William Shakespeare hat uns mit dem im Jahr 1600 erschienen Schauspiel „Wie es Euch
gefällt” ein munteres Stück Hirten-Dichtung hinterlassen. Die Handlung: „Herzog Friedrich entmachtet seinen älteren Bruder Herzog Senior, der daraufhin mit
einer Anzahl treuer Lords in den Ardenner Wald in die Verbannung geht. Rosalind, die
älteste Tochter Seniors, bleibt an Fredericks Hof bei dessen mit ihr befreundeten
Tochter Celia. Nach dem Tod von Sir Rowland de Bois wird sein ältester Sohn Oliver
Haupterbe, sein jüngster Sohn Orlando erhält nur tausend Kronen” [1]. Können Sie noch folgen? Um es kurz zu machen: König Senior war eine Art „Aussteiger”.
Im Wald, sprich in der unverfälschten Natur, liegt die Rettung. Alle, die ihm dorthin
folgen, führen ein glückliches (Liebes-)Leben in fröhlicher Kommunität und größter
Freiheit. Zu guter Letzt bekehrt sich sogar der verräterische Herzog Frederick durch
die Begegnung mit einem Einsiedler und gibt Herzog Senior sein Herzogtum zurück [2]. Alles wird gut.
Derartige archetypischen Vorstellungen von der Aktivierung der Selbstheilungskräfte
durch die Natur sind vermutlich so alt wie die Menschheit – zumindest seit die ersten
Exemplare des modernen Menschen aufgerichtet den Wald verließen. Explizite Heilungserwartungen
sind auch nicht auf den westlichen Kulturkreis beschränkt. Der Journalist Tiziano
Terzani, selbst an Krebs erkrankt, gibt in seinem autobiografischen Bericht „Noch
eine Runde auf dem Karussell” einen nachdenklichen Einblick in den Megamarkt esoterischer
Heilungsangebote und Heilungsversprechen weltweit – von Boston bis Bagdad, von Kathmandu
bis Kalifornien [3]. Haben manche alternativen Heilverfahren nicht auch ihre nachweisbare Wirksamkeit?
Und sei es die Aktivierung von körperimmanenten Heilvorgängen, wie sie mit dem Begriff
des Placebos verbunden werden? Ein Anlass, sich mit Placebo-Vorgängen etwas näher
auseinander zu setzen.
„Wie es Euch gefällt…” – Placebo bedeutet in der wörtlichen Übersetzung aus dem Lateinischen
„Ich werde gefallen”. Es ist eine Anspielung an den Psalm 114, Vers 1–9 der lateinischen
Vulgata-Übersetzung der Bibel: „Placebo Domino in regione vivorum – Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Lebenden”. Dieser Vers war Bestandteil der mittelalterlichen Totenliturgie. Die religiöse
Bedeutung wandelte sich in eine weltliche im England des 14. Jahrhunderts: Der Ausdruck
„to sing a placebo”, eine Anspielung auf die bezahlten Gesänge am Grab, entwickelte sich zum Synonym
zu „schmeicheln” [4]. Ausgangspunkt der modernen Placebo-Forschung waren Publikationen insbesondere über
die Wirksamkeit der verdeckten Gabe von einfacher Kochsalzlösung an Stelle von Morphin
bei Schmerzpatienten und auch bei anderen Krankheitsbildern. Henry K. Beecher berichtete
über diese Erfahrungen mit der Macht des Placebos an Hand von ausgewählten eigenen
und fremden Studien im Jahr 1955 („The powerful placebo”, [5]). Angeblich ging sein Interesse auf eigene Erfahrungen im zweiten Weltkrieg zurück,
als ihm die Medikamente für die Behandlung Kriegsverletzter an der italienischen Front
ausgingen [4]. Von Levine konnte 1979 nachgewiesen werden, dass der schmerzlindernde Effekt von
Placebos durch Opiatantagonisten unterdrückt werden kann: ein deutlicher Hinweis auf
die biochemische Wirksamkeit der Placebo-vermittelten Schmerzunterdrückung [6]. Objektive Belege für die Wirksamkeit zur Schmerzlinderung zeigen sich auch in der
Positronen-Emissionen-Tomografie (PET-Scanner) [7].
Obwohl an einzelnen Patienten Placeboreaktion nachweisbar sind, wird die klinische Relevanz des statistisch gemessenen Placeboeffektes in kontrollierten Studien kritisch bewertet: nur kleine Effekte waren in einer sorgfältig
durchgeführten Metaanalyse nachweisbar [8]. Eine andere Arbeitsgruppe berichtet am Beispiel des Colon irritabile von deutlicheren
Effekten mit kombinierbarer Wirksamkeit der Komponenten aufmerksame Anamneseerhebung,
therapeutisches Ritual (Placebo in engerem Sinn) und unterstützende Therapeuten-Patienten-Beziehung.
Dabei kommt der Therapeuten-Patienten-Interaktion die größte Bedeutung zu [9]. Auch im Zusammenhang mit Akupunktur gegen Kopfschmerz ist zweifelhaft, ob die nachweisbaren
Effekte auf die Akupunktur an sich zurückzuführen sind: zumindest bei Migraine hat
eine Akupunktur an unspezifischen Hautstellen die gleiche Wirksamkeit wie eine Akupunktur
an den klassischen Akupunkturpunkten [10]
[11].
Einer daraus abgeleiteten Empfehlung zum Einsatz von Akupunktur, welche als echte
oder unspezifische Akupunktur wirksamer und gleichzeitig nebenwirkungsärmer als eine
medikamentöse Therapie sein soll, kann nur mit kritischer Distanz gefolgt werden.
Vor dem Hintergrund aktueller Placeboforschung sollte vor allem auf die Qualität der
Arzt-Patienten-Beziehung fokussiert werden [9]
[12]. Hauptsächliche Wirkungsmechanismen sind bedingte Reflexe, Erwartungshaltungen und
Bedeutungszuschreibungen des Patienten sowie die Applikationsform [4]
[12]
[13]
[14]. Ein begleitender Pfad der Effektvermittlung ist der „healthy adherer”-Effekt bei
guter therapeutischer Compliance [15]. Alternative Erklärungen zum Placeboeffekt sind günstige Spontanverläufe und ein
statistischer Effekt des „regression to the mean”, d. h. der unwahrscheinlichen Wiederholung
einmaliger extremer Ausgangswerte der Studienteilnehmer [4]
[12].
Die Relativierung und Differenzierung des Placeboeffektes tut dem Wert des Placebos
im Rahmen Placebo-kontrollierter klinischer Studien keinen Abbruch. Die wohl älteste
dokumentierte Episode der Verwendung einer Placebokontrolle ist mit dem amerikanischen
Naturwissenschaftler und Staatsmann Benjamin Franklin (1706–1790) verbunden. Er war
vom französischen König zum Mitglied eines Komitees berufen worden, welches die Behauptungen
Franz Anton Mesmers prüfen sollte. Mesmer gab an, ein körperliches Fluidum aus der
Distanz beeinflussen zu können. Franklins Versuchsaufbau bestand in der Trennung der
Studienteilnehmerinnen von dem Ausführenden des Mesmerismus. Die Anwesenheit oder
Abwesenheit dieser Person war durch einen Vorhang verborgen, wurde von den Versuchspersonen
jedoch angenommen. Er konnte nachweisen, dass der Erfolg des Mesmerismus lediglich
von der Erwartungshaltung der Versuchspersonen abhing. Dies widerlegte die behauptete
Wirksamkeit der Methode an sich.
Das vorliegende Heft unserer Zeitschrift beschäftigt sich in bester Franklinscher
Tradition mit der vorurteilsfreien wissenschaftlichen Bewertung von Fragen wie der
Zufriedenheit von Patienten mit der ärztlichen Dienstleistung, Distanzen zu Krankenhäusern
und mindestmengenrelevanten Eingriffen, dem Beziehungsmanagement zwischen Krankenhaus
und Krankenkasse, der Überführung neuer Konzepte in die Regelversorgung, der psychosozialen
Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen, regionaler gesundheitlicher Ungleichheit,
Internet-Inhalten und telefonischem Fall-Management.
Übrigens: auch Placebos haben Risiken und Nebenwirkungen. Zum einen wird von einem
schädlichen „Nocebo”-Effekt in Analogie zum heilenden „Placebo”-Effekt berichtet.
Mindestens so bedeutsam ist jedoch, dass bei einer Placebogabe unter Umständen eine
Standardtherapie vorenthalten wird. Die Deklaration von Helsinki der World Medical
Association legt in ihrer aktuellen Überarbeitung von 2008 in Paragraph 23 fest, das
Nutzen, Risiken, Lasten und Wirksamkeit einer neuen Intervention gegenüber der jeweils
besten gegenwärtigen bewährten Intervention zu prüfen sind. Nur als Ausnahme zu dieser
Grundregel ist die Verwendung von Placebo ethisch akzeptabel: Dann nämlich, wenn solche
bewährten Verfahren nicht bestehen oder wenn zwingende methodische Gründe dies erfordern
und die Probanden im therapiefreien bzw. Placebo-Arm der Studie dadurch keinen ernsten
Risiken ausgesetzt sind. Übertragen auf die Anwendung von neuen Verfahren im bunten
Bereich der alternativen Heilverfahren darf dies auch als Warnung gegenüber einem
allzu sorglosen „Wie es Euch gefällt” verstanden sein. Und auch gegenüber einer Selbstimmunisierung
alternativer Verfahren gegen wissenschaftliche Kritik: dann nämlich, wenn für deren
Prüfung andere Gesetze der Wissenschaftlichkeit gelten sollen.
Shakespeare starb im Alter von 52 Jahren. Auf seinem Grab in der Heiligen Dreifaltigkeitskirche
in Stratford-upon-Avon, ist folgende Inschrift in die Steinplatte eingemeißelt: Good frend for Jesus sake forbeare,/to digg the dust enclosed heare./bleste be the
man that spares thes stones,/and curst be he that moves my bones (dt. Guter Freund, im Namen Jesu grabe nicht/den Staub auf, der hier eingeschlossen
ist./Gesegnet sei derjenige, der diese Steine achtet,/und verflucht der, der meine
Gebeine bewegt). Im Sinne einer aufgeklärten Evidenz-basierten Medizin ist allerdings
zu erwarten, dass die vielfältigen angebotenen Versorgungsformen – im Gegensatz zu
einem „Wie es Euch gefällt” – bei entsprechender Evidenzlage doch in ihren Gebeinen
bewegt werden: Was heute gilt, kann morgen falsch sein oder zumindest anders einzuordnen
sein. Wissenschaft ist nie abgeschlossen – sie ist eben, bei aller Unterhaltsamkeit,
keine Belletristik.