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DOI: 10.1055/s-0030-1253650
Wissenschaft kommentiert – Schlaganfall: Beinkrafttraining zwecklos?
Publication History
Publication Date:
21 April 2010 (online)
Das Ergebnis überrascht und widerspricht früheren Studien: Patienten nach Schlaganfall gehen nach einer konventionellen Physiotherapie besser als nach einem Beinkrafttraining. Kirstin-Friederike Heise erklärt in ihrem Kommentar, wie dieses Ergebnis zustande gekommen sein könnte.


Kirstin-Friederike Heise, MSc, ist seit 1996 Physiotherapeutin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt sowohl im wissenschaftlichen als auch im praktischen Bereich der neurologischen Rehabilitation. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Labor für funktionelle Bildgebung und Neurostimulation in der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
#Fragestellung
Was ist zur Verbesserung des Gehens bei Patienten in der Frühphase nach Schlaganfall effektiver: die Kombination aus konventioneller Physiotherapie und einem funktionellem Krafttraining für die untere Extremität oder eine konventionelle Physiotherapie mit erhöhter Therapiezeit?
#Hintergrund
Krafttraining war in der Rehabilitation von Patienten nach Schlaganfall lange verpönt, da es angeblich eine unerwünschte Tonuserhöhung zur Folge hätte. In den letzten Jahren gab es jedoch immer mehr Studien, die zeigten, dass sich Krafttraining der oberen und unteren Extremität positiv auf die körperlichen Funktionen der Betroffenen auswirkt [3, 4, 5]. Die Autoren dieser Studie vermuteten, dass zusätzliches funktionelles Krafttraining sogar effektiver ist als eine konventionelle Physiotherapie mit erhöhter Therapiezeit.
#Einschlusskriterien
Es nahmen Patienten teil, die vor höchstens 13 Wochen einen Schlaganfall erlitten hatten, stationär in einem der an der Studie beteiligten Krankenhäuser aufgenommen und mindestens 18 Jahre alt waren. Außerdem mussten die Probanden die Muskeln der betroffenen unteren Extremität willkürlich anspannen können und kognitiv in der Lage sein, einfache Anweisungen zu befolgen. Eine weitere Voraussetzung war, dass die Patienten vor der Erkrankung – mit oder ohne Gehhilfe – zu Fuß mobil waren.
#Ausschlusskriterien
Nicht teilnehmen konnten Patienten, die bis acht Wochen vor dem Schlaganfall eine orthopädisch oder traumatisch bedingte Einschränkung der unteren Extremität hatten oder unter einer weiteren neurologischen Erkrankung litten.
#Studiendesign
Multizentrische, einfach verblindete, randomisierte und kontrollierte klinische Studie mit Intention-to-treat-Analyse
#Intervention
109 Patienten wurden per Zufall einer von drei Gruppen zugeteilt:
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Gruppe 1 (KPT, n=38): Kontrollgruppe (konventionelle Physiotherapie). Inhalte und Dauer sind anhand eines schematischen Therapieplans standardisiert [1].
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Gruppe 2 (KPT+KPT, n=35): Experimentalgruppe mit zusätzlich vier Stunden konventioneller Physiotherapie pro Woche
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Gruppe 3 (KPT+FKT, n=36): Experimentalgruppe mit konventioneller Physiotherapie und zusätzlich vier Stunden funktionellem Krafttraining pro Woche
Die Gruppen 2 und 3 sollten während des Interventionszeitraums (sechs Wochen) 24 Stunden zusätzliche Therapie erhalten.
Die Grundlage der KPT war nach Aussage der Autoren das Bobath-Konzept. Der Schwerpunkt der Therapie lag vor allem auf der Bewegungsqualität und dem Alignment.
Beim FKT lag der Fokus auf funktionellen Übungen – z. B. konzentrische und exzentrische Beinmuskelaktivität beim Aufstehen und Hinsetzen – und zielgerichteten Aktivitäten. Die Therapeuten steigerten die Übungsintensität systematisch und nutzten vorwiegend verbales Feedback und „Hands-off” Techniken.
#Ergebnisparameter
Die Autoren untersuchten die Patienten vor und nach der Intervention sowie zwölf Wochen später. Als primären Ergebnisparameter wählten sie die Gehgeschwindigkeit (Meter pro Sekunde, m/s) auf einer Strecke von zehn Metern. Die Geschwindigkeit maßen die Forscher mithilfe eines 3D-Bewegungsanalyse-Systems oder mit dem herkömmlichen Zehn-Meter-Gehtest. Letzteres war notwendig, da nicht alle Zentren in erreichbarer Nähe des Bewegungsanalyselabors gelegen waren. Sekundäre Ergebnisparameter waren die alltagsrelevante Gehfähigkeit (Gehen mit mindestens 0,8 m/s) [2] sowie das maximale Drehmoment bei der Kniegelenkextension und -flexion. Außerdem nutzten die Forscher den modifizierten Rivermead Mobilitätsindex, kinematische Parameter wie die Symmetrie der Schrittlänge und die Schrittzeit sowie die gesundheitsbezogene Lebensqualität, gemessen mit dem EuroQuol.
#Ergebnisse
Die Kontrollgruppe hatte rund neun Stunden lang Therapie. Die KPT+KPT-Gruppe sowie die KPT+FKT-Gruppe erhielten insgesamt rund 23 Stunden Therapie.
Alle Probanden verbesserten sich in der Gehgeschwindigkeit und bei den sekundären Ergebnisparametern. Die Gehgeschwindigkeit war nur in Gruppe 2 und nur direkt nach der Intervention signifikant höher als bei der Kontrollgruppe. 35 % der Patienten in Gruppe 2 konnten nach der Intervention mit einer Geschwindigkeit von mindestens 0,8 m/s gehen. Das waren ebenfalls signifikant mehr als in der Kontrollgruppe. Zudem konnten diese Probanden nach der Therapie ein größeres maximales Drehmoment bei der Kniegelenkbeugung erzeugen als die Patienten in Gruppe 1. Die Drop-out-Rate lag nach der Intervention bei 9 % (10 Patienten), nach zwölf Wochen waren es 26 % (18 Patienten).
#Schlussfolgerung
Cooke und Kollegen überraschte das relativ schlechte Abschneiden der Trainingsgruppe. Sie vermuten, dass sowohl die geringe Gruppengröße die Ergebnisse beeinflusst haben könnte als auch die Aktivitäten, die die Probanden zusätzlich außerhalb der Therapie durchgeführt haben.
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Cooke EV, Tallis RC, Clark A et al. Efficacy of functional strength training on restoration of lower-limb motor function early after stroke: phase I randomized controlled trial. Neurorehabil Neural Rep 2010; 24: 88–96
Kommentar
Die Autoren können ihre Hypothese, dass ein zusätzliches funktionelles Krafttraining einen Vorteil gegenüber der konventionellen Therapie hat, nicht bestätigen – obwohl die Patienten in der Krafttrainingsgruppe mehr als doppelt soviel Therapiezeit hatten wie die Probanden in der Kontrollgruppe. Bei KPT+KPT-Gruppe hatte die Erhöhung der Therapiezeit jedoch signifikante Effekte auf die Gehgeschwindigkeit, den Anteil der Patienten, die sich mit alltagsrelevanter Geschwindigkeit zu Fuß fortbewegen können, und die Kraft der Kniegelenkflexoren. Wirklich verblüffend ist, dass trotz mehr als doppelt soviel Therapiezeit in beiden Experimentalgruppen nach drei Monaten kein nachhaltiger Therapieeffekt im Vergleich zur Kontrollgruppe zu sehen ist. Die Autoren waren überrascht, dass man bessere Ergebnisse erzielt, wenn man die Zeit für die konventionelle Physiotherapie erhöht, als wenn man stattdessen Krafttraining durchführt. Denn diese Ergebnisse sind völlig konträr zu vorangegangenen Studien, insbesondere denjenigen, die den Effekt von Krafttraining auf die Funktion der oberen Extremität untersuchten. Die Autoren diskutieren, ob die Messinstrumente nicht spezifisch genug waren und dadurch falsch positive Ergebnisse zustande kamen. Außerdem könnte die hohe Drop-out-Rate beim Follow-up die Ergebnisse beeinflusst haben. Eine Aussage über die Effektivität der untersuchten Interventionen ist daher auf Basis der vorliegenden Daten nicht möglich.
#Statistische Schwächen
Kritisch anzumerken ist, dass die Autoren die Ausgangswerte bei den primären und den sekundären Ergebnisparametern nicht statistisch vergleichen. Sie erwähnen, dass diese innerhalb der Gruppen ausgeglichen seien. Bei genauem Hinsehen unterscheiden sich die Probanden jedoch auffällig bei den Ausgangswerten für die Gehgeschwindigkeit, dem Anteil an Patienten pro Gruppe, die mit ≥ 0.8 m/s gehen, und der Kraft der Kniegelenkflexoren.
Eine brennende Frage ist, wie sich die beiden Experimentalgruppen im direkten Vergleich verhalten. Leider lassen die Autoren diese Frage unbeantwortet, sodass der Leser einen trendmäßigen Unterschied zugunsten der KPT+KPT-Gruppe nur erahnen kann. Das ist schade!
#Messinstrumente nicht optimal
Positiv fällt auf, dass die Autoren die Ergebnisparameter sehr sorgfältig und auf der Basis von klinischer Relevanz und von Vorstudien ausgewählt haben. Allerdings hätte die Aussagekraft dieser Studie davon profitieren können, wenn man die Ergebnisparameter um ein Messinstrument für alltagsrelevante Gleichgewichtsfunktion ergänzt hätte. Denn es gibt einige Hinweise auf den positiven Zusammenhang zwischen Krafttraining – insbesondere der Unterschenkelmuskulatur – und einer verbesserten Gleichgewichtsfunktion [6, 7].
Abschließend bleibt anzumerken, dass die Wahl des EuroQol als Instrument zur Messung der Lebensqualität bei der vorliegenden Population möglicherweise nicht sensitiv genug war. Es wäre zu überlegen gewesen, ob ein eher krankheitsspezifisches Messinstrument für die Selbsteinschätzung der Lebensqualität, wie zum Beispiel die Stroke Impact Scale, sinnvoller gewesen wäre.
#Fazit
Die Untersuchung von Cooke und Kollegen lässt keine Aussagen über die Wirksamkeit und Unwirksamkeit von funktionellem Krafttraining der unteren Extremität bei Patienten im frühen Stadium nach einem Schlaganfall zu. Auch Spekulationen über mögliche Dosis-Wirkung-Beziehungen können aufgrund der hohen Drop-out-Rate zum Nachuntersuchungstermin nicht gemacht werden – obwohl direkt nach der Intervention ein Trend zu „viel mehr hilft viel mehr” naheliegt. Es bleibt der Bedarf an weiteren Untersuchungen zu Inhalten, Intensitäten und zum richtigen Zeitpunkt solcher Interventionen.


- Literaturverzeichnis