physiopraxis 2010; 8(1): 36-38
DOI: 10.1055/s-0029-1246315
physiospektrum

Projektarbeit: Physiotherapieschüler geben Schulunterricht – Beim Lehren lernen

Verena Kopp
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Publication Date:
29 January 2010 (online)

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Physiotherapieschüler der Plettenbergschule beteiligten sich an einer Grund- und Hauptschule am Projekt „Komm in Form – Fit durch den Schulalltag”. Engagiert unterrichteten sie die Kinder zum Thema Bewegung. physiopraxis war vor Ort und hat sich mit den Beteiligten über das erfolgreiche Projekt unterhalten.

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Verena Kopp, Bac. NL (Physiotherapy), arbeitet seit einem Jahr in der physiopraxisRedaktion. Für diesen Artikel hat sie die Schüler der Plettenbergschule während des Projekts besucht.

Es herrscht ein umtriebiges Gewusel. Sechs- bis elfjährige Schüler der Joachim-Schäfer-Grund- und Hauptschule in Rangendingen toben auf dem Schulhof. Einige stehen beisammen und plaudern, andere klettern auf einem großen Stein, den die gesundheitlich ausgerichtete Schule dafür aufgestellt hat.

Gegen Ende der Pause mischen sich auch junge Erwachsene unter die Schüler. Sie sind bepackt mit Pezzibällen, Therapiekreiseln und anderen Utensilien (Abb. 1). Die 24 Schüler der Klasse P 22 der Plettenbergschule für Physiotherapie beenden heute ihr einmonatiges Projekt. Vier Mal gaben sie den Dritt-, Viert- und Fünftklässlern Unterricht zum Thema Bewegung. Sie brachten den Kindern den menschlichen Körper näher und erklärten ihnen, warum Bewegung für die Gesundheit wichtig ist. Doch nicht nur die Kinder haben einiges gelernt, sondern auch die angehenden Therapeuten. Sie erlebten, wie es ist, Lehrer zu sein, mussten Themen leicht verständlich vermitteln und dauerhaft die Aufmerksamkeit der Schüler gewinnen.

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Abb. 1 Gut vorbereitet starten die Physiotherapieschüler in den Unterricht an der Rangendinger Schule. (Foto: V. Kopp)

Landesprojekt fördert gesunde Ernährung von Kindern

Die Arbeit der Physiotherapieschüler war Teil des baden-württembergischen Landesprojekts „Komm in Form”, das langfristige Strategien gegen falsche Ernährung von Kindern positionieren möchte. Im Rahmen dessen können Kommunen individuelle Projekte entwickeln, bei deren Umsetzung sie das Ministerium für Ernährung und Ländlichen Raum mit 2.600 Euro unterstützt.

Die Stadt Rangendingen zum Beispiel hat an der Joachim-Schäfer-Schule das Projekt „Fit durch den Schulalltag” initiiert. Das einmonatige Projekt sollte den Schülern der dritten, vierten und fünften Klasse ein gesünderes Trink-, Ess- und Bewegungsverhalten näherbringen. Unter anderem verdeutlichte die Landesinitiative Bewusste Kinderernährung den Schülern, weshalb es gesund ist, viel Wasser zu trinken. Der Obst- und Gartenbauverein Rangendingen presste mit den Kindern frischen Apfelsaft. Von den gefüllten Kanistern durften sie sich dann im Unterricht bedienen. Die Schulmensa bot während des Projektmonats verstärkt Salate und frischen Obstsalat an. Die Physiotherapieschüler steuerten den Bewegungsaspekt bei. Er bestand aus einem Motoriktest und vier Doppelstunden spannendem Unterricht zum Thema Bewegung.

Projektarbeit schult fachliche, methodische und soziale Kompetenzen

Als die Stadt Rangendingen den Physiotherapielehrer Kay Bartrow im Frühjahr 2009 fragte, ob er sich mit einer Klasse an dem Projekt der Joachim-Schäfer-Schule beteiligen wolle, sagte er spontan zu. Schon öfter hatte er mit Schülern Projekte durchgeführt. „Die Schüler lernen dabei, sich selbstständig zu organisieren”, begründet Kay Bartrow sein Engagement. Das Schulprojekt in Rangendingen sei eine sinnvolle Alternative zum üblichen Unterricht, bei der sich die Schüler intensiv mit Anatomie, Physiologie und Bewegungslehre auseinandersetzen müssten. „Sie können dabei ihre fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen schulen und sammeln nützliche Erfahrungen für ihr späteres Berufsleben”, sagt Kay Bartrow. Zudem verbessere die gemeinschaftliche Projektarbeit die Stimmung innerhalb der Klasse.

Für das Engagement in Rangendingen konnte Kay Bartrow die Klasse P 22 des zweiten Semesters gewinnen. Aufgrund früherer Erfahrungen aus einem anderen Projekt hatten die Schüler hinsichtlich der Mitarbeit in Rangendingen anfangs eher gemischte Gefühle. „So ein Projekt bedeutet, viele Stunden Freizeit zu opfern. Aber wenn am Ende alle Hürden überwunden sind und die Arbeit erfolgreich hinter einem liegt, ist man stolz auf seine Ergebnisse”, beschreiben die Klassenmitglieder ihre Einstellung zur Projektteilnahme.

Für das Projekt Freizeit investieren

Im Mai 2009 machten sich dann die 24 Schüler erste Gedanken und legten gemeinsam mit Lehrer Kay Bartrow die Themenblöcke für die vier zur Verfügung stehenden Doppelstunden fest. Sie wollten den Kindern einen Überblick über den Bau des menschlichen Körpers geben und ihnen Knochen, Muskeln und Nerven vorstellen. Als nächstes wollten sie ihnen die Energiegewinnung erklären: Welche Nährstoffe gibt es und wie verwertet der Körper sie? Ein drittes Ziel der angehenden Physiotherapeuten war es, den Schülern beizubringen, wie sie richtig gehen, stehen und sitzen.

Für die Vorbereitung und den späteren Unterricht teilten sie sich in sechs Vierergruppen auf. Jede Gruppe betreute während der Projekttage circa 22 Grund- und Hauptschüler. Im Juni folgte eine Praktikumsphase, während der die Gruppenmitglieder in verschiedenen Krankenhäusern verteilt waren. In dieser Zeit hielten sie per E-Mail Kontakt und arbeiteten weiter an ihrem Projekt. Damit sich die Gruppen noch leichter austauschen konnten, erstellte Klassensprecherin Annika Erwig ein Internetforum.

An mehreren Abenden recherchierten die Gruppen in Büchern und im Internet, überlegten sich, mit welchen Inhalten sie die Themenblöcke füllen und diese kindgerecht aufbereiten könnten, und setzten Ideen um. Vorgaben von ihrem Lehrer gab es kaum. Die Gruppentreffen hätten zwar Spaß gemacht, wären nach den Praktikumstagen aber ziemlich anstrengend gewesen, ist das Fazit der Schüler.

Unterrichtsmaterialien selbst herstellen

Sogar in den vierwöchigen Sommerferien gönnten sich die Gruppen kaum eine Pause. Während ihrer häufigen Treffen feilten sie weiter an ihren Unterrichtsplänen und bastelten die nötigen Arbeitsmaterialien. „Wir konnten uns richtig kreativ austoben. Zum Beispiel stellten wir ein Puzzle zur Anatomie des menschlichen Körpers her, bei dem die Kinder die einzelnen Knochen entsprechend anordnen sollten”, erzählt Annika Erwig.

An den gemeinsamen Abenden entstanden zudem Arbeitsblätter, auf denen die Kinder im Unterricht verschiedene Muskeln ausmalen konnten. Sie sammelten passende Bilder, dachten sich Pausenspiele aus und bastelten einen Propriozeptions-Parcours. Für diesen füllten sie zwölf Kisten mit verschiedenen Materialien wie zum Beispiel Sägespäne, Erbsen, Linsen und Geschenkpapier. Die Kinder sollten barfuß und mit geschlossenen Augen den Kisteninhalt erspüren (Abb. 2).

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Abb. 2 Der Propriozeptions-Parcours. Mit welchen Materialien sind die Kisten gefüllt? (Foto: K. Bartrow)

In dieser Phase des Projekts erhielt Kay Bartrow von seinen Schülern regelmäßig E-Mails über den aktuellen Stand ihrer Vorbereitungen. „So konnte ich sehen, ob die Arbeit der Schüler die richtige Richtung behielt, inhaltlich stimmte und kindgerecht aufbereitet war.” Selten allerdings sei Hilfe von ihm nötig gewesen.

Zurück in der Schule testeten die Gruppen, ob die von ihnen erstellten Unterrichtsinhalte auch zeitlich in die Doppelstunden passten. Das war vor allem Kay Bartrow wichtig. „Um Unsicherheiten und Patzer zu vermeiden, habe ich sehr darauf geachtet, dass der Ablauf bis auf die Minute geplant war”, sagt er. Für den Fall, dass sie im Unterricht schneller vorankämen, bereiteten die Schüler ergänzende Spiele vor.

Mit dem „Plettenberg-Score” die Motorik testen

Einige Tage vor dem Unterrichtsstart testeten die Physiotherapieschüler die grundmotorischen Leistungen der insgesamt 160 Dritt-, Viert- und Fünftklässler. Für ihren „Plettenberg-Score” kombinierten sie Übungen aus dem Dordel-Koch-Test mit denen vom Karlsruher Testmodul für Kinder. Der Motoriktest bestand schließlich aus sechs Übungen: seitliches Hin- und Herspringen, Matthiaß-Test, Standweitsprung, Einbeinstand auf einer 1 cm breiten T-Schiene, Stand-and-Reach-Test und der Ball-Beine-Wand-Zielwurf. Zusätzlich zu den Übungen hatten sie Fragebögen erstellt, auf denen die Grund- und Hauptschüler zehn Fragen zu ihrem Ernährungs- und Bewegungsverhalten beantworten sollten. Bei der späteren Auswertung aller Ergebnisse wollten die Plettenbergschüler motorische Defizite der Kinder feststellen und verschiedene Vergleiche anstellen, zum Beispiel zwischen Dritt- und Viertklässlern sowie zwischen Jungen und Mädchen.

Vor dem Testtag im September waren die Physiotherapieschüler besorgt, dass das Ganze in einem Chaos enden könnte. Doch ihre intensive Vorbereitung zahlte sich aus – alles verlief reibungslos. Infoblätter erklärten die Übungen der einzelnen Stationen. Die Klassenlehrer halfen mit und beschäftigten die wartenden Kinder. In den Testpausen konnten diese beispielsweise den Propriozeptions-Parcours ausprobieren. „Manche Kinder konnten die Materialien erstaunlich schnell benennen und fühlten sogar den Unterschied zwischen Linsen und Erbsen. Bei anderen hingegen hätte man denken können, sie stünden mit Schuhen in den Kisten”, erinnern sich die Physiotherapieschüler.

Mit der Auswertung der Daten ist Annika Erwig bis heute beschäftigt und investiert stundenweise Freizeit. „Die meisten Kinder hatten Schwierigkeiten mit der Gleichgewichtsübung”, resümiert sie die bisherigen Ergebnisse. Der zuständige Sportlehrer hat versprochen, entsprechende Übungen in seinen künftigen Unterricht zu integrieren. Für 2010 hat die Plettenbergschule eine Testwiederholung geplant, um vergleichbare Daten zu ermitteln.

Feuerprobe Grundschulunterricht

Im Oktober 2009 startete dann das eigentliche Projekt „Fit durch den Schulalltag”. In der ersten Doppelstunde lernten die Grund- und Hauptschüler vieles über Knochen kennen: Welche Nahrungsmittel benötigen sie zum Wachsen? Welcher ist der kleinste, welcher der größte Knochen des menschlichen Körpers? Arbeitsblätter lockerten den theoretischen Stoff auf. Ein falsch herum aufgeklebtes Brustkorb-Puzzleteil erzeugte lautes Gelächter. Physiotherapieschülerin Miriam Strobel, deren Vater Metzger ist, hat sogar einen echten Oberschenkelknochen und eine Beinscheibe von einem Rind mitgebracht. Damit sich die ängstlicheren Kinder nicht erschrecken, legte sie die Knochen mit einem Tuch bedeckt in die Mitte. Nach kurzer Zeit begutachteten alle Kinder die Utensilien neugierig. „Der größte Renner war allerdings unser Modell-Skelett”, stellte die Gruppe nach der Stunde lachend fest (Abb. 3).

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Abb. 3 Am ModellSkelett erklärt Annika Erwig, wie einzelne Knochen miteinander verbunden sind. (Foto: V. Kopp)

Eine Woche später, in der zweiten Doppelstunde, waren Muskeln und Nerven an der Reihe. „Mit einem Theraband zeigten wir am Skelett, wo ein Muskel seinen Ursprung hat und wo er endet. Nachdem die Kinder erfahren hatten, welche Funktion der Muskel hat, probierten wir die Bewegung gemeinsam aus”, berichtet Annika Erwig. Am Ende jeder Doppelstunde überprüften die Physiotherapieschüler in einem Quiz, wie viel bei ihren Schülern hängen geblieben ist.

Sport, um Energie zu verbrennen

In der dritten Stunde ging es um physiologische Prozesse im Körper. Welche Nährstoffe gibt es? Wofür benötigt der Körper Energie? „Um den Kindern den Zusammenhang von Bewegung und Ernährung näherzubringen, verdeutlichten wir ihnen, wie viele Kalorien der Körper in einer halben Stunde Sport verbraucht, zum Beispiel beim Joggen oder Schwimmen. Außerdem haben wir Süßigkeitenverpackungen mitgebracht, um die Kinder auf die angegebenen Kalorien aufmerksam zu machen. Danach sollten sie ausrechnen, wie lange man joggen muss, um die Kalorien von dem Schokoriegel zu verbrauchen”, erklärt Annika Erwig.

In der letzten Doppelstunde besprechen die zukünftigen Physiotherapeuten mit den Schülern, wie sie richtig stehen, sitzen und schwere Dinge vom Boden aufheben (Abb. 4). Zudem stellen sie ihnen Pausenspiele wie „Gummitwist” und „Himmel und Hölle” vor und erklären, warum es wichtig ist, sich in jeder Pause zu bewegen. Damit sie die Konzentration ihrer Schüler während der Stunde nicht überstrapazieren, legen die „Lehrer” in gewissen Abständen kurze Spiele ein.

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Abb. 4 Lernen durch Selbsterfahrung: Sarah Grieser leitet die Schüler beim gesunden Heben an. (Foto: K. Bartrow)

Stolz auf das erfolgreiche Projekt

In der Abschlussrunde werfen sich die im Kreis stehenden Kinder und Lehrer einen Ball zu. Die Fänger müssen sagen, was ihnen am Unterricht besonders gefallen hat: „Mir hat das Knochentasten am besten gefallen”, „die aufrechte Haltung”, „die netten Lehrer” und „die Reflextests” ist zu hören.

Petra Kessler, die Projektverantwortliche der Grund- und Hauptschule, ist rundum zufrieden. „Alle Beteiligten des Projektes haben sehr harmonisch zusammengearbeitet. Ich habe nur positive Rück meldungen von den beteiligten Lehrern und unseren Schülern erhalten.”

Auch Kay Bartrow lobt seine Klasse: „Es war eine hervorragende Leistung meiner Schüler, die durch Engagement und Opferung der eigenen Freizeit dieses Projekt möglich gemacht haben. Aber ich denke auch, dass es eine lehrreiche Erfahrung war, aus der jeder Einzelne etwas wissender herausgekommen ist.”

Das Projekt an der Grund- und Hauptschule hat bei den angehenden Physiotherapeuten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Einerseits war es nicht einfach, die Kinder für die Doppelstunde ruhig zu halten. Andererseits waren wir in der darauffolgenden Unterrichtsstunde immer total erstaunt, was die Kleinen noch von der vorhergehenden Stunde behalten hatten”, berichten sie nach Ende des Projekts. Es sei eine gute Erfahrung gewesen, sich vor einer großen Gruppe Gehör zu verschaffen und die Ruhe zu bewahren. „Wir haben für unseren späteren Beruf gelernt, komplizierte Inhalte zu recherchieren, auf das Wichtigste zu komprimieren und dies vereinfacht darzustellen”, schlussfolgern die begeisterten Plettenbergschüler.

Projektarbeit ist teilweise sicher mühsamer als andere Unterrichtsmethoden. Dafür bereitet sie oft optimal auf den späteren Berufsalltag vor.

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Abb. 1 Gut vorbereitet starten die Physiotherapieschüler in den Unterricht an der Rangendinger Schule. (Foto: V. Kopp)

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Abb. 2 Der Propriozeptions-Parcours. Mit welchen Materialien sind die Kisten gefüllt? (Foto: K. Bartrow)

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Abb. 3 Am ModellSkelett erklärt Annika Erwig, wie einzelne Knochen miteinander verbunden sind. (Foto: V. Kopp)

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Abb. 4 Lernen durch Selbsterfahrung: Sarah Grieser leitet die Schüler beim gesunden Heben an. (Foto: K. Bartrow)