Pünktlich zur Schlafenszeit fangen Säuglinge oft scheinbar grundlos an zu schreien.
„Ganz schön empfindlich!”, denken Eltern gelegentlich dabei. Aber meistens kann die
kleinste Grimasse bereits ein bezauberndes Lächeln bei den Kleinen erzeugen. Man könnte
auch sagen, dass Kleinkinder gut auf die Faxen ihrer Eltern ansprechen. Was aber haben
Empfindlichkeit und Ansprechbarkeit mit Skalen, Assessments und Ergotherapie zu tun?
Empfindlichkeit, Sensitivität, Responsivität oder auch Veränderungssensitivität (engl.:
sensitivity to change) sind Synonyme. Sie beschreiben eine Eigenschaft von Assessments,
nämlich die Fähigkeit, dass Veränderungen messbar sind [1]. Die Sensitivität wird
als Begriff international nicht einheitlich benutzt. Daher existieren Kontroversen
darüber, ob man nicht den synonym benutzten Begriff der Ansprechbarkeit (engl.: responsiveness)
einheitlich verwenden sollte.
Kleine Fortschritte sichtbar machen
Kleine Fortschritte sichtbar machen
Tests, die Verbesserungen von Klienten nicht erfassen können, sind sowohl im therapeutischen
Alltag als auch in der Forschung wertlos. Was nutzt es zu messen, wenn das Assessment
die wichtigen Unterschiede nicht messen kann? Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit
beispielsweise bei Klienten, die sich bereits gut erholt haben, oder bei Klienten,
die kleine Fortschritte während einer Reha machen. Wir wollen deren Leistungsverbesserungen
erfassen, messen und dokumentieren. Um diese kleinen Veränderungen im Verlauf der
Behandlung dokumentierbar zu machen, bedarf es empfindlicher (sensitiver, sensibler)
Messinstrumente. Was aber kennzeichnet einen sensitiven Test?
Alltagsaktivitäten sensitiv beurteilen
Alltagsaktivitäten sensitiv beurteilen
Um beispielsweise zu messen, wie selbstständig ein Klient nach einem Schlaganfall
den Alltag bewältigt, ist der Barthel-Index eine weitverbreitete Messgröße [2]. Er
besteht aus zehn überwiegend motorischen Items, welche die Aktivitäten des täglichen
Lebens messen. Um zum Beispiel die Körperpflege des Klienten zu beurteilen, gibt es
beim Barthel-Index zwei Einstufungen: Der Klient benötigt Hilfe bei der Körperpflege,
oder er kann diese unabhängig ausführen (Tab.). Inwieweit er Hilfe bei der Körperpflege
benötigt, geht aus diesem Test allerdings nicht hervor.
Tab. Eine grobe Einteilung verhindert die genaue Messung von Verbesserungen.
Weil der Untersucher die Leistung eines Klienten nicht genau abstufen kann, können
sogenannte Boden- und Deckeneffekte entstehen [3]. Ein Deckeneffekt tritt dann auf,
wenn der Test für den Klienten zu leicht ist. Beim Barthel-Index kreuzt die Therapeutin
an, dass der Klient die Körperpflege unabhängig durchführt. Wie lange er dafür braucht,
kann sie mit diesem Test allerdings nicht erfassen, weil der Klient die sogenannte
„Testdecke” erreicht hat. Was darüber hinausgeht, kann die Therapeutin mit diesem
Test nicht dokumentieren.
Ein Bodeneffekt beschreibt das Gegenteil: Ein Klient kann bei der Körperpflege anfangs
nicht mithelfen, also benötigt er laut Barthel-Index Hilfe. Der Test kann aber keine
Fortschritte des Klienten erfassen. Solange er Hilfe benötigt, ändert sich die Einstufung
im Barthel-Index nicht. Das heißt also: Dieses Assessment ist nicht sensitiv für Verbesserungen.
Im Vergleich zum Barthel-Index ist der FIM (Functional Independence Measure) ein gutes
Beispiel für einen Test mit einer hohen Sensitivität [4].
Mess-Skala muss fein unterteilt sein
Mess-Skala muss fein unterteilt sein
Der FIM misst wie der Barthel-Index Alltagsfähigkeiten, aber auch Funktionsverbesserungen
(„Functional Independence Measure”). Über eine Bewertungsskala von 1–7 erfolgt eine
Abstufung der Fähigkeiten des Klienten. Der Wert 1 bedeutet totale Hilfestellung,
der Wert 7 steht für völlige Selbstständigkeit. Mittels Abstufungen von 2–6 lässt
sich genau bestimmen, wie viel Hilfe ein Klient benötigt. Somit kann die Therapeutin
auch kleine Fortschritte und Verbesserungen dokumentieren. Der FIM hat dadurch eine
höhere Sensitivität als der Barthel-Index. Das ist eine wichtige, aber seltene Eigenschaft
derzeitiger Assessmentverfahren. Dabei sind es gerade die sensitiven Tests, die es
Ergotherapeuten ermöglichen, die Effektivität ihrer Behandlung nachzuweisen.