Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
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374 |
Einführung und Methodik
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374 |
Hintergrund und Ziele
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374 |
Methodik
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375 |
Auswahl der Leitlinien-Mitglieder und Struktur der Leitlinie |
375 |
Literatursuche |
376 |
Evidenzgrad und Empfehlungsstärke |
377 |
Definitionen, Pathophysiologie und Histopathologie
|
378 |
Enterische Neuropathien |
378 |
Enterische Myopathien |
379 |
Enterische Neuro-Gliopathien und Mesenchymopathien |
379 |
(Differenzial-)Diagnostik
|
381 |
Therapie
|
386 |
Abkürzungsverzeichnis
ACPO |
akute kolonische Pseudoobstruktion, syn. Ogilvie-Syndrom |
CED |
chronisch entzündliche Darmerkrankung |
CIPO |
chronische intestinale Pseudoobstruktion |
CMV |
Cytomegalie-Virus |
EBV |
Ebstein-Barr-Virus |
EGC |
enterische Glia-Zellen (engl. cells) |
ENS |
enterisches Nervensystem |
GIT |
Gastrointestinaltrakt |
ICC |
interstitielle Cajal-Zellen (engl. cells) |
IMC |
idiopathisches Megakolon/-rektum |
NTC |
normal transit constipation, engl. |
STC |
slow transit constipation, engl. |
Einführung und Methodik
Einführung und Methodik
Hintergrund und Ziele
Leichtere intestinale Motilitätsstörungen sind außerordentlich häufig und betreffen
allein in Deutschland Millionen von Menschen entweder transient im Rahmen akuter gastrointestinaler
Infekte oder chronisch, zum Beispiel im Rahmen eines Reizdarmsyndroms. Schwere chronische
intestinale Motilitätsstörungen als Ursache gastrointestinaler Beschwerden sind zwar
viel seltener, können aber mit erheblichen diagnostischen und therapeutischen Problemen
verbunden sein und die Lebensqualität der Betroffenen stark beeinträchtigen.
Die Schwierigkeiten in der Diagnostik sind teilweise dadurch bedingt, dass die infrage
kommenden Krankheitsbilder wenig bekannt und manche nicht eindeutig definiert sind.
Hinzu kommt, dass aufwendigere diagnostische Verfahren wie intraluminale Motilitätsmessungen,
die bei einem Teil dieser Patienten erforderlich sind, nur an wenigen Kliniken etabliert
sind. Die Therapie intestinaler Motilitätsstörungen wird nicht nur durch mangelnde
Kenntnisse beeinträchtigt, sondern zusätzlich dadurch, dass es kaum Prokinetika gibt,
welche an Dünn- und Dickdarm wirken. Umso wichtiger wäre der sinnvolle Einsatz der
verfügbaren medikamentösen und sonstigen therapeutischen Optionen.
Vor diesem Hintergrund wurde die vorliegende S 3-Leitlinie zu intestinalen Motilitätsstörungen
erarbeitet. Ziel dieser Leitlinie war es, den aktuellen Kenntnisstand zu Pathophysiologie,
Diagnostik und Therapie von Motilitätsstörungen des Dünn- und Dickdarms zusammenzufassen,
zu bewerten und in praxisrelevante Empfehlungen zu übertragen. Dabei bezieht sich
die Leitlinie vorwiegend auf Motilitätsstörungen bei Erwachsenen. Besonderheiten,
die bei Kindern zu beachten sind, wurden an vielen Stellen, aber nicht durchgehend
systematisch bearbeitet. Vergleichbare Empfehlungen zu Krankheitsbildern, die auf
einer intestinalen Motilitätsstörung beruhen, gibt es bislang weder im deutsch- noch
englischsprachigen Raum.
Die vorliegende Leitlinie richtet sich an die an Diagnostik und Therapie beteiligten
Berufsgruppen (Allgemeinmediziner, Internisten, Pathologen, Chirurgen etc.) ebenso
wie an betroffene Patienten und Leistungserbringer (Krankenkassen, Rentenversicherungsträger).
Sie soll der evidenzbasierten Fort- und Weiterbildung dienen und auf dieser Basis
eine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Patienten in der ambulanten und
stationären Versorgung erreichen.
Methodik
Auswahl der Leitlinien-Mitglieder und Struktur der Leitlinie
Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten
(DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM)
wirkten 5 weitere nationale Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin,
Bund Niedergelassener Gastroenterologen, Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie
und Ernährung, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin, Deutsche Gesellschaft
für Allgemein- und Viszeralchirurgie) aktiv bei der Vorbereitung und Formulierung
mit ([Tab. 1]). Die Leitliniengruppe (Jutta Keller, Thilo Wedel, Holger Seidl, Martin E. Kreis,
Ivo van der Voort) wurde beauftragt, die Leitlinie zu erarbeiten. Die Auswahl der
Mitglieder erfolgte auf dem Boden fachlicher Expertise.
Tab. 1 Erweitertes Expertengremium (mit Kennzeichnung der Vertreter der beteiligten Fachgesellschaften).[1]
Dr. MBA Birgit Adam, Essen |
Prof. Dr. Heiner Krammer, Mannheim |
Prof. Dr. Hans-Dieter Allescher, Garmisch-Partenkirchen (DGIM) |
Prof. Dr. Martin E. Kreis, München (DGAV) |
Dr. MSc Viola Andresen, Hamburg (DGNM) |
Prof. Dr. W. Kruis, Köln |
Dr. Thomas Berger, Datteln |
Dipl.-Psych. Rita Kuhlbusch-Zicklam, Krefeld |
Dr. Berndt Birkner, München |
PD Dr. Jost Langhorst, Essen |
Prof. Dr. Stephan Bischoff, Hohenheim (DGEM) |
Prof. Dr. P. Layer, Hamburg (DGVS, DGIM) |
Dr. Wolfgang Blank, München |
Dr. Tobias Liebregts, Essen |
Dr. Bernd Bokemeyer, Minden (bng) |
PD Dr. Ahmed Madisch, Hannover |
Dr. Stephan Buderus, Bonn |
Dr. Ute Martens, Tübingen |
Dr. Martin Classen, Bremen |
Dr. Harald Matthes, Berlin |
Dr. Dipl. Psych. Ulrich Cuntz, Prien |
Prof. Dr. Dipl. Psych. Hubert Mönnikes, Berlin |
Prof. Dr. Ulrike Ehlert, Zürich |
Prof. Dr. Gabriele Moser, Wien |
PD Dr. Sigrid Elsenbruch, Essen |
Prof. Dr. Stefan Müller-Lissner, Berlin |
Prof. Dr. Paul Enck, Tübingen (DGNM) |
PD Dr. Frauke Musial, Essen |
Dr. Axel Enninger, Stuttgart |
PD Dr. Bärbel Otto, München |
Prof. Dr. Wolfgang Fischbach, Aschaffenburg |
PD Dr. Christian Pehl, Vilsbiburg (DGNM) |
PD Dr. Andreas Franke, Flensburg |
Dr. Andrea Riedl, Berlin |
Prof. Dr. Thomas Frieling, Krefeld |
Dr. Dipl.-Psych. Christina Rosenberger, Essen |
PD Dr. Jürgen Gschossmann, Forchheim |
PD Dr. Dieter Saur, München |
Dr. Felix Gundling, München |
Prof. Dr. Michael Schemann, München |
Dr. MSc Sebastian Haag, Essen |
PD Dr. Anjona Schmidt-Choudhury, Bochum (GPGE) |
Anna-Sophia Habbel, Berlin |
Dr. Marco Schmidtmann, Berlin |
Dr. Hermann Harder, Mannheim |
Dr. Stefan Schmiedel, Hamburg |
Dr. Winfried Häuser, Saarbrücken |
Prof. Dr. Antonius Schneider, München |
PD Dr. Ulf Helbig, Oldenburg |
Prof. Dr. Jörg-Dieter Schulzke, Berlin |
Prof. Dr. Peter Henningsen, München |
Dr. Holger Seidl, München |
PD Dr. Jörg Hoffmann, Ludwigshafen |
Prof. Dr. Wolfgang Senf, Düsseldorf |
Prof. Dr. Stephan Hollerbach, Celle |
Dr. Dipl. Psych. Sefik Tagay, Düsseldorf |
Prof. Dr. Gerald Holtmann, Essen |
PD Dr. Hans-Joachim Thon, Bonn |
Petra Ilgenstein |
PD Dr. Antje Timmer, München |
Prof. Dr. Michael Karaus, Göttingen |
Dr. Ivo van der Voort, Berlin |
Dr. Simone Kathemann, Essen |
PD Dr. Winfried Voderholzer, Berlin |
Prof. Dr. Martin Katschinski, Bremen |
Dr. Ulrich Wahnschaffe, Greifswald |
PD Dr. Jutta Keller, Hamburg |
Prof. Dr. Thilo Wedel, Kiel |
PD Dr. Andreas Klauser, Starnberg |
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1bng: Berufsverband Niedergelassener Gastroenterologen Deutschlands; DGAV: Deutsche
Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie; DGEM: Deutsche Gesellschaft für
Ernährungsmedizin; DGIM: Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin; DGNM: Deutsche
Gesellschaft für Neurogastroenterologie & Motilität; DGVS: Deutsche Gesellschaft für
Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten; GPGE: Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie
und Ernährung.
|
Die Erarbeitung der vorliegenden Leitlinie erfolgte parallel zur Erarbeitung der S
3-Leitlinie „Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms”
[1]. Dies begründete sich in der zweifachen Aufgabenstellung an die Autoren: einerseits
eine eigenständige Leitlinie zu intestinalen Motilitätsstörungen zu erarbeiten, andererseits
als Arbeitsgruppe (AG) 10 der Leitliniengruppe Reizdarmsyndrom Empfehlungen zu erstellen,
die die Abgrenzung verschiedener Motilitätsstörungen vom Reizdarm betreffen (vgl.
Teil III, Kapitel 3 – 3 der Leitlinie Reizdarmsyndrom) [1]. Deshalb arbeitete die Leitliniengruppe stets in enger Absprache mit allen AGs der
Leitlinie Reizdarmsyndrom. So konnten Überschneidungspunkte geklärt und zudem Ressourcen
und Kommunikationsstrukturen effektiv genutzt werden. Darüber hinaus bildeten sämtliche
Mitglieder aller AGs der Leitlinie Reizdarmsyndrom das erweiterte Expertengremium
([Tab. 1]), welches im Rahmen des Konsensusprozesses über die erarbeiteten Statements abstimmte
und Änderungsvorschläge einbringen konnte.
Für die spezielle Einschätzung gastroenterologischer Probleme bei Diabetes mellitus
verweisen wir zusätzlich auf die Nationale Versorgungsleitlinie „Neuropathie bei Diabetes
im Erwachsenenalter”, an der 2 Autoren der vorliegenden Leitlinie (J. Keller, P. Layer)
als Vertreter der DGVS mitgewirkt haben.
Die Struktur der Leitlinie orientiert sich am Deutschen Instrument zur methodischen
Leitlinien-Bewertung (DELBI) und entspricht den Anforderungen der AWMF an eine S 3-Leitlinie
[2].
Der zeitliche Ablauf des Konsensusprozesses ist in [Tab. 2] dargestellt.
Tab. 3 Suchstrategie.
Suchbegriffe |
Beschränkungen |
colonic diseases, functional[1]; functional bowel; functional gastrointestinal; irritable bowel; functional constipation;
functional abdominal pain; functional diarrhoea |
Untersuchungen an Menschen, nicht an Tieren
Zeitraum 1.1.1995 – 30.9.2008
Deutsch- und englischsprachige Übersichtsarbeiten |
dumping syndrome1
|
intestinal pseudo-obstruction1
|
Hirschsprung disease1
|
megacolon1
|
colonic pseudo-obstruction1
|
fecal incontinence1
|
pelvic floor* AND constipation1
|
gastrointestinal motility1
|
visceral myopathy |
nervous system diseases1 AND intestinal; enteric neuropathy |
flatulence; bloating |
diarrhoea AND motility; constipation AND motility; pain AND motility AND intestinal |
1Als verschlagworteter, sog. MESH-Begriff verwandt.
|
Tab. 2 Zeitlicher Ablauf der Leitlinienerstellung.
Termin |
Leitlinienabschnitt |
Januar 2008 |
Treffen des Koordinationsteams der Leitlinie Reizdarmsyndrom mit J. Keller zur Strukturplanung |
Frühling 2008 |
Zusammenstellung der Leitliniengruppe |
Sommer 2008 |
Erstellung des Fragenkatalogs |
Oktober–Dezember 2008 |
Systematische Literatursuche, Clinical Appraisal |
Januar–April 2009 |
Fertigstellung der ersten Statements und Kommentare |
Mai/Juni 2009 |
1. Delphi-Runde (Online-Kommentierung und Abstimmung) |
Juli/August 2009 |
Überarbeitung der Statements auf Basis der Delphi 1 Kommentare |
18./ 19. September 2009 |
Konsensuskonferenz in Hamburg |
Oktober 2009 |
2. Delphi-Runde (zwei Statements wurden nochmals umformuliert und daher erneut abgestimmt) |
November 2009–Juni 2010 |
Fertigstellung der ausführlichen Kommentare zu den Statements |
Juli–September 2010 |
Erstellung des Gesamtmanuskripts mit Literaturliste durch J. Keller in Abstimmung
mit den Koautoren |
Das Manuskript der vorliegenden Leitlinie wurde federführend durch PD Dr. J. Keller
in Abstimmung mit den anderen Mitgliedern der Leitliniengruppe und mit methodologischer
Unterstützung durch Dr. MSc V. Andresen und Dr. J. C. Preiß erstellt und von der DGVS
und der DGNM autorisiert. Die Leitlinie soll voraussichtlich in 5 Jahren aktualisiert
werden.
Ein ausführlicher Methodenreport zu dieser Leitlinie ist online im Leitlinienregister
der AWMF (http://www.awmf.org/leitlinien) publiziert.
Literatursuche
Die systematische Literatursuche erfolgte durch Dr. I. van der Voort und PD Dr J.
Keller mit Unterstützung der Koautoren und des Leitliniensekretariats der DGVS. Für
die Literatursuche wurde die für die Leitlinie Reizdarmsyndrom definierte Basissuche
um motilitätsspezifische Begriffe ergänzt und die folgenden Datenbanken bis September
2008 durchsucht: MEDLINE, PREMEDLINE, PsycINFO, CAMbase und Cochrane Central Register
of Controlled Trials. Die Literatursuche bezog sich der Aufgabenstellung entsprechend
auf unterschiedliche Krankheitsbilder. Die angewandte Suchstrategie mit Suchbegriffen
und Beschränkungen ist in [Tab. 3] aufgeführt. Diese Literatursuche ergab für den bereits begrenzten Zeitraum 1.1.1995
bis 30.9.2008 19 138 Literaturstellen, davon 4107 deutsch- oder englischsprachige
Übersichtsarbeiten. Da diese Zahl für eine umfassende Durchsicht und Beurteilung völlig
inadäquat war, und auch mit Unterstützung des Methodik-Experten Dr. J. C. Preiß keine
sinnvolle weitere Filterung für die Literatursuche gefunden werden konnte, wurde folgendermaßen
vorgegangen: Beim Heraussuchen geeigneter Arbeiten wurde mit dem aktuellsten Review
begonnen und die Analyse dann rückwärts über 1800 Reviews durchgeführt. Dementsprechend
wurden Übersichtsarbeiten, die zwischen Juni 2004 und September 2008 publiziert worden
waren, berücksichtigt. Es wurden diejenigen Arbeiten herausgefiltert, die am besten
zur Beantwortung der Fragen des Fragenkatalogs geeignet erschienen. Zusätzlich sollten
möglichst zu jedem Krankheitsbild bzw. zu jeder Fragestellung mehrere Reviews unterschiedlicher
Autorengruppen vorliegen. Basierend auf dieser Strategie wurden 238 relevante Übersichtsarbeiten
identifiziert. Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden zusätzlich Arbeiten herangezogen,
um die die Mitglieder der Leitliniengruppe wussten, die zuvor nicht erfasst worden
waren. Diese Ergänzungen waren nicht auf Reviews beschränkt. Für alle handlungsleitenden
Statements wurden außerdem gezielte Literatursuchen durchgeführt. Auf deren Ergebnis
beruht die Einschätzung der Evidenzgrade. Diese zusätzlichen Literatursuchen beinhalten
die im Rahmen der Leitlinie bearbeiteten Krankheitsbilder (vgl. Statement 3) und beziehen
sich auf klinische Studien („clinical trial”, „randomized controlled trial” oder „meta-analysis”)
zur Diagnostik oder Therapie des jeweiligen Krankheitsbilds beim Menschen. Sie ergaben
17 Literaturstellen zur chronischen intestinalen Pseudoobstruktion, 10 zur akuten
kolonischen Pseudoobstruktion, 5 zu Megakolon/Megarektum, 48 zum Morbus Hirschsprung,
29 zu „slow transit constipation” und 48 zur Beckenbodendyssynergie. Hierbei fanden
sich durchaus Arbeiten (von 157 gefundenen Quellen wurden 4 zitiert), die Teilaussagen
einzelner Statements mit einem hohen Evidenzgrad belegen (1a oder 1b, z. B. zur medikamentösen
Therapie der akuten kolonischen Pseudoobstruktion). Dennoch war in der Regel für die
Beurteilung des Gesamtstatements nur die Angabe eines niedrigen Evidenzgrads möglich
(vgl. Statements 6 – 16), entweder, weil auf eine inhomogene Patientengruppe extrapoliert
wurde oder wegen niedriger Evidenz für andere Aspekte des Statements.
Methodische Unterstützung zu anderen Bereichen der Leitlinienarbeit erhielten die
Autoren durch Dr. K. Dathe (Leitliniensekretariat DGVS) sowie W. Höhne und T. Karge
(beide TMF-Leitlinien-Plattform).
Evidenzgrad und Empfehlungsstärke
Evidenzgrad und Empfehlungsstärke wurden analog zu den Ausführungen in der Leitlinie
Reizdarmsyndrom definiert [1]. Prinzipiell wurden die Evidenzklasse und der Evidenzgrad entsprechend des Oxford-Centre
for Evidence Based Medicine eingeteilt (vgl. Tab. E-5 und E-6 der Leitlinie Reizdarmsyndrom) [1]
[3]. Die Vielzahl der zu bearbeitenden Krankheitsbilder erforderte aber häufig eine
übergreifende Formulierung der Statements. Zudem handelte es sich fast ausschließlich
um seltene Krankheitsbilder, zu denen es wenig gezielte diagnostische und therapeutische
Studien gibt. Deshalb ergab sich in den allermeisten Fällen der Evidenzgrad D (nur
für handlungsleitende Statements angegeben). Abweichend hiervon wurden einzelne Statements
mit einem höheren Evidenzgrad belegt, wenn die Formulierung des Statements dies zuließ
und entsprechende Arbeiten der Leitliniengruppe bekannt waren bzw. bei der gezielten
Literatursuche ermittelt werden konnten.
Die Empfehlungsstärke wurde für handlungsleitende Statements festgelegt in Abhängigkeit
von potenziellem Nutzen und Risiko der Intervention, Evidenzgrad, Patientenpräferenzen,
Umsetzbarkeit und mitunter ökonomischen Überlegungen. Die Empfehlungsstärke spiegelt
sich vor allem in der Formulierung der Empfehlungen wider und wurde nach GRADE eingeteilt
[4] ([Tab. 4]). Weil der Evidenzgrad (meist D, bez. Definition vgl. Tab. E-6 der Leitlinie Reizdarmsyndrom [1]) nur ein Kriterium für die Festlegung der Empfehlungsstärke darstellte, ist diese
in vielen Fällen hoch trotz häufig nicht unmittelbarer Belegbarkeit der Aussagen durch
hochwertige Studien. Ein Beispiel hierfür ist die Bewertung der Wichtigkeit der Aufrechterhaltung
eines adäquaten Ernährungsstatus bei Patienten mit schwersten Dünndarmmotilitätsstörungen
(chronische intestinale Pseudoobstruktion). Es gibt keine vergleichenden Studien zur
Ernährungstherapie bei diesen Patienten, dennoch besteht selbstverständlich eine starke
Empfehlung für die Aufrechterhaltung eines adäquaten Ernährungsstatus. Eine Herabstufung
der Empfehlungsstärke, die dies nur für einen Teil der Patienten als Therapieziel
fordert, wäre nicht zu rechtfertigen.
Tab. 4 Empfehlungsstärke.
Empfehlungsstärke |
Formulierung |
Bedeutung für Ärzte |
Bedeutung für Patienten |
Symbol |
stark positiv |
„soll” |
Die meisten Patienten sollten die empfohlene Intervention erhalten „Definitely Do it” |
Nahezu alle Patienten würden sich für die empfohlene Intervention entscheiden und
nur eine kleine Minderheit nicht. |
↑↑ |
abgeschwächt positiv |
„sollte”
oder
„kann” |
Unterschiedliche Entscheidungen sind bei verschiedenen Patienten angemessen, die von
der Situation des Patienten abhängen, aber auch von persönlichen Vorstellungen und
Präferenzen „Probably Do it” |
Eine Mehrzahl der Patienten (> 50 %) würde sich für die Intervention entscheiden,
aber viele auch nicht. |
↑ |
abgeschwächt negativ |
„sollte eher nicht” |
„Probably don’t do it” |
Eine Mehrzahl der Patienten (> 50 %) würde sich gegen die Intervention entscheiden,
aber viele auch nicht. |
↓↓ |
stark negativ |
„soll nicht” |
„Definitely don’t do it” |
Nahezu alle Patienten würden sich gegen die Intervention entscheiden und nur eine
kleine Minderheit nicht |
↓↓ |
unklar |
„keine Empfehlung” sollte eine begründete Ausnahme bleiben. In der klinischen Praxis
muss trotz fehlender Daten dennoch eine Entscheidung getroffen werden. |
←→ |
Die Konsentierung der Empfehlungen erfolgte parallel zur Leitlinie Reizdarmsyndrom
und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst erstellte die Leitliniengruppe
nach interner Diskussion eine erste Version der Empfehlungen. Zu diesen wurden alle
Mitglieder der Konsensusgruppe ([Tab. 1]) im Rahmen des sogenannten Delphi-Prozesses über das Portal Leitlinienentwicklung
(http://www.leitlinienentwicklung.de/) der TMF-Plattform (TMF: Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische
Forschung e. V.) online befragt. Zu jedem Statement musste die Frage: „Stimmen Sie
dieser Aussage zu?” mit „ja”, „eher ja”, „unentschieden”, „eher nein” oder „nein”
beantwortet werden. Die Antworten wurden quantitativ ausgewertet. Anhand der eingegangenen
Kommentare sollte eine Revision derjenigen Statements erfolgen, die nicht bereits
im Rahmen der ersten Abstimmungsrunde einen sehr hohen Grad uneingeschränkter Zustimmung
(> 90 %) erreicht hatten. Dies traf auf keines der Statements zu. Die Kommentare der
Onlinebefragung wurden jedoch unter den Autoren erneut diskutiert. Statements, bei
denen sich daraufhin Änderungsbedarf ergab, wurden im Rahmen eines zweiten Delphi-Prozesses
erneut „online” abgestimmt. Die Konsensuskonferenz wurde am 18./ 19.9.2009 durchgeführt.
Es handelte sich um einen moderierten Prozess, bei dem die Formulierung strittiger
Statements diskutiert und mittels TED-Verfahren abgestimmt wurde. Die hierbei bzw.
im Rahmen der beiden Delphi-Prozesse erzielten Ergebnisse spiegeln sich in den angegebenen
Konsensusstärken wider.
Zu jedem Statement, auch zu denen, die sich auf Definitionen, Pathophysiologie und
Histopathologie beziehen, wurde die erzielte Konsensusstärke angegeben. Für alle Statements
wurde mindestens Konsens (Zustimmung von > 75 – 95 % der Teilnehmer), für die meisten
ein starker Konsens (Zustimmung von > 95 % der Teilnehmer) erzielt.
Definitionen, Pathophysiologie und Histopathologie
Definitionen, Pathophysiologie und Histopathologie
Statement 1
Intestinale Motilitätsstörungen beruhen auf einer neuromuskulären Dysfunktion von
Dünn- und/oder Dickdarm einschließlich Rektum. Sie können primär, das heißt ohne verursachende
Erkrankung oder sekundär infolge einer anderen Erkrankung/Störung auftreten.
[Starker Konsens]
Erläuterungen
Bei den primären Erkrankungen lassen sich in seltenen Fällen bestimmte genetische
Veränderungen nachweisen (treten meist sporadisch auf, aber familiäre Häufung möglich,
s. Erläuterungen zu 2.), allerdings ist die genetische Diagnostik nicht klinisch
etabliert. Zu den Ursachen einer sekundären intestinalen Motilitätsstörung zählen
neurologische oder rheumatologische Systemerkrankungen, Autoimmunerkrankungen, toxische
oder endokrine Neuropathien, Strahlenenteritis, eosinophile Gastroenteritis, Angioödem,
Paraneoplasien und postoperative oder postinfektiöse Zustände ([Tab. 5]) [5]
[6]
[7]
[8].
Tab. 5 Ursachen der chronischen intestinalen Pseudoobstruktion.
Myopathien
|
primäre Myopathien (Morbus Duchenne, myotone Dystrophie) |
autoimmune Myositis (primär oder bei rheumatologischen Systemerkrankungen) |
mitochondriale Myopathien (z. B. als MNGIE) |
Neuropathien
|
sporadische oder familiäre enterische Neuropathien (primäre Formen) |
mitochondriale Neuropathien (z. B. MNGIE) |
autoimmune Ganglionitis – idiopathisch – paraneoplastisch (z. B. bei kleinzelligem Bronchialkarzinom, Thymom, gynäkologischen
Tumoren) – post-/periinfektiös (z. B. Chagas-Erkrankung, CMV, EBV, Morbus Kawasaki) – bei anderen Autoimmunerkrankungen, z. B. Sklerodermie |
toxische Neuropathien (durch Alkohol [fetales Alkoholsyndrom], Chemotherapeutika
und Medikamente, z. B. Vincristin, Diltiazem, Nifedipin) |
endokrine Neuropathien (z. B. bei Diabetes mellitus, Hypoparathyreoidismus, Hypothyreose,
Phäochromozytom) |
neurologische Systemerkrankungen (z. B. Morbus Parkinson, Encephalomyelitis disseminata) |
unklare Zuordnung, Misch- und seltene Formen
|
Ehlers-Danlos-Syndrom |
eosinophile Gastroenteritis |
Angioödem |
Morbus Crohn |
Strahlenenteritis |
Statement 2
Prinzipiell wird pathophysiologisch zwischen intestinalen Neuropathien und Myopathien
unterschieden. Mischformen kommen aber ebenfalls vor, und die pathophysiologische
Bedeutung sonstiger Strukturen (interstitielle Cajal-Zellen [ICC], enterische Gliazellen)
wird zunehmend evident.
[Starker Konsens]
Erläuterungen
Die Motilität von Dünn- und Dickdarm wird maßgeblich durch folgende Zellsysteme innerhalb
der Darmwand reguliert: das enterische Nervensystem (ENS), die glatte Muskulatur und
die interstitielle Cajalzellen (ICC). Isolierte oder kombinierte Störungen dieser
Strukturen können zu klinisch relevanten intestinalen Motilitätsstörungen führen.
Allerdings spielt auch die extrinsische Vernetzung zum zentralen Nervensystem eine
wichtige regulative Rolle [9], und neuropathische intestinale Motilitätsstörungen werden zwar in den meisten Fällen
durch Störungen des ENS verursacht, können aber auch auf Erkrankungen des autonomen
und/oder zentralen Nervensystems beruhen [5]
[6]
[7] ([Tab. 5]).
Die durch eine internationale Expertengruppe aktuell erarbeitete „London Klassifikation”
unterteilt die sog. gastrointestinalen neuromuskulären Pathologien in enterische Neuropathien,
Myopathien und Mesenchymopathien und ordnet den gastrointestinalen Motilitätsstörungen
entsprechende histopathologische Korrelate und Beurteilungskriterien zu [10].
Enterische Neuropathien
Die funktionelle Integrität der Verdauungsorgane setzt ein komplexes Zusammenspiel
von Motilität, exo- und endokriner Sekretion, Vasomotorik und Mikrozirkulation sowie
Immun- und kontrollierten Entzündungsvorgängen voraus [9]
[11]
[12]. Die Steuerung all der genannten Funktionen obliegt dem ENS, dessen intramurale
Nervenplexus im Sinne eines sog. „Brain-in-the-gut” in hohem Maße autonom auf Organebene
agieren können [9]
[13]. Es verwundert nicht, dass jegliche Veränderung in den komplexen neuronalen Schaltkreisen
des ENS zu schweren Veränderungen unter anderem der intestinalen Motilität führen
kann [14]. Eine Schädigung des ENS kann primär (idiopathisch) oder sekundär infolge eines
breiten Spektrums an Erkrankungen auftreten ([Tab. 5]) [6]
[15].
Primäre, genetische Ursachen mit der Konsequenz einer Neurodegeneration wurden vor
allem für Patienten mit chronischer intestinaler Pseudoobstruktion (CIPO) beforscht.
Mehrheitlich ist in diesen Fällen von sporadischen Formen auszugehen, die einer genetischen
Diagnostik bisher nicht zugänglich sind [6]
[15]
[16]. Auch die aus Einzelfallberichten bekannten Gene und Loci bei familiären Formen
haben bisher keinen Stellenwert in der Routinediagnostik. Es sind autosomal dominante
und autosomal rezessive Erbgänge (Transkriptionsfaktor SOX10 auf Chromosom 22 [22
p12], DNA Polymerase Gamma Gen [POLG] auf Chromosom 21 [21q17] und ein Locus auf Chromosom
8) sowie ein X-chromosomaler Erbgang (Deletion auf Exon 2 des Filamin-A-Gens) bekannt
[16]
[17]
[18]
[19]. Familiäre Fälle können auch mit der mitochondrialen neurogastrointestinalen Encephalomyopathie
(MNGIE) einhergehen, die mit dem Thymidin Phosphorylase Gen (TP) (oder Synonym: endothelial
cell growth factor-1, ECGF1) auf Locus 22q13.32qter assoziiert ist [20]. Hierbei gehen subokklusive Episoden mit Lactat-Azidose, neurologischen Symptomen,
Skelettmuskelveränderungen und ultrastrukturellen Mitochondrienveränderungen einher
[20].
Auch der Morbus Hirschsprung, bei dem es angeboren zu einer segmental kompletten Aganglionose
des submukösen und myenterischen Plexus kommt, kann in familiärer Häufung oder sporadisch
auftreten. Die Ursache für diese Störung ist heterogen und bisher nur inkomplett verstanden
(RET, Proto-Onkogene und Gene der Liganden [z. B. glial cell-derived neurotrophic
factor und Neurturin]; Endothelin-3, Endothelin-B Receptor und type1 endothelin-converting
enzyme; Transcriptionsfaktoren Sox10 und SMADIP1) [21]. Es ist bekannt, dass diese Gene eine entscheidende Rolle bei der neuronalen Differenzierung
und Ausreifung spielen, dies wirkt sich aber ebenfalls (noch) nicht auf die Primärdiagnostik
aus.
Zu den sekundären Ursachen enterischer Neuropathien zählen toxische oder endokrine
Neuropathien, Strahlenenteritis, eosinophile Gastroenteritis oder Angioödem ([Tab. 5]). Auch die inflammatorisch-neurodegenerative Entität der myenterischen Ganglionitis
tritt partiell sekundär paraneoplastisch (z. B. bei kleinzelligem Lungenkarzinom,
Thymom, Karcinoid, Neuroblastom oder gynäkologischen Tumoren), postinfektiös (Chagas-Erkrankung,
Kytomegalie-Virus, Ebstein-Barr-Virus, Morbus Kawasaki) oder bei anderen Autoimmunerkrankungen
(z. B. Sklerodermie) auf, kann aber ebenso ohne nachweisbare Primärerkrankung idiopathisch
vorkommen [7]
[22]
[23]. Myenterische Ganglionitiden wurden bereits mit zahlreichen neuropathischen Motilitätsstörungen
des tubulären Gastrointestinaltrakts, so der Achalasie, Gastroparese, CIPO und „slow-transit-constipation”
(STC) in Verbindung gebracht [24].
Enterische Neuropathien können die folgenden histopathologischen Merkmale aufweisen:
vollständiger oder partieller Verlust, Hyperplasie, Ektopie, entzündliche oder sekundäre
degenerative Schädigungen und Reifungsstörungen von enterischen Nervenzellen sowie
Veränderungen der enterischen Gliazellen.
Empfehlungen, wann und wie aussagekräftige Gewebeproben gewonnen, wie sie histologisch
untersucht werden sollten sowie Empfehlungen zur standardisierten Befunderstellung
wurden kürzlich von einer internationalen Expertengruppe erarbeitet und publiziert.
Die wichtigsten Angaben hierzu sind im Kapitel Differenzialdiagnostik aufgeführt.
Sie beziehen sich nicht nur auf enterische Neuropathien, sondern auch auf Myopathien,
Mesenchymopathien und kombinierte Störungen [25].
Enterische Myopathien
Viszerale enterische Myopathien sind insgesamt selten. Sie treten überwiegend kongenital
(familiär oder sporadisch) auf, häufig mit vakuolärer Degeneration und Verlust von
Muskelfasern der M. propria und konsekutiver Darmdilatation, nur in Ausnahmefällen
mit prädominanter Hypertrophie und/oder Engstellung des Darmes [26]. Oft sind neben mehreren Abschnitten des tubulären Gastrointestinaltrakts auch die
Muskulatur der Gallenblase und der harnableitenden Wege betroffen. Auch inflammatorische
intestinale Myopathien (enterische Leiomyositiden) sind in der Literatur beschrieben,
jedoch basierend auf nur wenigen Fallberichten [27]. Klinisch äußern sich viszerale enterische Myopathien meist mit dem Krankheitsbild
der CIPO [26]. Die mitochondriale neurogastrointestinale Encephalomyopathie schädigt muskuläre
und neuronale Strukturen [20].
Enterische Myopathien können die folgenden histopathologischen Merkmale aufweisen:
abnorme Anlage der Muskelschichten, primäre oder sekundäre degenerative sowie entzündliche
Schädigungen von glatten Muskelzellen und Schädigungen des glattmuskulären kontraktilen
Apparats [25].
Enterische Neuro-Gliopathien und Mesenchymopathien
Enterische Glia-Zellen (EGC) wurden lange Jahre überwiegend als mechanische Stütz-
und Bindekomponente entlang axonaler und innerhalb ganglionärer Strukturen („glia”
abgeleitet aus dem Griechischen „Kleben”) bewertet [28]. Neuere Grundlagenstudien mehren Hinweise, dass EGC darüber hinaus von Bedeutung
für die neuronale Homeostase, Neurotransmission und Regulation von intestinalen Entzündungsprozessen
sind [28]
[29]
[30]
[31]. Aus klinischer Sicht sind Reduktionen der EGC-Anzahl, allein oder gepaart mit Veränderungen
enteraler Neuronen oder der ICC, bei konservativ unbeherrschbarer STC [32]
[33], therapierefraktärer anorektaler Entleerungsstörung [34]
[35] oder idiopathischem oder chagasischem Megakolon [36] beschrieben – also Krankheitsbildern, bei denen eine schwere Obstipation das führende
Symptom darstellt.
Unter den mesenchymalen Zellen der Darmwand gilt den ICC hohe Aufmerksamkeit [37]
[38]
[39], und enterische Mesenchymopathien sind histopathologisch im Wesentlichen durch quantitative
und/oder morphologische Veränderungen dieser Zellen gekennzeichnet [22]
[24]
[40]. Die ICC entsprechen modifizierten Muskelzellen, die analog zu den Purkinje-Fasern
des Herzens zur spontanen Depolarisation fähig sind. Verbreitete Thesen sind, dass
diese Zellen 1.) die sog. „slow waves” triggern oder modulieren, also rhythmische
Erregungsfronten beeinflussen, die für eine integrative Darmmotilität wichtig sind;
2.) eine Mediatorfunktion in der Signalkette zwischen Neuron und glatter Muskelzelle
ausüben; 3.) als Mechanorezeptor agieren [39]. Erhebliche Lücken in der wissenschaftlichen Kausalkette erlauben jedoch bislang
keine abschließende Bewertung [38]
[41]. Auffällig ist aber, dass eine Reduktion von Größe, Zahl oder Ausprägung der Fortsätze
der ICC bei fast allen untersuchten intestinalen Motilitätsstörungen beschrieben wurde,
so beim Morbus Hirschsprung, bei chronischer Obstipation, insbesondere vom „Slow transit”-Typ,
Megakolon, Gastroparese, Pylorusstenose, Achalasie und CIPO [38]. Als Antwort auf Hypoxie, mechanische Obstuktion oder Entzündungsreiz kann sich
die phänotypische Ausprägung der ICC der von Myofibroblasten oder glatten Muskelzellen
annähern, nach Normalisierung des Mikroumfelds ist dies reversibel [42].
Statement 3
Als intestinale Motilitätsstörungen im engeren Sinn etabliert sind die chronische
intestinale Pseudoobstruktion (CIPO), die akute kolonische Pseudoobstruktion (ACPO,
Ogilvie-Syndrom), das idiopathische Megakolon/-rektum (IMC), der Morbus Hirschsprung,
die „slow transit constipation” (STC) und anorektale Funktionsstörungen (Beckenbodendyssynergie,
Anismus, Beckenbodenspastik).
[Starker Konsens]
Erläuterungen
CIPO
Die CIPO ist eine schwere intestinale Motilitätsstörung, die intermittierend oder
chronisch zu (Sub-)Ileussymptomen und entsprechenden Befunden in der bildgebenden
Diagnostik führt, ohne dass eine intestinale Obstruktion vorliegt. Die Kombination
mit bildgebenden Befunden, die das Vorliegen eines (Sub-)IIeuszustands belegen, wird
nicht von allen Autoren gefordert, erscheint der Leitliniengruppe aber erforderlich
zwecks Abgrenzung gegenüber anderen, weniger schweren Erkrankungen. Die Motilitätsstörungen
betreffen bei CIPO vorwiegend den Dünndarm, können sich aber auch an allen anderen
Abschnitten des Magendarmtrakts und im Bereich anderer Organe (Urogenitaltrakt) manifestieren
[5]
[6]
[7]. Die typischen Symptome und die Häufigkeit ihres Vorkommens sind in [Tab. 6] dargestellt [6] Die histologische Aufarbeitung transmuraler Präparate kann ursächlich enterische
Neuropathien, Mesenchymopathien oder Myopathien zeigen, wobei Mischformen nicht selten
sind (vgl. Kommentar zu Statement 2) [43]. Für die insgesamt sehr seltene Krankheitsentität liegen keine detaillierten epidemiologischen
Daten vor, in der Vielzahl von Fallberichten überwiegt im Erwachsenenalter die Beschreibung
von enterischen Neuropathien [7].
Tab. 6 Symptome bei chronischer intestinaler Pseudoobstruktion (in % der Patienten) [45].
Überblähung |
75 |
abdominelle Schmerzen |
58 |
Übelkeit |
49 |
Verstopfung |
48 |
retrosternales Brennen/Regurgitationen |
46 |
Völlegefühl |
44 |
vorzeitige Sättigung |
37 |
Erbrechen |
36 |
epigastrische Schmerzen/Brennen |
34 |
Durchfall |
k. A.[1]
|
Gewichtsverlust |
k. A. |
1k. A.: keine Angaben.
|
Zur Abgrenzung milderer intestinaler Motilitätsstörungen, bei denen keine Ileus-artigen
Episoden auftreten, wird von einigen Autoren der Begriff „enterale Dysmotilität” benutzt
[44]. Dies scheint sinnvoll, der Begriff ist aber nicht allgemein etabliert.
ACPO (Ogilvie-Syndrom)
Die ACPO ist charakterisiert durch eine massive Kolondilatation, die sich auf dem
Boden einer Motilitätsstörung ohne Vorliegen einer mechanischen Obstruktion im Verlauf
weniger Tage entwickelt. Sie tritt bei Patienten mit gravierenden, akuten Grunderkrankungen
oder postoperativ auf [46]
[47]
[48]. Abzugrenzen sind andere Ursachen einer Kolondilatation, wie das toxische Megakolon
(z. B. bei Clostridium-[difficile]-Infektion oder bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
[CED]) [49]. Die Pathogenese der ACPO ist nicht vollständig verstanden. Vermutlich führen metabolische,
retroperitoneal- oder spinal-traumatische oder pharmakologische Einflüsse zu einer
Dysbalance der autonomen Innervation, bei der kontraktilitätsfördernde parasympathische
Einflüsse in den Hintergrund gedrängt werden [50].
IMC
Das IMC ist definiert als anhaltende Dilatation eines Kolonsegments, der keine organische
Erkankung zugrunde liegt. Klinische Konsequenz kann eine therapierefraktäre Obstipation
sein [51]. Umgekehrt kann sich ein Megakolon auch als Endzustand nach jahrelanger schwerer
chronischer Obstipation ausbilden [52]. Anders als beim Morbus Hirschsprung, der ACPO oder sekundärem toxischen Megakolon
kann keine zugrunde liegende organische Erkrankung gesichert werden [51]. In Ermangelung allgemein anerkannter klinisch-radiologischer Kriterien (häufig
wird ein Rektumdurchmesser am Beckeneintritt von 6,5 cm zugrunde gelegt) und pathognomonischer
histopathologischer Korrelate bleibt die exakte Prävalenz unklar [24]. Das IMC gilt aber als sehr selten. Gezeigt werden konnten – ohne aber allgemeingültige
Stigmata – ursächliche pathologische Veränderungen aller 3 Effektorkomponenten der
sensomotorischen Darmfunktion, also enterische Neuro-/Myo- und Mesenchymopathien [51].
Morbus Hirschsprung
Der Morbus Hirschsprung ist durch ein angeboren tonisch-kontrahiertes, damit funktionell
obstruiertes distales Darmsegment mit konsekutiv massiv prästenotisch dilatiertem
Darm charakterisiert. Ursache ist das segmental völlige Fehlen von enterischen Nervenzellen
(Aganglionose) im Plexus myentericus und submucosus und damit das Fehlen relaxierender
Neurotransmitter [8]
[53]. Überwiegend ist das Rektum betroffen, jedoch sind Manifestation und Schweregrad
der Störung variabel, welche u. a. durch die Länge des aganglionären Segments bestimmt
werden [21]. Die Prävalenz des Morbus Hirschsprung beträgt ca. 1:5000 Lebendgeburten mit Bevorzugung
des männlichen Geschlechts (ca. 3:1). Neben einem isolierten Auftreten des Morbus
Hirschsprung kann diese Symptomatik auch Bestandteil eines syndromalen Krankheitsbilds
sein und kommt beispielsweise bei 10 % der Patienten mit Morbus Down vor [24].
STC
Die STC ist charakterisiert durch eine starke, das Krankheitsbild dominierende Verzögerung
des Kolontransits (cave: sekundäre Verzögerung des Kolontransits bei Stuhlentleerungsstörung
möglich), die z. B. durch Markertechniken (Radio-Isotope oder radioopaque Marker)
diagnostiziert werden kann [54]. Eine prägnante deutsche Bezeichung ist für dieses Krankheitsbild nicht etabliert,
weshalb wir den englischen Begriff benutzen. Ursache können enterische Neuro-, Myo-
und Mesenchymopathien, alleine oder als Mischform sein [55]. Die Anzahl der enterischen Nervenzellen ist besonders häufig vermindert (oligo-neuronale
Hypoganglionose). Resultat ist eine verschlechterte propulsive Kolonmotilität, welche
wiederum auf einer Reduktion der hochamplitudigen, propulsiven Kontraktionen, die
Massenbewegungen des Koloninhalts induzieren, beruhen kann. Bei der sog. Kolonparese
fehlt die normale tonische Kontraktion des Kolons in Antwort auf eine hochkalorische
Mahlzeit völlig. Betroffene, häufig junge Frauen, sprechen auf konservative Maßnahmen
einschließlich einer hoch dosierten Laxantientherapie meist nicht an [52]
[56]
[57]. Etliche Patienten mit STC weisen auch Motilitätsstörungen der weiter proximalen
Abschnitte des Gastrointestinaltrakts auf (v. a. Dünndarm) [58]
[59]. Dies kann für therapeutische Entscheidungen relevant sein [60].
Beckenbodendyssynergie
Die Beckenbodendyssynergie ist definiert als frustrane oder eingeschränkte Entleerung
trotz versuchter Defäkation mit Pressen bei Ausschluss eines mechanischen Entleerungshindernisses.
Sie beruht auf einer willkürlich, aber unbewusst gesteuerten mangelnden Koordination
zwischen intrarektaler Druckerhöhung und Relaxation des Sphinkterapparats [57]. Dies führt einerseits zur fehlenden Relaxation oder paradoxen Anspannung des internen
und externen M. sphincter ani und des M. puborectalis [61]. Es resultiert ein unzureichendes Aufrichten und Begradigen des rektoanalen Winkels
sowie Verkürzen und Öffnen des funktionellen Analkanals. Andererseits kann der intrarektale
Druckanstieg zu niedrig sein. Angaben zur Prävalenz bewegen sich in einer Spanne von
4,6 – 11 %, mit einer erhöhten Prävalenz bei Frauen ohne Altersabhängigkeit [62].
Von der Beckenbodendyssynergie abzugrenzen sind die sehr viel selteneren unwillkürlichen,
spontanen Kontraktionen des Sphinkterapparats, die als Anismus bezeichnet werden und
die Beckenbodenspastik mit unwillkürlichen, reizgetriggerten Kontraktionen. Diesen
beiden Krankheitsbildern liegt jeweils eine nachweisbare extrapyramidale bzw. eine
Läsion des ersten Motorneurons zugrunde.
Unspezifische sekundäre Störungen der intestinalen Motilität
Störungen der intestinalen Motilität treten sehr häufig im Rahmen akuter Erkrankungen,
z. B. bei gastrointestinalen Infekten auf, sind dann aber meist selbstlimitiert und
nicht Thema der Empfehlungen. Sekundäre unspezifische Störungen von Dünn- und Dickdarmmotilität
treten in chronischer Form als Folge von Erkrankungen wie Dumping-Syndrom, Gallensäuremalabsorption,
Kohlenhydratmalabsorption, bei chronischer Inflammation (z. B. CED) und bakteriellem
Dünndarmüberwuchs auf (umgekehrt kann beispielsweise der bakterielle Dünndarmüberwuchs
mit Malabsorption auch Folge einer CIPO sein). Klinisch steht hier meist das Symptom
Durchfall im Vordergrund. Auch die in [Tab. 5] aufgeführten möglichen Ursachen einer CIPO können mit weniger ausgeprägten sekundären
Motilitätsstörungen einhergehen. Darüber hinaus führt eine partielle Obstruktion des
Darmlumens (larvierte Obstruktion) zu Änderungen der Motilität, teils bevor sich die
Obstruktion mithilfe bildgebender Verfahren darstellen lässt [63].
(Differenzial-)Diagnostik
(Differenzial-)Diagnostik
Statement 4
Die Symptomatik lässt weder eine sichere Differenzierung zwischen mechanischer Obstruktion
und Motilitätsstörung, noch zwischen etablierten Motilitätsstörungen und einem Reizdarmsyndrom
zu. Dies gilt insbesondere bei moderaten Beschwerden, die bei den meisten Patienten
vorliegen.
[Starker Konsens]
Erläuterungen
Zu den unspezifischen Symptomen intestinaler Motilitätsstörungen zählen Übelkeit,
Erbrechen, abdominelle Schmerzen, Völlegefühl, Blähungen, Diarrhö und/oder Obstipation.
Sofern andere Ursachen ausgeschlossen sind, sprechen isolierte dyspeptische Beschwerden
für eine Dysmotilität des oberen Gastrointestinaltrakts (GIT), eine isolierte Obstipation
für eine Dysmotilität des unteren GIT. Eine Überlappung der Symptome ist aber häufig,
und eine exakte Organzuordnung anhand der Symptomatik nicht möglich. Bei schweren
intestinalen Motilitätsstörungen kann es (infolge einer bakteriellen Fehlbesiedlung
und/oder der reduzierten Absorptionskapazität des Darmes) zu Zeichen der (generalisierten)
Malabsorption kommen. Rezidivierendes Erbrechen und/oder chronische Diarrhöen können
zu sämtlichen Manifestationen der Exsikkose und des Elektrolytmangels führen. Sonstige
extraintestinale Begleitsymptome finden sich vor allem bei Motilitätsstörungen, die
im Rahmen einer Systemerkrankung bzw. als Folge anderer Erkrankungen auftreten (z.
B. Sklerodermie, Morbus Parkinson) [5]
[6]
[7]. Die Schwere der gastrointestinalen Symptome lässt keine zuverlässigen Rückschlüsse
auf die zugrunde liegende Ursache zu. Schwerste Beschwerden im Sinne eines akuten
Abdomens/Ileus sprechen aufgrund der relativen Häufigkeit der Krankheitsbilder in
erster Linie für eine mechanische Obstruktion, können aber auch durch eine CIPO hervorgerufen
werden.
Statement 5
Die differenzialdiagnostische Abgrenzung ausgeprägter intestinaler Motilitätsstörungen
beispielsweise vom RDS ist bei Ausschluss einer mechanischen Obstruktion anhand der
folgenden Kriterien möglich: Ileus- bzw. Subileusepisoden (CIPO), morphologische Veränderungen
wie Megakolon und Megarektum, stark verzögerter Kolontransit, Nachweis einer Beckenbodendyssynergie
(mit Ansprechen der Symptomatik auf gezielte Therapie), typische histopathologische
Befunde (Morbus Hirschsprung) bzw. ausgeprägte Veränderungen der neuromuskulären intestinalen
Strukturen und/oder der manometrisch zu erfassenden Motilitätsmuster.
[Starker Konsens]
Statement 6
Bei Patienten mit Verdacht auf eine intestinale Motilitätsstörung als Ursache der
Symptomatik soll eine Stufendiagnostik erfolgen mit Laboruntersuchungen, bildgebenden
Untersuchungen (Sonografie, Endoskopie, Radiologie), Transitzeitbestimmungen, intraluminalen
Manometrien und histologischen Untersuchungen der neuromuskulären Strukturen anhand
adäquater Biopsate. Das exakte diagnostische Prozedere (Auswahl und Reihenfolge der
Untersuchungen) soll individuell angepasst werden.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, Konsens]
Statement 7
Weitergehende und insbesondere invasive Funktionstests sollen auf Patienten mit Alarmsymptomen
oder fehlendem Ansprechen auf übliche therapeutische Maßnahmen beschränkt werden.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, starker Konsens]
Erläuterungen zu Statements 5 – 7
Das exakte diagnostische Prozedere (Auswahl und Reihenfolge der Untersuchungen) soll
bei Patienten mit V. a. intestinale Motilitätsstörung individuell angepasst werden,
im Allgemeinen gilt jedoch:
Die bildgebenden Untersuchungen (Radiologie/Endoskopie) dienen in erster Linie dem
Ausschluss einer mechanischen Obstruktion und sind vorrangig.
Mithilfe von Laboruntersuchungen wird vor allem nach behandelbaren Ursachen schwerer
Motilitätsstörungen bzw. sekundären Formen sowie nach Komplikationen gesucht. Wegen
der geringen Invasivität und der möglichen therapeutischen Konsequenzen sollten sie
frühzeitig erfolgen.
Motilitätsmessungen im engeren Sinn (Transitzeitbestimmungen oder intraluminale Manometrien)
sind indiziert, wenn sich in den vorgenannten Untersuchungen keine wegweisenden Befunde
ergeben, wenn es um die Quantifizierung des Ausmaßes (Ausdehnung, Schweregrad) einer
Motilitätsstörung oder die Klärung der Pathophysiologie geht. Im Vergleich zu Ösophagus-
und anorektalen Manometrien handelt es sich bei Dünndarm- und Kolonmanometrien um
aufwendige Untersuchungsverfahren, die nur bei ausgeprägter Symptomatik indiziert
sind ([Tab. 7]
[8]).
Tab. 7 Indikationen für die Durchführung einer antro-duodeno-jejunalen Manometrie (in Anlehnung
an [64]).
1. Klärung der Diagnose bei unklarer Übelkeit, Erbrechen oder anderen Symptomen, die
eine obere gastrointestinale Motilitätsstörung implizieren. |
2. Differenzierung zwischen myopathischer und neuropathischer Dysfunktion von Magen
oder Dünndarm. |
3. Identifizierung einer generalisierten Motilitätsstörung bei Patienten mit Dysmotilität
des Kolons (z. B. chronische Obstipation), vor allem vor subtotaler Kolektomie. |
4. Konfirmation der Diagnose einer CIPO, wenn die Diagnose anhand klinischer und radiologischer
und ggf. histopathologischer Kriterien unklar bleibt. |
5. Suche nach einer möglichen mechanischen Obstruktion bei klinischen Hinweisen, aber
fehlendem Nachweis durch bildgebende Untersuchungen. |
6. Bestimmung, welche Organe transplantiert werden müssen (isolierte vs. multivskerale
Transplantation) bei Patienten mit CIPO, bei denen eine Dünndarmtransplantation vorgesehen
ist. |
7. Bestätigung der Diagnose Rumination. |
Tab. 8 Indikationen für die Durchführung einer Kolonmanometrie (in Anlehnung an [64]).
1. Untersuchung von Patienten mit schwerer Obstipation, welche nicht auf eine medikamentöse
Therapie anspricht und mit einem verzögerten Kolontransit assoziiert ist, ohne dass
ein Hinweis auf eine Entleerungsstörung besteht. |
2. Bestätigung eines chronischen Megakolons oder Megarektums bei Patienten mit Darmdurchmesser
> 10 cm bzw. 15 cm. |
3. Klärung der Pathophysiologie bei anhaltenden Symptomen nach Entfernung des aganglionären
Segments bei Kindern mit Morbus Hirschsprung. |
4. Untersuchung der Funktion eines abgeleiteten Kolons vor möglichem Verschluss des
Kolostomas. |
5. Vorhersage der Antwort auf antegrade Einläufe über zökales Stoma. |
Eine aussagekräftige histologische Diagnostik erfordert in aller Regel die Untersuchung
von tiefen Biopsien (Rektum) bzw. Vollwandbiopsaten durch spezialisierte Laboratorien
([Tab. 9], [10], [11]) [25]. Sie kommt deshalb nur bei schwerer Symptomatik in Betracht.
Tab. 9 Aussagekraft unterschiedlicher Biopsien für die Diagnostik intestinaler Motilitätsstörungen
(in Anlehnung an [25]).
Art der Biopsie |
Gewinnung |
Anwendungsgebiet/Aussagekraft |
konventionelle Mukosabiopsie |
endoskopisch |
– limitiert, da neuromuskuläre Strukturen (insbesondere submuköse und myenterische
Ganglien) nicht erfasst werden – dient vorwiegend dem Ausschluss differenzialdiagnostisch relevanter Erkrankungen
(z. B. Sprue) |
rektale Saugbiopsie |
endoskopisch, bei älterem Kindern/Erwachsenen 3 cm proximal der Linea dentata 2 –
3 Biopsien mit 3 mm Ø und 1 / 3 Submukosa (→ Plexus submucosus erfasst) |
– Standarddiagnostik des Morbus Hirschsprung bei Kindern – außerdem: (fam.) Erkrankung mit neuronalen (intranukleären) Einschlüssen, Amyloidose |
Ganzwandbiopsie |
Gewinnung nur chirurgisch möglich, deshalb – prüfen, ob Präparate von vorangehender Darmresektion vorhanden, – an Biopsie denken bei Anlage eines Entlastungsstomas oder OP wegen V. a. mechanische
Obstruktion, – sonst: laparoskopische oder laparoskopisch assistierte Biopsie an folgenden Stellen:
Magen: 9 cm proximal des Pylorus, anterior, mittig zwischen großer und kleiner Kurvatur
Dünndarm: 1. gut fassbare Jejunalschlinge bei generalisierter Erkrankung (ca. 15 cm distal
des Treitz’schen Bandes) oder das am stärksten dilatierte Segment bei lokalisierter
Erkrankung
Kolon: Colon descendens bei generalisierter Erkrankung oder das am stärksten dilatierte
Segment bei lokalisierter Erkrankung, ggf. durch seromuskuläre Biopsie |
– Erforderlich zur histopathologischen Diagnostik der meisten intestinalen Motilitätsstörungen,
da nur bei Ganzwandbiopsien die neuromuskulären Strukturen vollständig erfasst werden – bezüglich der detaillierten Anwendung und Aussagekraft vgl. [Tab. 11]
|
Tab. 10 Gewinnung und histopathologische Aufarbeitung intestinaler Ganzwandbiopsien (in Anlehnung
an [25]).
Größe |
ca. 2 cm Länge (Schnittfläche), artifizielle Dehnung bzw. Schrumpfung vermeiden |
Orientierung |
orthograde Ausrichtung der Darmwandschichten; Schnittfläche quer zur Darmachse |
Fixierung |
Formalin oder Paraformaldehyd und Paraffin-Einbettung, ggf. zusätzlich Nativ-Gewebe
tieffrieren für Enzymhistochemie, ggf. zusätzlich Fixierung für Transmissionselektronenmikroskopie
(TEM) |
Aufarbeitung |
Schnittdicke: 3 – 6 µm, Schnitte von 3 unterschiedlichen Stellen des Gewebeblocks
(Anfang, Mitte, Ende) anfertigen |
Färbungen |
Histochemie, Immunhistochemie, Enzymhistochemie (bezüglich Details vgl. [Tab. 11]) |
Tab. 11 Diagnostische Kriterien für die histopathologische Klassifizierung intestinaler neuromuskulärer
Erkrankungen (nach [10]).[1]
Diagnose |
QL/QT |
Minimum[2]
|
Zusatzuntersuchungen |
wichtigste Befunde |
Aganglionose |
QL/QT |
H&E oder EZH |
EZH (AChE) IHC (Calretinin)[3]
|
völliges Fehlen von Neuronen hypertrophe submukosale extrinsische Nerven |
Hypoganglionose |
QL |
H&E |
IHC (PGP9.5, NSE)2
|
starke Reduktion von Ganglien und Neuronen |
Ganglioneuromatose |
QL |
H&E |
IHC (PGP9.5, NSE, S 100)2
|
hamartomatöse Zunahme von Neuronen und Ganglien |
IND, Typ B |
QT |
EZH (LDH) |
|
> 8 Neurone in > 20 % von 25 submukosalen Ganglien |
degenerative Neuropathie |
QL |
H&E |
|
degeneratives zytologisches Bild |
inflammatorische Neuropathie |
QL QT |
H&E IHC (CD45, CD 3) |
|
starke Infiltrate od. Eosinophile ≥ 1 intraganglionäre oder > 5 periganglionäre Lymphozyten pro Ganglion |
abnormale Strukturen in Neuronen |
QL |
H&E |
IHC, (SUM01), TEM |
intraneuronale nukleäre Einschlusskörperchen, Megamitochondrien |
abnormes neurochemisches Coding |
QL/QT |
IHC[4]
IHC3
|
IHC (PGP9.5, NSE)2,
[5]
|
verminderte Immunfärbung im Vergleich zu Kontrollen Reduktion einer bestimmten neuronalen Subpopulation |
neuronale Unreife |
QL |
H&E |
EZH (LDH, SDH) |
Morphologisch unreife Neurone |
abnormale enterische Glia |
QL |
H&E |
IHC (S100, GFAP) |
deutliche Zunahme |
Fehlbildungen der Muscularis propria |
QL, QT |
H&E |
|
jede Abweichung von 2 Muskelschichten |
degenerative Leiomyopathie |
QL |
H&E |
Spezialfärbung[6], IHC, (SMA), TEM |
Schädigung und Verlust von Myozyten, Fibrose |
entzündliche Leiomyopathie |
QL |
H&E |
|
Infiltrat von Entzündungszellen |
Hyperplasie der Muscularis mucosae |
QL |
H&E |
|
verdickte Muscularis mucosae |
abnorme Filamentproteine |
QL |
IHC (SMA) |
|
Fehlen von SMA in der zirkulären Muskelschicht[7]
|
muskuläre Einschlusskörperchen |
QL,QT |
H&E PAS-Färbung TEM |
|
glattmuskuläre amphophile M-Körper glattmuskuläre Polyglucosan-Körper Megamitochondrien in Myozyten |
atrophe Desmose |
QL |
Spezialfärbung5
|
|
totales oder fokales Fehlen des Bindegewebsgerüsts in Muscularis propria |
abnormale ICC-Netzwerke |
QT |
|
IHC (CD117) IHC (Ano1) |
ICC um > 50 % reduziert im Vergleich zu Kontrollschnitten |
1CD117 ist synonym mit c-kit; Ano1 ist synonym mit DOG1; AChE: Acetylcholinesterase,
EZH: Enzymhistochemie, ICC: interstitielle Cajal-Zellen, GFAP: glial fibrillary acidic
protein, IHC: Immunhistochemie, IND: intestinale neuronale Dysplasie, LDH: Lactatdehydrogenase,
NSE: Neuron-spezifische Enolase, PAS: periodic acid-Schiff, PGP9.5: protein gene product
9.5, QL: qualitativ, QT: quantitativ, SDH: Succinatdehydrogenase, SMA: smooth muscle
alpha-actin, TEM Transmissionselektronenmikroskopie.
2Bezüglich Anforderungen an Aufarbeitung vgl. Tab. 10.
3Allgemeine neurale Marker zum Vergleich (Alternativen: Hu C/D, Neurofilament).
4Bislang nicht definiert, am häufigsten benutzt werden: NO, ChAT, SP, VIP, dies sind
aber keine Empfehlungen für die Routinepathologie.
5Panneuronale Marker werden hier benutzt, um festzustellen, ob die absolute Zahl der
Neurone reduziert ist.
6Trichrom-, van-Giesson- oder Picrosirius-Färbung.
7Regional unterschiedlich, dies ist ein normaler Befund im Ileum.
|
Ein sinnvolles diagnostisches Vorgehen ist im Folgenden für die einzelnen definierten
Motilitätsstörungen beschrieben.
CIPO
Schwere der Symptomatik und deren Relevanz für Lebensqualität und Prognose rechtfertigen
bei Verdacht auf CIPO in aller Regel ausführliche und auch invasive diagnostische
Maßnahmen, auch wenn es aufgrund der Seltenheit des Krankheitsbilds nur wenige und
fast ausschließlich retrospektive Studien gibt, die untersuchen, welche diagnostischen
Verfahren angebracht sind.
Ziele der Diagnostik sind der Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen (mechanische
Obstruktion!), die Identifizierung sekundärer Formen, die Aufdeckung der zugrunde
liegenden Pathophysiologie und möglicher Komplikationen ([Tab. 12]). Zu diesem Zweck wird die vollständige endoskopische und/oder radiologische Darstellung
des GIT empfohlen, die ausführliche Untersuchung von Laborparametern sowie eine gastroduodenojejunale
Manometrie (V. a. bei fehlender oder unklarer Histologie). Ein Test zur Erfassung
einer bakteriellen Fehlbesiedlung als Komplikation einer CIPO sollte ebenfalls durchgeführt
werden [65]. Messungen der gastralen, intestinalen und kolonischen Motilität können therapeutisch
relevant sein. In Abhängigkeit von der individuellen Symptomatik können auch Motilitätsmessungen
an Ösophagus und Anorektum erforderlich sein. Aussagekräftige histopathologische Untersuchungen
erfordern geeignete Biopsate (Ganzwand) und adäquate Untersuchungstechniken, die in
der Regel nur von spezialisierten Laboratorien geleistet werden können (vgl. [Tab. 9], [10], [11]). Die sorgfältige histopathologische Diagnostik kann Informationen für das Therapiekonzept
liefern [5]
[6]
[7]
[40]
[64]
[65]. Vor allem neurologische, aber auch bspw. urologische Zusatzuntersuchungen können
zur Aufdeckung sekundärer Formen bzw. der Beteiligung weiterer Organsysteme erforderlich
sein.
Tab. 12 Diagnostische Verfahren bei V. a. schwere intestinale Motilitätsstörung/CIPO.
bildgebende Untersuchungen: vollständige endoskopische und/oder radiologische Darstellung des Gastrointestinaltrakts
(z. B. Ösophagogastroduodenoskopie + Ileokoloskopie [jeweils einschließlich Routinehistologie]
+ [MRT-]Sellink) |
Laboruntersuchungen: ausführliche Untersuchung von Routinelaborparametern, die Hinweise auf entzündliche
oder tumoröse gastrointestinale Erkrankungen, Malabsorption oder Elektrolytmangel
liefern können; außerdem Suche nach sekundären Formen und seltenen Differenzialdiagnosen
(in Abhängigkeit von der individuellen Symptomatik) durch Bestimmung von TSH, C 1-Esterase-Inhibitor,
Porphyriediagnostik, Autoantikörperdiagnostik wie bei V. a. Kollagenose sowie Bestimmung
von ANNA-1 bzw. Anti-Hu-Autoantikörpern zur Aufdeckung einer enterischen Ganglionitis |
gastroduodenojejunale Manometrie: zum Beleg gestörter Motilitätsmuster, zur Aufdeckung der Pathophysiologie (Myopathie
vs Neuropathie) bzw. ggf. zur Abgrenzung einer larvierten mechanischen Obstruktion
([Tab. 7]) |
Transittests: Magenentleerungsmessung (Szintigrafie, 13C-Atemtest), Messung des orozökalen (H2-Lactulose-Atemtest) bzw. Dünndarmtransits (Szintigrafie) und des Kolontransits (röntgendichte
Marker, Hinton-Test), vor allem zur Quantifizierung von Ausdehnung und Schweregrad
der Motilitätsstörung |
Tests zur Erfassung einer bakteriellen Fehlbesiedlung: Glukose-H2-Atemtest, ggf. kulturelle Bestimmung der Keimzahl aus Dünndarmaspiraten |
Ösophagusmanometrie: bei V. a. bzw. zum Ausschluss einer generalisierten Motilitätsstörung, in der Regel
aber von untergeordneter Bedeutung, außer bei zugrunde liegender Sklerodermie [66]
|
anorektale Manometrie bei Patienten mit Obstipation (als führendes Symptom) [67]
|
Kolonmanometrie : bei Patienten mit schwerer Obstipation und V. a. generalisierte Motilitätsstörung |
Histopathologie: kann neuromuskuläre Störung belegen und charakterisieren und dadurch Informationen
für das Therapiekonzept liefern, erforderlich sind geeignete Biopsate (Ganzwand) und
adäquate Untersuchungstechniken [25], die in der Regel nur von spezialisierten Laboratorien geleistet werden können ([Tab. 9], [10], [11]). |
erweiterte Diagnostik: v. a. neurologische, ggf. auch endokrinologische oder urologische Zusatzuntersuchungen
zur Aufdeckung sekundärer Formen bzw. zusätzlich beteiligter Organsysteme |
Für Patienten mit enteraler Dysmotilität wird angenommen, dass ein vergleichbares
diagnostisches Prozedere wie bei CIPO mit zurückhaltendem Einsatz invasiver Methoden
sinnvoll ist.
ACPO
Weil das Krankheitsbild in der Regel Patienten mit schwerer Grunderkrankung betrifft
und passager ist, spielt die eigentliche Motilitätsdiagnostik allenfalls eine untergeordnete
Rolle.
Stattdessen wird die Diagnose anhand des klinischen Bildes vermutet und durch die
Abdomenübersichtsaufnahme bestätigt, die ein stark geweitetes Kolon zeigt (Grad unterschiedlich,
Differenzialdiagnosen: mechanische Obstruktion, toxisches Megakolon, ischämische Kolitis).
Wenn eine mechanische Obstruktion nicht anhand der Gasverteilung ausgeschlossen werden
kann, wird zusätzlich ein Abdomen-CT oder ein Kolonkontrasteinlauf mit einem wasserlöslichen
Kontrastmittel empfohlen. Generell ist bei diesen Untersuchungen auch auf Zeichen
der Perforation und/oder Peritonitis zu achten.
Darüber hinaus sind Laboruntersuchungen indiziert um Ursachen und Komplikationen der
ACPO zu erfassen (Blutbild, Elektrolyte, Parameter zur Erfassung von Leber-, Nieren-
und Schilddrüsenfunktion, Blutkultur bei V. a. septische Komplikationen).
Eine vorsichtige Koloskopie bei unvorbereitetem Darm kann diagnostisch (und therapeutisch)
indiziert sein, sofern kein Anhalt für eine Peritonitis besteht [46]
[47]
[48]. Sie ist bei Zeichen der Ischämie abzubrechen.
IMC
Ein chronisches Megakolon kann so ausgeprägt sein, dass die Diagnose bei klinischen
Routineuntersuchungen (Abdomenübersichtsaufnahme, Ileokoloskopie) oder bei Laparotomie
offensichtlich ist, exakte diagnostische Kriterien sind aber nicht etabliert.
Ein Megarektum wird klassisch radiologisch gesichert anhand eines rektalen Durchmessers
von > 6,5 cm (Kolon-KE) bzw. > 8,3 cm (konventionelle Defäkografie). Alternativ werden
bei der anorektalen Manometrie mithilfe eines einfachen Latexballons die Volumina
zur Erreichung der rektalen Sensitivitätsschwellen gemessen. Sind diese bei leerem
Rektum normal, ist ein Megarektum ausgeschlossen. Bei auffälligen Befunden bietet
die fluoroskopische Messung des rektalen Durchmessers bei minimalem Distensionsdruck
(mittels Barostat erzeugt) das vermutlich zuverlässigste diagnostische Verfahren (normal
< 6,3 cm). Aber auch die alleinige Messung des rektalen bzw. kolonischen Volumens
mittels Barostat ist etabliert. Dieses Verfahren zeigt bei Megarektum bzw. -kolon
neben einem erhöhten Volumen häufig auch eine erhöhte Compliance des betroffenen Segments
[51]
[67]
[68].
Ein chronisches Megarektum/Megakolon kann einerseits eine Obstipation verursachen,
andererseits aber auch das Endstadium einer schweren Obstipation (STC) aufgrund einer
Kolonmotilitätsstörung darstellen. In Abhängigkeit von der individuellen Symptomatik
können deshalb auch, wie in [Tab. 12] beschrieben, weitere diagnostische Tests erforderlich sein.
Die Diagnose idiopathisches Megakolon/-rektum erfordert den Ausschluss möglicher Ursachen
[51].
Morbus Hirschsprung
Zur Diagnostik des Morbus Hirschsprung werden üblicherweise die rektale Saugbiopsie
mit anschließender Untersuchung der Acetylcholinesterase-Aktivität, die anorektale
Manometrie und Kolon-Kontrastdarstellungen eingesetzt. Alternativ stehen auch immunhistochemische
Verfahren (neuronale Marker) zur Verfügung.
Im Gegensatz zu den meisten anderen intestinalen und kolonischen Motilitätsstörungen
liegen für die Diagnostik des Morbus Hirschsprung systematische Untersuchungen und
eine Metaanalyse zur Wertigkeit verschiedener diagnostischer Verfahren vor [69]. Letztere zeigt, dass bei Kindern, die älter als 1 Jahr sind, die rektale Saugbiopsie
mit anschließender Untersuchung der Acetylcholinesterase-Aktivität eine Sensitivität
von 93 % und eine Spezifität von 98 % im Vergleich zum Referenzverfahren (Vollwandbiopsie
und/oder Beobachtung des klinischen Langzeitverlaufes) hat. Sensitivität und Spezifität
der anorektalen Manometrie sind mit 91 bzw. 94 % geringfügig niedriger. Demgegenüber
besitzt der Kolon-Kontrasteinlauf nur eine Sensitivität von 70 % und eine Spezifität
von 83 % für die Diagnose eines Morbus Hirschsprung in diesem Patientenkollektiv [69]. Sowohl die anorektale Manometrie (vor allem bei kleinen Kindern) als auch die Gewinnung
einer aussagekräftigen Biopsie und deren histologische Untersuchung erfordern erfahrene
Untersucher.
Bei Säuglingen sind die radiologischen Befunde teils unauffällig und die Manometrie
scheint weniger zuverlässig zu sein, sodass für die positive Bestätigung der Diagnose
Morbus Hirschsprung Biopsie und Histologie gefordert werden [53]. Generell sollten alle Fälle einer frühkindlichen schweren Obstipation untersucht
werden, um einen Morbus Hirschsprung oder andere Störungen des ENS auszuschließen.
Bei positivem Befund sind in diesen Fällen wegen der möglichen Assoziation des Morbus
Hirschsprung mit genetischen Syndromen, die ein erhöhtes onkogenes Potenzial aufweisen,
molekulargenetische Untersuchungen auf MEN2A- und MTC-Mutationen indiziert; bei totaler
kolonischer Aganglionose wird ein komplettes RET-Screening empfohlen [53].
In den seltenen Fällen, in denen ein Morbus Hirschsprung erst im Erwachsenenalter
diagnostiziert wird, liegt meist ein sehr kurzes aganglionäres Segment vor. Ob die
Ergebnisse der oben zitierten systematischen Studien bei Kindern auf Erwachsene zu
übertragen sind, ist unklar. Allgemein ist zu fordern, dass ein suspekter radiologischer
Befund mittels Manometrie und Histologie bestätigt wird [57]. Weil der manometrische Nachweis eines normalen anorektalen Inhibitionsreflexes
das Krankheitsbild ausschließt und diese Untersuchung bei Erwachsenen in aller Regel
leicht durchführbar ist, wird die anorektale Manometrie vor eventueller Durchführung
einer tiefen Rektumbiopsie empfohlen (Biopsie nur bei fehlendem Nachweis des Reflexes)
[67].
Schwere Obstipation (STC und anorektale Funktionsstörungen)
Ziele der Diagnostik sind der Ausschluss einer mechanischen Obstruktion bzw. organischen
Ursache der Obstipation sowie die Differenzierung zwischen Kolontransitstörung (STC),
Stuhlentleerungsstörung/Beckenbodendyssynergie und Obstipation bei normalem Kolontransit
(„normal transit constipation”, NTC). Die Grundlage hierzu bilden die ausführliche
und gezielte Anamnese (z. B. begünstigende Medikamente?) und die körperliche Untersuchung
einschließlich digitaler rektaler Untersuchung (bei Erwachsenen). Wenn nur Studien
mit mittlerer oder hoher Qualität berücksichtigt werden, gibt es nur wenig Evidenz,
die den Nutzen darüber hinausgehender diagnostischer Tests belegt [70]. Dies gilt sowohl für Untersuchungen, die dem Ausschluss organischer Ursachen dienen,
als auch für Funktionstests. Deshalb werden weitergehende Untersuchungen von Experten
nur bei Patienten mit Alarmsymptomen oder fehlendem Ansprechen auf übliche therapeutische
Maßnahmen empfohlen [71]. Sinnvolle diagnostische Verfahren zur Abklärung von Patienten mit STC sind in [Tab. 13] dargestellt.
Tab. 13 Diagnostische Verfahren bei schwerer, therapierefraktärer Obstipation [52]
[56]
[57]
[64]
[67]
[70]
[72].
Laboruntersuchungen: Elektrolyte, TSH, PTH, Blutglukose, Nierenfunktionsparameter |
bildgebende Untersuchungen: Abdominalsonografie, Ileokoloskopie, ggf. CT-(MRT-)Kolonografie |
Kolontransitstudien: in der Regel mithilfe röntgendichter Marker (modifizierter Hinton-Test), ermöglicht
objektive Messung der Kolontransitzeit (normal < 68 – 72 h) und bildet Grundlage für
Diagnose einer STC (sofern szintigrafische Messung nicht verfügbar), allerdings sekundäre
Störung des Kolontransits bei bis zu 2 / 3 der Patienten mit Stuhlentleerungsstörung/Beckenbodendyssynergie,
deshalb immer auch sorgfältige morphologische und funktionelle Untersuchung des Anorektums
erforderlich |
anorektale Manometrie: erlaubt den Ausschluss eines Morbus Hirschsprung (s. o.) und erfasst eine Beckenbodendyssynergie
als Ursache einer schweren Obstipation ( = mangelnde Koordination zwischen rektalem
Druckanstieg und Sphinkterrelaxation beim Pressen), findet sich bei 20 – 75 % der
untersuchten Patienten, allerdings teils eingeschränkte Kooperation und kein ausreichendes
Pressen der Patienten unter Laborbedingungen, deshalb Bestätigung durch 2. Verfahren
erforderlich |
Defäkografie: konventionelle oder MRT-Defäkografie liefern auffällige Befunde in bis zu Ÿ der Patienten
mit Obstipation, erfassen sowohl morphologisch/anatomische Abnormitäten (z. B. Rektozele,
mukosale Intussusception) als auch funktionelle Beeinträchtigung, deshalb auch geeignet
als bestätigendes Verfahren bei V. a. Beckenbodendyssynergie |
Ballonexpulsionstest: untersucht Fähigkeit des Patienten, einen in das Rektum eingeführten wassergefüllten
Ballon (meist 50 ml, teils zusätzlich Gewichte) zu evakuieren, einfacher Screeningtest,
der ausgeprägtere Stuhlentleerungsstörungen erfasst |
Kolonmanometrie: aufwendige Untersuchung mit meist kombinierter Erfassung der phasischen (Wasserperfusionsmanometrie)
und tonischen (Barostat) Kolonmotilität, reserviert für Patienten mit schwerster Symptomatik
und ohne Anhalt für Stuhlentleerungsstörung, insbesondere vor geplanter Kolektomie
([Tab. 8]) |
Untersuchungen der Motilität des oberen GIT: Magenentleerungstests (Szintigrafie, 13C-Atemtest), Untersuchung des Dünndarmtransits (Szintigrafie, H 2-Lactulose-Atemtest) und gastroduodenojejunale Manometrie können erforderlich sein
bei V. a. generalisierte Motilitätsstörung, Dünndarmmanometrie notwendig vor subtotaler
Kolektomie, da schlechtere Langzeitverläufe bei Patienten mit generalisierter Motilitätsstörung
|
erweiterte Diagnostik: v. a. neurologische, ggf. auch endokrinologische Zusatzuntersuchungen zur Aufdeckung
sekundärer Formen |
Therapie
Therapie
Statement 8
Bei Patienten mit CIPO sollen die folgenden Therapieziele angestrebt werden: Aufrechterhaltung
eines adäquaten Ernährungsstatus, Verbesserung der intestinalen Propulsion, Linderung
abdomineller Symptome sowie Vermeidung bzw. Therapie von Komplikationen (z. B. bakterielle
Fehlbesiedlung).
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, starker Konsens]
Statement 9
Unnötige Laparotomien während pseudoobstruktiver Episoden sollten vermieden werden.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑, starker Konsens]
Erläuterungen zu Statements 8 – 9
Größere und v. a. kontrollierte Studien zur Therapie bei Patienten mit CIPO wurden
nur sehr begrenzt durchgeführt. Somit beruhen die Therapieempfehlungen weitaus überwiegend
auf Expertenmeinung. Dies betrifft auch die Ernährungstherapie. Es wird aber allgemein
anerkannt, dass sie stufenweise erfolgen soll: Eine orale Therapie mit mehreren kleinen,
fettarmen und ballaststoffarmen Mahlzeiten ist zu bevorzugen, falls erforderlich sollten
die Patienten (zusätzlich) Trinknährlösungen erhalten. Wenn dies nicht erfolgreich
ist, sollte die Möglichkeit einer enteralen Ernährung (nasojejunale Sonde, PEG-J)
geprüft werden. Wegen des deutlich höheren Komplikationsrisikos sollte eine dauerhafte
(teil-)parenterale Ernährung nur bei Versagen der zuvor genannten Optionen erfolgen
[5]
[6]
[7]. Die Möglichkeiten zur medikamentösen Verbesserung der intestinalen Propulsion sind
limitiert, da die zur Verfügung stehenden Prokinetika Metoclopramid und Domperidon
und auch das off-label eingesetzte Erythromycin fast ausschließlich gastroduodenal
wirken. Weil aber der obere GIT häufig mit betroffen ist, ist ein Therapieversuch
mit diesen Prokinetika trotzdem sinnvoll. Neostigmin verbessert die intestinale Propulsion
signifikant bei ACPO [48]
[73] und Cholinergika können auch bei ansonsten therapierefraktären Fällen von CIPO erfolgreich
eingesetzt werden. Der 5 HT4-Agonist Prucaloprid ist effektiv in der Behandlung der
schweren Obstipation [74]
[75] und wurde kürzlich zur Behandlung von Frauen mit chronischer Obstipation und unzureichendem
Ansprechen auf Laxantien zugelassen. Es gibt keine systematischen Untersuchungen zur
Wirksamkeit dieser Substanz bei Patienten mit CIPO. Wegen der Verbreitung von 5 HT4-Rezeptoren
im Bereich des gesamten Gastrointestinaltrakts und in Analogie zur Wirksamkeit der
„Vorgängersubstanz” Cisaprid, wären aber therapeutische Effekte zu erwarten, sodass
der probatorische Einsatz sinnvoll erscheint.
In Einzelfällen – bei zugrunde liegender enterischer Ganglionitis – wurde durch Steroide
und/oder Immunsuppressiva eine Verbesserung der Symptomatik und des gastrointestinalen
Transits erzielt [22]. Eine enterische Ganglionitis kann allerdings nur anhand chirurgisch zu gewinnender
Vollwandpräparate diagnostiziert werden [25]. Bislang besteht keine Einigkeit darüber, ob bei erwachsenen Patienten mit CIPO
die Indikation zu einem Steroidtherapieversuch großzügig oder nur bei solchen mit
nachgewiesener entzündlicher Infiltration des Plexus myentericus gestellt werden sollte.
Eine aufgrund der Motilitätsstörung auftretende bakterielle Fehlbesiedlung kann die
abdominelle Symptomatik wesentlich verschlechtern und mit dem Auftreten von Lebererkrankungen
oder deren Verschlechterung assoziiert sein, v. a. bei Patienten mit (teil-)parenteraler
Ernährung [76]
[77]
[78]. Bei Fortbestehen der Motilitätsstörung ist damit zu rechnen, dass auch nach erfolgreicher
„Eradikation” regelmäßig Rezidive auftreten. Deshalb sollte bei Diagnosestellung und
im Verlauf der Erkrankung bei Patienten mit entsprechender Symptomatik das Vorliegen
einer bakteriellen Fehlbesiedlung in Betracht gezogen, diagnostiziert und therapiert
werden.
Schmerzen gehören zu den häufigsten Symptomen bei Patienten mit CIPO und ihre Therapie
kann schwierig sein. Dennoch soll der Einsatz von Morphinen zur Schmerztherapie bei
Patienten mit GIT-Motilitätsstörungen nur mit großer Zurückhaltung erfolgen, weil
diese die Motilitätsstörung und häufig auch die Beschwerden aggravieren [79]
[80].
Manche Patienten profitieren bez. der Schmerzen und der sonstigen Symptomatik von
Entlastungsenterostomien. Die Resektion betroffener Abschnitte ist demgegenüber fast
nie erfolgreich und abdominelle chirurgische Eingriffe sollten auch während pseudoobstruktiver
Phasen möglichst vermieden werden, weil sie das klinische Bild durch (die Möglichkeit
der) Bridenbildung komplizieren. Als Ultima Ratio besteht bei Patienten mit schwerem
Verlauf und nicht zu tolerierenden Komplikationen der parenteralen Ernährung die Möglichkeit
der Dünndarmtransplantation [5]
[6]
[7]
[81]
[82].
Statement 10
Patienten mit ACPO sollen supportiv therapiert werden. Kommt es hierunter innerhalb
von 1 – 2 Tagen nicht zur deutlichen Besserung oder besteht primär ein schweres Krankheitsbild,
soll das Kolon medikamentös (bevorzugte Option) oder endoskopisch dekomprimiert werden.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, starker Konsens]
Statement 11
Sind alle diese Maßnahmen nicht erfolgreich, kann eine chirurgische Therapie indiziert
sein.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑, starker Konsens]
Erläuterungen Statements 10 – 11
Trotz zahlreicher Artikel, die das Krankheitsbild beschreiben, gibt es nur wenige
qualitativ hochwertige Studien zur Therapie der ACPO. Empfohlen wird die supportive
Therapie für alle Patienten (orale Nahrungskarenz, Korrektur von Störungen des Flüssigkeits-
und Elektrolythaushalts, Magensonde, rektale Sonde zum Ableiten von Gasen, möglichst
Reduktion/Weglassen von motilitätshemmenden Medikamenten, möglichst weitgehende Mobilisation
des Patienten) [46]
[48]. Sie führt bei der Mehrzahl zur erfolgreichen Behandlung des Krankheitsbilds [83]. Die Entscheidung zu darüber hinaus gehenden medikamentösen, endoskopischen oder
chirurgischen Maßnahmen wird anhand des klinischen Verlaufs gestellt. Eine Intensivierung
der Therapie ist indiziert bei Patienten, die primär ein sehr weites Kolon haben (Coecum
> 10 – 12 cm) oder bei denen die ACPO bereits seit mehr als 3 – 4 Tagen besteht sowie
bei solchen, die nicht innerhalb von 1 – 2 Tagen auf die supportiven Maßnahmen ansprechen
[46]
[48]. Sofern kein Anhalt für Komplikationen besteht, ist bei solchen Patienten die medikamentöse
Therapie mit Neostigmin zu bevorzugen [73], bei Kontraindikationen oder Versagen die endoskopische Dekompression [48]. Chirurgische Therapieoptionen (Coecostomie, Kolon[teil-]resektion) kommen nur in
Betracht für Patienten, die weiterhin therapierefraktär sind oder Komplikationen (Kolonischämie,
Perforation) entwickeln [46]
[47]
[48].
Statement 12
Patienten mit „Slow-transit”-Obstipation sollen über das Krankheitsbild aufgeklärt
werden, eine ballaststoffreiche Ernährung erhalten (sofern verträglich) und bei Bedarf
medikamentös therapiert werden. Hierzu können die folgenden Medikamente verwendet
werden: osmotische Laxantien (PEG-3350, Sorbit, Lactulose Magnesiumhydroxid), wasserlösliche
Ballaststoffe (Wasserbindung in Gelen und viskösen Lösungen aus Pektin, Mucilaginosa,
Hemizellulose, Psyllium/ Plantago afra bzw. P. ovata und Ispaghula), strukturierte
(zellulosehaltige) Ballaststoffe (vorwiegend in Kleie, Mais, Weizen, Hafer, Leinsamen)
oder hydragoge Laxanzien (Anthrachinone (Senna, Aloe), Diphenole (Bisacodyl), Ricinolsäure,
Natriumpicosulfat) sowie Probiotika[2].
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, starker Konsens]
Erläuterungen
Patienten sollten über eine normale Stuhlfrequenz aufgeklärt werden sowie darüber,
dass kein täglicher Stuhlgang erforderlich ist, um „Giftstoffe aus dem Körper zu entleeren”
[84], dass aber regelmäßige Toilettensitzungen, körperliche Aktivität, ausreichende Flüssigkeitszufuhr,
eine ballaststoffreiche Ernährung (sofern verträglich) sowie die Meidung von obstipierenden
Nahrungsmitteln wichtig sind für eine regelrechte Defäkation. Die Wirksamkeit dieser
Maßnahmen ist allerdings unterschiedlich gut belegt.
Für Patienten mit STC gibt es kaum spezifische Untersuchungen, die die Wirksamkeit
bestimmter Laxantien belegen oder vergleichen. Insofern verweisen wir bezüglich der
detaillierten Einschätzung der infrage kommenden Präparate auf Kapitel 8 der Reizdarm-Leitlinie
[1]. Allgemein gilt jedoch, dass Metaanalysen eine moderate bis gute Wirksamkeit bei
Obstipation für Ballaststoffe und osmotisch wirksame Laxantien belegen [71]
[85]
[86]. Strukturierte Ballaststoffe erzeugen mehr abdominelle Beschwerden als wasserlösliche
[87], können aber ebenfalls verwendet werden. Bei den osmotischen Laxanzien scheint Sorbit
im Vergleich zu Laktulose äquivalent in der Wirkung, aber besser verträglich zu sein
[88]. PEG-haltige Lösungen haben eine bessere Wirkung und Verträglichkeit als nicht resorbierbare
Kohlenhydrate [85]. Der chronische Gebrauch stimulierender Laxantien wurde durch viele Ärzte gemieden
wegen der unbegründeten Annahme, dass diese das Kolon schädigen sowie Abhängigkeit
und Gewöhnung fördern. Diese Bedenken sind aber nicht durch Studien belegt [89]. Umgekehrt gibt es nach Einschätzung der American College of Gastroenterology Chronic
Constipation Task Force nur ungenügende Belege dafür, dass stimulierende Laxantien
in der Behandlung der chronischen Obstipation wirksam sind [71]
[86]. Bei adäquater Benutzung profitiert jedoch ein Teil der Patienten von dieser kosteneffektiven
Therapie.
Auch Prokinetika sollten in anderweitig therapierefraktären Fällen eingesetzt werden.
Prucaloprid kann die Symptomatik bei Patienten mit schwerer Obstipation, die unzureichend
auf Laxantien ansprechen, verbessern [74]
[75]. Diese Substanz wurde allerdings erst nach Abschluss der Leitlinienstatements in
Deutschland zugelassen (vgl. Fußnote zu Statement 12 und Kommentar zu Statement 8)
und wurde aus diesem formalen Grund nicht in Statement 12 aufgenommen. Cholinergika
können wirksam sein, haben aber häufig relevante Nebenwirkungen. Für Metoclopramid
und Domperidon konnte kein prokinetischer Effekt am unteren GIT gezeigt werden. Die
in manchen Fällen beobachteten positiven Effekte sind möglicherweise durch die Therapie
einer begleitenden Transitstörung des Magens oder des proximalen Dünndarms zu erklären.
Probiotika scheinen einen moderaten Effekt auf Stuhlfrequenz und -konsistenz zu haben
[90].
Generell gilt, dass Patienten mit STC schlecht, zum Teil auch gar nicht auf die üblichen
therapeutischen Maßnahmen ansprechen [52]
[56]
[57]
[91]. Für streng selektionierte Patienten kommen deshalb auch chirurgische Maßnahmen
infrage (vgl. Statement 15 mit Kommentar).
Statement 13
Patienten, deren Obstipation durch eine Beckenbodendyssynergie verursacht wird, sollten
ein Beckenboden-Training erhalten, das als Biofeedback-Training durchgeführt werden
kann.
[Evidenzgrad A für Biofeedback, Empfehlungsstärke ↑, starker Konsens]
Erläuterungen
Zwei Metaanalyse berichten über die Effektivität von Biofeedback-Training bei Beckenbodendyssynergie
[92]
[93]. Biofeedback-Training ist anderen konventionellen Therapieoptionen moderat überlegen
[93]. Allerdings sind laut Einschätzung der Autoren [92] weitere, gut geplante Studien erforderlich, die auch die Lebensqualität und psyschologische
Morbidität in Betracht ziehen. Der Einsatz von Laxanzien, die den Stuhl aufweichen
und dadurch die Entleerung erleichtern oder von Klistieren bzw. CO 2-freisetzenden Zäpfchen kann (vorübergehend) unterstützend wirken.
Statement 14
Patienten mit Morbus Hirschsprung sollen chirurgisch therapiert werden.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, starker Konsens]
Erläuterungen
Die chirurgische Therapie des Morbus Hirschsprung stellt die Standardtherapie dar.
Diese ist breit anerkannt und in vielen Fällen unumgänglich, sodass es keine vergleichenden
Studien zu rein konservativem Vorgehen gibt. Allerdings können nach Diagnose eines
Morbus Hirschsprung im Säuglings- bzw. Kleinkindalter serielle rektale Irrigationen
den Darm dekomprimieren, das Auftreten einer Enterokolitis verhindern und deshalb
überbrückend eingesetzt werden [94]. Die definitive Therapie in Form einer ileoanalen „Pull-through”-Anastomose kann
bei nicht dilatiertem Kolon und „Short-segment”-Morbus Hirschsprung direkt durchgeführt
werden [94]
[95]
[96]
[97]. Bei Hirschsprung-assoziierter Enterokolitis oder signifikanter Kolondilatation
wird zuerst für einige Monate ein protektives Kolostoma [98] und meistens 4 – 6 Monaten danach die ileoanale „Pull-through”-Anastomose angelegt.
Die Komplikationsraten der verschiedenen „Pull-through”-Techniken liegen bei 4 – 16
% [95]
[99]
[100]
[101]. In sehr seltenen Fällen wird der Morbus Hirschsprung erst im Erwachsenenalter diagnostiziert.
Diese Patienten haben meist nur ein sehr kurzes aganglionäres Segment. Die Behandlungsgrundsätze
für Erwachsene unterscheiden sich nicht von denen bei Kindern [102]
[103].
Statement 15
Die Indikation zur Kolonresektion bei Obstipation ist besonders sorgfältig zu treffen
und soll beschränkt werden auf Patienten mit anderweitig therapierefraktärer STC (subtotale
Kolektomie) oder auf Patienten, die therapierefraktäre Beschwerden aufweisen, welche
mit umschriebenen morphologischen Veränderungen des Kolons (z. B. IMC) assoziiert
sind.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑↑, Konsens]
Erläuterungen
Es gibt keine Studien, die subtotale Kolektomie versus dauerhafte medikamentöse Therapie
verglichen haben. Fragebogenerhebungen nach subtotaler Kolektomie zeigen eine Zufriedenheit
von 80 – 90 %. Ungefähr 10 % der Patienten benötigen postoperativ Antidiarrhoika.
Niedrigere Erfolgsraten in anderen Studien verdeutlichen die Notwendigkeit der sorgfältigen
Patientenselektion für diese Therapieoption [64]
[104]
[105]
[106]. Neben der subtotalen Kolektomie wurde in einer kleinen Studie auch die linksseitige
Hemikolektomie bei anderweitig therapierefraktärer STC erfolgreich eingesetzt [48].
Statement 16
Unspezifische sekundäre und nicht selbst limitierte Motilitätsstörungen sollten möglichst
kausal behandelt werden. Zu Beginn der kausalen Therapie oder falls die zugrunde liegende
Störung nicht zu beheben ist, kann eine symptomatische Therapie (Antidiarrhoika oder
Laxantien) erforderlich sein.
[Evidenzgrad D, Empfehlungsstärke ↑, starker Konsens]
Erläuterungen
Es gibt keine etablierten und durch Studien belegten Therapieformen sekundärer Motilitätsstörungen.
Eine symptomatische Therapie kann indiziert sein. Die Behandlung der zugrunde liegenden
Störung – sofern möglich – bildet aber die sinnvollste und effektivste Therapie.