln falsch, wenn das Mittel medizinisch notwendig ist.
? Wer haftet bei Nebenwirkungen unter Off-Label-Use?
Der Arzt. Grundsätzlich deckt seine Berufshaftpflichtversicherung das auch ab. Konkrete
Fälle, zumal juristische Auseinandersetzungen dazu, sind mir aber nicht bekannt. Unter
bestimmten Voraussetzungen kann daneben aber auch eine Haftung des Herstellers in
Betracht kommen.
? Ist am Ende ein Fehler in der Gesetzeslage der Grund für die sehr heikle Schnittstelle
Off-Label-Use? Zwei Gesetze, Arzneimittel- als auch Sozialgesetz legen Regeln zwischen
medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit fest, die nicht immer deckungsgleich
sind.
Ich glaube, dass man diese Schnittstelle nie zu 100% beseitigen kann. Wir brauchen
die Prüfung von Medikamenten vor der Zulassung. Seit Contergan versuchen wir, völlig
richtig, die Arzneimittelsicherheit kontinuierlich zu erhöhen. Andererseits entwickelt
sich die Medizin sehr schnell und es werden immer wieder neue Indikationen für bereits
zugelassene Arzneimittel entdeckt. Allerdings darf ein Hersteller einen Off-Label-Use
nicht indirekt auch noch unterstützen und so eine nötige Zulassung quasi umgehen.
? Es gibt zugleich den großen Bereich der seltenen Erkrankungen, wo mangels Gewinnaussichten
kaum ein Hersteller die Investition für einen Zulassungsantrag aufwenden will.
Korrekt, das ist die Freiheit des Herstellers. Es gäbe hier, allerdings rein theoretisch,
die Möglichkeit einer Zwangszulassung von Staats wegen. In Großbritannien wurde das
mehrfach angewendet, in Deutschland ist das reine Theorie.
? Die Augenheilkunde kennt seit Jahren ein besonderes Problem. 2007 bekam Novartis
die Zulassung für Ranibizumab (Lucentis), das vielen Patienten mit feuchter Makuladegeneration
helfen kann. Der bis dahin von vielen Ärzten praktizierte Off-Label-Einsatz des Krebsmedikaments
Bevacizumab (Avastin) fand aber oft weiter statt, zumal das Mittel, entsprechend portioniert,
zu einem Bruchteil der Kosten zu haben ist …
Die Sache ist ganz klar: Wenn Sie ein zugelassenes Arzneimittel für eine Indika-tion
haben, können sie ein ähnliches, aber nicht zugelassenes Mittel nur noch in Ausnahmefällen
Off-Label einsetzen.
? Wäre ein Fachgremium, das den Off-Label-Einsatz von Medikamenten bundesweit verbindlich
klärt, eine Lösung?
Es gibt Gremien dazu beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, deren
Empfehlung Eingang in die Arzneimittelrichtlinie des G-BA finden (Anm. Red. Anlage
VI zum Abschnitt K listet "verordnungsfähige" Off-Label-Mittel in der Onkologie –
http://www.g-ba.de/downloads/83-691-175/AM-RL-VI-Off-label-2010-03-12.pdf) Völlige Einstimmigkeit gibt es auch da nicht.
Und selbst wenn ein Arzneimittelunternehmen für jede denkbare Indikation eine Zulassung
beantragen würde, wird es nicht vermeidbar sein, weiterhin Fälle vor Gericht zu diskutieren.
Auch weil sich manche Patienten in ihrer Not tragischerweise an den letzten Strohhalm
klammern werden. Das Thema Off-Label bleibt uns erhalten.
Das Interview führte Dr. Bernhard Epping