Die beiden in der Ausgabe 361 des New England Journal of Medicine veröffentlichten
placebo-kontrollierten Studien zur Vertebroplastie haben für erhebliches Aufsehen
gesorgt. Die Vertebroplastie ist bei der Behandlung osteoporotischer Wirbelkörperfrakturen
nach den Ergebnissen dieser Studien nicht besser als Placebo. Dieser Beitrag analysiert
diese beiden Studien kritisch und bewertet ihre Aussagekraft bezüglich der Behandlung
von Patienten mit osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen in der täglichen Praxis. Buchbinder et al. N Engl J Med 2009; 361: 557-68 und Kallmes et al. N Engl J Med 2009;
361: 569-79
Zusammenfassung
Zusammenfassung
Seit dem 6. August diesen Jahres gibt es sie: Die lang erwarteten placebo-kontrollierten
Studien zur Vertebroplastie bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen [1], [2].
Mit einem nahezu identischen Studiendesign und zeitlich parallel hatten 2 Arbeitsgruppen
die Wirksamkeit der Vertebroplastie bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen mit
diesem sehr aussagekräftigen Studiendesign untersucht.
Transpedikulärer Zugangsweg. Nach Erreichen des Knochens und sicherem Aufsetzen der
Nadel (links) wird bei der Verwendung von schräg geschliffenen Nadeln darauf geachtet,
dass die stumpfe Seite der Nadel während des Weges durch den Pedikel in Richtung Spinalkanal
zeigt (Mitte). Nach Passieren der Wirbelkörperhinterkante wird die Nadel um 180° gedreht,
die spitze Seite der Nadel zeigt nun zur Mitte des Wirbelkörpers (rechts). Dadurch
kann eine zentralere Lage der Nadelspitze im Wirbelkörper erreicht werden (Bild: S.
G. Wetzel, K.E. Wilhelm. Perkutane Vertebroplastie und Kyphoplastie. Radiologie up2date
2006; 3:255-272).
Die Arbeitsgruppe um Buchbinder (Monash University, Malvern, VIC, Australien) hatte
eine randomisierte, doppelt verblindete und placebo-kontrollierte Multicenterstudie
an 78 Patienten durchge-führt [2].
Bei der Placebogruppe wurde der Eingriff in identischer Weise wie bei der Verumgruppe
vorbereitet, eine Lokalanästhesie durchgeführt und eine Vertebroplastiekanüle bis
auf die Lamina des betreffenden Wirbels eingeführt.
Dann wurde jedoch nur mit einem stumpfen Mandrin auf die Laminaoberfläche geklopft
ohne dass die Nadel in den Wirbelkörper eingeführt wurde und PMMA-Zement wurde angemischt
um den typischen Geruch im Raum zu erzeugen.
Die Nachuntersuchungen erfolgten nach 1 Woche und 1 Monat anhand von Schmerz-Scores,
funktionellen und "quality of life"-Scores.
Die Arbeitsgruppe um Kallmes (Mayo Clinic, Rochester, MN, USA) hatte ebenfalls eine
randomisierte, doppelt verblindete und placebo-kontrollierte Multicenterstudie, jedoch
an 113 Patienten durchgeführt [1].
Hier wurde bei der Placebogruppe nur eine Lokalanästhesie durchgeführt, jedoch keine
Vertebroplastiekanüle eingeführt und nicht geklopft; es wurde jedoch Druck auf den
Rücken der Patienten ausgeübt und PMMA-Zement angemischt.
Die Nachuntersuchungen erfolgten nach 3 Tagen, 2 Wochen, 1 und 3 Monaten bezüglich
Schmerzen und anhand von funktionellen, sowie "quality of life"-Scores.
Beide Studien fanden sofortige und über den Nachbeobachtungszeitraum anhaltende Verbesserungen
in den Hauptzielkriterien bei den eingeschlossenen Patienten.
Jedoch fanden beide Studien – übereinstimmend und entgegen aller Erwartung – keinen
signifikanten Unterschied zwischen Vertebroplastie und Placebobehandlung.
Eine kritische Analyse
Eine kritische Analyse
Diese überraschenden Ergebnisse wurden innerhalb von Tagen durch die Medien global
verbreitet, auch das Deutsche Ärzteblatt berichtete sofort: "Vertebroplastie bei Wirbelfrakturen
ein Placebo".
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit überlegen Berufsverbände und Fachgesellschaften
wie sie auf diese neuen Fakten reagieren sollen oder haben dies zum Teil schon getan
- die Versorgungsrealität beginnt sich bereits zu ändern.
Allein der Nimbus einer placebo-kontrollierten Studie scheint zur relativ kritiklosen
Übernahme derer Ergebnisse zu verleiten.
Was nach wie vor fehlt ist eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Studien:
Wo liegen ihre Stärken und Schwächen, welche Aussagen erlauben sie tatsächlich, welche
Konsequenzen sollen bzw. dürfen wir aus ihnen ziehen?
Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer kritischen Analyse der beiden Arbeiten,
ihres Studiendesigns und ihrer Ergebnisse.
Buchbinder und Mitarbeiter [2] konnten in Australien über einen Zeitraum von mehr als 4 Jahren 78 von 468 gescreenten
Patienten (17%) rekrutierten.
Diese Patienten verteilten sich wiederum auf 4 verschiedene Zentren; in 3 dieser 4
Zentren wurden pro Jahr durchschnittlich nur 1,1 bis 3,3 Eingriffe durchgeführt.
Kallmes und Mitarbeiter [1] konnten über einen Zeitraum von ebenfalls mehr als 4 Jahren nur 131 von 1813 gescreenten
Patienten (7,2%) rekrutieren.
Die Patienten in dieser Studie verteilten sich auf 11 verschiedene Zentren (5 USA,
5 Großbritannien, 1 Australien), wobei in der Publikation mit Ausnahme für die studienführende
Mayo Clinic (n = 30, 22,9%) und für das australische Zentrum (n = 22, 16,8%) keine
exakten Zahlen für die einzelnen Zentren genannt werden.
Wie jedoch zu entnehmen ist, entfallen 27 Patienten (20,6%) auf die anderen 4 Zentren
in den USA und 52 Patienten (39,7%) auf die 5 Zentren in Großbritannien, was für diese
Institutionen eine durchschnittliche Eingriffsfrequenz von nur 1,7 bzw. 3,3 pro Jahr
bedeutet.
Gemessen an den nicht sehr großen Patientenzahlen sind die langen Rekrutierungsphasen,
die Anzahl der Zentren und die zum Teil sehr geringe Behandlungsfrequenz in einigen
der teilnehmenden Zentren durchaus fragwürdig.
A.p. Röntgenaufnahme eines Versorgungsbeispiels mit Vertebroplastien auf 4 Etagen
(L1-L4). Bei hochgradiger Osteoporose und frischen Spontanfrakturen war die Patientin
1 Woche bettlägerig gewesen. Nach dem Eingriff konnte sie unmittelbar mobilisiert
werden (Bild: Christof Birkenmaier, Orthopädische Klinik und Poliklinik, Klinikum
Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität).
Hoher Anteil an alten Frakturen
Hoher Anteil an alten Frakturen
In der klinischen Erfahrung profitieren vor allem Patienten mit frischen, stark schmerzhaften
osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen von der Vertebroplastie, was in einer Reihe
von Arbeiten und zuletzt von Rousing et al. gezeigt wurde [3]. Nach 3 Monaten gibt es keinen großen Unterschied mehr zwischen vertebroplastierten
und konservativ behandelten Patienten, was zu einem beträchtlichen Teil auf die Schmerzbesserung
bei den konservativ therapierten Patienten zurückzuführen ist. Buchbinder und Kallmes
schlossen jedoch Patienten mit Frakturen ein, die bis zu einem Jahr alt waren.
Während in der Kallmes Studie nur 44% bzw. 38% der Patienten (Vertebroplastie/Placebo)
an Frakturen litten, die weniger als 3 Monate alt waren, hatten bei Buchbinder et
al. nur 32% Patienten eine Symptomdauer von weniger als 6 Wochen.
Dies könnte erklären, weshalb weder Buchbinder noch Kallmes eine signifikante oder
auch nur klinisch relevante Verbesserung in der Placebogruppe fanden.
Dies unterscheidet sich ganz deutlich von den Ergebnissen der Rousing Studie [3] als auch von denen der randomisiert-kontrollierten Studie von Wardlaw et al. zur
Kyphoplastie [4], die beide eine klare Verbesserung in den Kontrollgruppen fanden.
Sowohl Wardlaw als auch Rousing hatten ausschließlich akute bzw. subakute Frakturen
untersucht (< 3 Monate, bzw. < 8 Wochen).
Keine klinische Korrelation Schmerz-Fraktur
Keine klinische Korrelation Schmerz-Fraktur
Weder Kallmes noch Buchbinder forderten als Einschlusskriterium eine klinische Untersuchung
bei der die Lokalisation des größten Schmerzes mit der Höhe des in der Bildgebung
frakturierten Wirbels übereinstimmen musste, was in der klinischen Routine eine wertvolle
Entscheidungshilfe darstellt.
Zum Studieneinschluss war lediglich ein nativradiologisch gebrochener Wirbel mit Knochenmarködem
in der MRT und mit passender Anamnese gefordert.
Bedenkt man, dass die 1-Jahres-Prävalenz von Kreuzschmerzen bei älteren Erwachsenen
zwischen 22 und 65% beträgt [5], so ergibt sich die klare Möglichkeit, das bei einer beträchtlichen Anzahl von Studienpatienten
die osteoporotische Wirbelkörperfraktur nicht oder nicht mehr das Hauptschmerzproblem
war und dementsprechend durch eine Vertebroplastie auch nicht erfolgreich behandelt
werden konnte.
Kommentar
Zusammenfassend finden sich bei beiden Studien fundamentale Schwächen, welche die
Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf die in der klinischen Routine typische Patientengruppe
mit osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen zumindest stark einschränken, wenn nicht
unmöglich machen.
Am schwerwiegendsten sind wohl der Einschluss eines großen Prozentsatzes alter Frakturen
– passend zur auffällig fehlenden Verbesserung in den Placebogruppen – sowie der dringend
zu vermutende Selektionsbias.
Aber auch das Fehlen einer klinischen Korrelation von Schmerz und Bildgebung wirft
erhebliche Zweifel an der Validität der gewonnenen Ergebnisse auf. Auf diese sollte
bei der Indikationsstellung zur Vertebroplastie geachet werden.
Sollen wir also grundsätzlich keine osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen mehr vertebroplastieren
Nach unserer Überzeugung kann dies auf Basis der Ergebnisse von Buchbinder und Kallmes
nicht begründet werden.
Selektionsbasis
Selektionsbasis
Nach unserer Erfahrung nimmt die überwiegende Mehrzahl von Patienten mit einer frischen
osteoporotischen Wirbelkörperfraktur das Angebot einer Vertebroplastie an.
Buchbinder et al. geben an, dass nur 30% der potenziellen Kandidaten eine Studienteilnahme
verweigerten.
Berechnet man jedoch nach den in der Publikation angegebenen Zahlen, so ergibt sich,
dass 64% aller primär für eine Teilnahme qualifizierenden Kandidaten eine Teilnahme
ablehnten.
In der Kallmes Studie taten dies sogar 70% der in Frage kommenden Kandidaten.
Allein diese Zahlen stellen die Aussagekraft beider Studien stark in Frage.
Da der (reale oder angenommene) Benefit einer Vertebroplastie im Allgemeinwissen gut
etabliert ist, besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen Patienten
mit den schmerzhaftesten Frakturen eine Teilnahme ablehnten um so außerhalb des Studienprotokolls
sicher eine Vertebroplastie zu erhalten und das Risiko einer Placebobehandlung zu
vermeiden.
Hier ergibt sich die klare Möglichkeit eines "Bias durch selektive Teilnahme" [6], was dann die Verallgemeinerung der gewonnenen Studienergebnisse auf die Gesamtpopulation
solcher Patienten unmöglich macht.
Die Studienteilnehmer unterschieden sich möglichweise systematisch von den Nichtteilnehmern
bezüglich Baseline-Charakteristika, klinischen Charakteristika und Prognose.
Da osteoporotische Wirbelkörperfrakturen frisch am schmerzhaftesten sind [3], [4], passt ein solcher Bias gut zu den außergewöhnlich hohen Anteilen älterer bzw. chronischer
Frakturen in beiden Studien.
Hohe Crossover-Rate
Hohe Crossover-Rate
Während in der Buchbinder Studie kein Crossover erlaubt war, kam es in der Kallmes
Studie zu einer Crossover-Rate von 44% in der Placebogruppe gegenüber von nur 12%
in der Verumgruppe.
Parallel dazu findet sich bei den Vertebroplastiepatienten in derselben Studie ein
beinahe signifikanter (p = 0,06) Vorteil bei der klinisch relevanten Schmerzverbesserung.
Dieser Effekt wäre bei höheren Patientenzahlen möglicherweise signifikant geworden.
Alle Korrespondenz bitte an
Dr. Birkenmaier
Christof Birkenmaier
[1]
, Bernd Wegener
[1]
Wolfgang Böcker
[2]
, Stefan Huber-Wagner
[2]
Abstract
The 2 randomized, placebo-controlled trials on vertebroplasty that were published
in issue 361 of the New England Journal of Medicine have attracted enormous attention.
According to the findings of these studies, vertebroplasty is no better than placebo
in the treatment of osteoporotic vertebral fractures.
We performed a critical analysis of both studies and evaluated the applicability of
their results for the treatment of patients with osteoporotic vertebral fractures
in routine clinical practice.
Both studies were found to have fundamental flaws, putting the validity of their findings
in question.
The inclusion of a large proportion of old fractures, the strong possibility of a
selection bias and the fact that no correlation between the location of maximum pain
and the imaging studies was performed, greatly limit the applicability of the study
results.
Based on these studies, we see no reason to stop using vertebroplasty for the treatment
of osteoporotic vertebral fractures, when indicated.