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DOI: 10.1055/s-0030-1255009
Wissenschaft kommentiert – Arbeitsrehabilitation: Schneller zurück in den Job
Publication History
Publication Date:
21 May 2010 (online)
- Fragestellung
- Hintergrund
- Einschlusskriterien
- Ausschlusskriterien
- Studiendesign
- Intervention
- Ergebnisparameter
- Ergebnis
- Schlussfolgerung
- Fazit
Eine multidisziplinäre, ambulante Arbeitsrehabilitation verkürzt die krankheitsbedingte Fehlzeit von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Die Meinung von Physiotherapeut Markus Ernst zu dieser Studie: gutes Design, wenig Schwächen und ein praxistaugliches Ergebnis.


Markus Ernst, MSc, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften sowie in dem Gesundheitszentrum einer Krankenversicherung. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die muskuloskeletale Reha, vor allem bei Patienten mit chronifizierten Wirbelsäulenbeschwerden.
#Fragestellung
Was ist zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen effektiver: eine spezifische Arbeitsplatzrehabilitation oder die Behandlung durch einen Hausarzt, Arbeitsmediziner und/oder Therapeuten?
#Hintergrund
Bis zu 25 % aller Patienten mit Schmerzen in der LWS bleiben längerfristig arbeitsunfähig. Aufgrund von Produktivitätseinbußen, Therapien und frühzeitigen Berentungen verursachen sie hohe Kosten [1]. Interventionen, um die Betroffenen wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren, scheitern häufig. Die Gründe dafür liegen einerseits in der Vielschichtigkeit des Krankheitsbilds und andererseits in der oft monodisziplinären Vorgehensweise bei der Therapie [1].
Trainingsprogramme mit allmählicher Belastungssteigerung und dem Ziel, die körperlichen Funktionen wiederherzustellen, helfen Patienten mit akuten Rückenschmerzen nicht, wieder arbeitsfähig zu werden [1]. Auch mit kognitiven Verhaltenstherapien alleine scheint man die Arbeitsfähigkeit nicht beeinflussen zu können [1]. Arbeitsplatzspezifische Interventionen wirken sich zwar positiv auf die Arbeitsfähigkeit von Patienten mit muskuloskeletalen Beschwerden aus, aber nicht auf deren Schmerzen und Funktionseinschränkungen [2]. Mit anderen Worten: Die Patienten gehen wieder arbeiten, obwohl sie noch Beschwerden haben.
Die Autoren dieser Studie untersuchten, wie sich die Kombination aus einer ergonomischen Arbeitsplatzintervention und einem kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierten Trainingsprogramm auf die Arbeitsfähigkeit von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen auswirkt.
#Einschlusskriterien
Teilnehmen konnten Patienten, die entweder angestellt oder selbstständig waren. Sie mussten seit mindestens zwölf Wochen unter unspezifischen Rückenschmerzen leiden und deswegen ganz oder teilweise krankgeschrieben sein.
#Ausschlusskriterien
Ausgeschlossen waren unter anderem Patienten, die unter spezifischen Rückenschmerzen litten (Tumor, Entzündung), eine OP geplant oder in den vergangenen sechs Wochen eine Rücken-OP gehabt hatten. Ebenfalls nicht teilnehmen konnten Betroffene, die nur eine befristete Anstellung hatten, über eine Zeitarbeitsfirma vermittelt werden sollten, seit mehr als zwei Jahren arbeitslos waren oder gegen ihren Arbeitgeber geklagt hatten.
#Studiendesign
Randomisierte kontrollierte Studie mit verblindetem Untersucher. Die Randomisierung wurde für wichtige prognostische Faktoren stratifiziert: Die Autoren verteilten die Patienten anhand der Dauer ihrer Arbeitsunfähigkeit und ihrer Arbeitsbelastung gleichmäßig auf beide Gruppen.
#Intervention
134 Patienten nahmen an der Studie teil.
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Die „Integrated Care”-Gruppe (IC) erhielt eine rund zwölf Wochen lange, ambulante Rehabilitation, die ein Arbeitsmediziner leitete und ein Arzt, ein Physio- und ein Ergotherapeut unterstützten. Das primäre Ziel der Reha war die Rückkehr zur Arbeit, nicht die Verminderung der Schmerzen. Bei der Intervention betrachtete und optimierte man den Arbeitsplatz der Probanden unter ergonomischen Gesichtspunkten und bezog auch deren Arbeitgeber mit ein. Zusätzlich absolvierten die Teilnehmer ein Trainingsprogramm, das nach kognitiv-verhaltenstherapeutischen Prinzipien durchgeführt wurde. Dabei trainierten sie nicht schmerzorientiert, sondern anhand von vorgegebenen Intensitäten. Das Programm beinhaltete unter anderem Bauchmuskelübungen, Latissimusziehen und individuell ausgesuchte Übungen.
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Standardtherapie war die Betreuung durch den Hausarzt und beinhaltete eine mögliche Überweisung zu anderen Gesundheitsberufen (inklusive Physiotherapie).
Ergebnisparameter
Das wichtigste Outcome war die Zeit bis zur Wiedererlangung der vollständigen Arbeitsfähigkeit (arbeitsfähig für mindestens vier Wochen). Sekundäre Outcomes waren die Schmerzintensität und die anhand des Roland-Morris-Fragebogens festgestellten Aktivitätseinschränkungen der Probanden.
Zudem prüften die Autoren, ob die Arbeitszufriedenheit und -belastung Einfluss auf den Zeitpunkt der Arbeitsrückkehr hatten.
#Ergebnis
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Nach einem Jahr konnte das primäre Outcome bei 93 % der Patienten bestimmt werden, das sekundäre bei 87 %.
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Die IC-Gruppe war nach der Randomisierung im Schnitt 88 Tage arbeitsunfähig, die restlichen Teilnehmer rund 208 Tage.
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Während des ersten Jahres nach der Intervention waren die Probanden der IC-Gruppe für rund 82 Tage krankgeschrieben (inklusive der Krankheitsrückfälle), die Patienten der Standardtherapiegruppe 175 Tage, also doppelt so lang.
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Andere Therapien und diagnostische Abklärungen wurden von der Standardtherapiegruppe häufiger gebraucht und verursachten deutlich höhere Kosten.
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Schmerzintensität und Aktivitätseinschränkungen waren zunächst in beiden Gruppen gleich. Erst nach zwölf Monaten hatte sich die IC-Gruppe gegenüber den restlichen Probanden sowohl klinisch als auch statistisch signifikant verbessert.
Schlussfolgerung
Patienten mit chronischen Rückenschmerzen profitieren von einer multidisziplinären Abreitsreha. Ihre Arbeitsfähigkeit hängt nicht von einer Veränderung ihrer Schmerzen ab. Eine frühe Rückkehr an den Arbeitsplatz beeinflusst die Schmerzen der Betroffenen weder negativ noch positiv.
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Lambeek LC, van Mechelen W, Knol DL, Loisel P, Anema JR. Randomised controlled trial of integrated care to reduce disability from chronic low back pain in working and private life. BMJ 2010; 340: c 350 Die Studie im Volltext finden Sie unter: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.c1035 Die Interventionen stehen dort unter > „extra: Web Extra” > „Data Supplement”.
Kommentar
Die Studie von Ludeke Lambeek und Kollegen untersucht eine arbeitsspezifische Reha erstmals bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Die Intervention fand ambulant statt und ist daher auch aus finanzieller Sicht interessant.
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Die Ein- und Ausschlusskriterien werden klar beschrieben. Die Autoren schlossen unter anderem die Patienten aus, die mehr als zwei Jahre arbeitslos waren, und diejenigen, die sich in einem arbeitsrechtlichen Verfahren mit ihrem Arbeitgeber befanden – also alle, die wahrscheinlich nicht von der Intervention profitieren.
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Die Interventionen sind genau nachvollziehbar und können im Internet detailliert nachgelesen werden.
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Die Studie ist auf den deutschen Sprachraum übertragbar, da Teile des Rehabilitationsprogramms wie das funktionelle Training, rehabilitative Zielvereinbarungen und Arbeitsplatzbesuche auch hier tägliche Praxis sind. Der Arbeitgeber wurde in die Intervention mit einbezogen. Das ist besonders positiv, da dieser enorm wichtig für eine erfolgreiche Reintegration des erkrankten Arbeitnehmers ist.
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Die Probanden waren zu Beginn der Studie in den meisten Basisdaten vergleichbar. Bezüglich des Bildungsniveaus unterschieden sie sich jedoch: 34 % der Patienten in der Kontrollgruppe hatten ein niedriges Bildungsniveau, in der IC-Gruppe waren es nur 21 %. Zudem hatten die Probanden in der IC-Gruppe zu Beginn der Studie eine um 10 % höhere Erwartung, wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können, als die restlichen Probanden. Diese Unterschiede könnten die Ergebnisse verzerrt haben. Die Verteilung der Selbstständigen und Angestellten auf beide Gruppen geben die Autoren leider nicht an. Interessant zu wissen wäre, wie lange die Patienten bereits unter Rückenschmerzen gelitten hatten. Denn zwölf Wochen sind sicher nicht das Gleiche wie zehn Jahre.
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Bei den sekundären Outcome-Messungen wie dem Schmerz und dem funktionellen Status verbesserten sich die Probanden anfangs nur unwesentlich. Erst nach zwölf Monaten hatte sich die IC-Gruppe beim funktionellen Status bedeutend verbessert (im Durchschnitt sieben Punkte im Roland-Morris-Fragebogen) und damit auch einen signifikanten Unterschied zur Kontrollgruppe erzielt.
Fazit
Eine gute Studie mit nur wenigen Schwächen. Die Autoren konnten zeigen, dass Arbeitsrehabilitation sinnvoll ist, um die Betroffenen in der Rückkehr an den Arbeitsplatz zu unterstützen. Der Arbeitgeber sollte möglichst in die Rehabilitation einbezogen werden. Ob Patienten mit anhaltenden Beschwerden durch eine solche Intervention langfristig im Arbeitsprozess gehalten werden können, muss sich noch zeigen. Die Resultate machen deutlich, dass gerade bei so einem komplexen Problem wie der Arbeitsunfähigkeit nur multimodale Ansätze mit Training, Beratung und Verhaltenstraining wirksam sind.


- Literaturverzeichnis