Fortschr Neurol Psychiatr 2010; 78(4): 195
DOI: 10.1055/s-0029-1245312
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zur Bedeutung von Kasuistiken bei seltenen neurologischen Erkrankungen

On the Significance of Case Reports about Rare Neurological DiseaseM. Dieterich1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie, mit Friedrich-Baur-Institut für Muskelerkrankungen, Ludwig-Maximilians-Universität München
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Publication Date:
07 April 2010 (online)

In diesem Heft wird neben einigen psychiatrischen Fragestellungen eine sehr seltene, hier erstmalig in Deutschland diagnostizierte Muskelerkrankung in einer Kasuistik vorgestellt (siehe S. 219, [1]). Es handelt sich um die Myosinspeicher-Myopathie, die durch heterozygote Mutationen in dem für die schwere Kette des β-Myosins kodierenden Gen MYH7 verursacht wird. Die Autoren Kiphuth et al. berichten über ihre klinischen, muskelbioptischen und kernspintomografischen Befunde beim ersten deutschen Patienten mit einer heterozygoten R-1845W-MYH7-Missensemutation.

Welche Bedeutung haben solche Einzelberichte in der heutigen Zeit? Ist diese Art der Darstellung noch aktuell und von Interesse?

Im Bereich der seltenen Erkrankungen, zu denen alle Muskelerkrankungen und ein ganz bedeutender Anteil des Spektrums neurologischer Erkrankungen gehören, werden seit einiger Zeit innovativste Methoden und Techniken eingesetzt, um pathogenetische Ursachen exemplarischer Familien oder Einzelfälle zu erarbeiten. Gelingt dies, bieten diese „gelösten” Rätsel die Chance, andere Familien und Einzelpersonen endlich – oft erst nach Jahren – einer Krankheitsentität zuzuordnen. Dies wiederum bildet die Basis, aus Einzelfällen Sammlungen und letztendlich Genotyp-Phänotyp-Korrelationen sowie Daten zum natürlichen Verlauf dieser Krankheitsentitäten zu generieren, die ihrerseits die Grundlage für die Entwicklung von Zielparametern einer molekularen Therapie darstellen. Die Identifikation der genetischen Ursache und des defekten Proteins bei einer Reihe von Myopathien hat in den letzten Jahren die Klassifikation dieser Erkrankungen revolutioniert und erlaubt heute neue Einsichten in die pathogenetischen Zusammenhänge.

Mit Erfolg wurde dies in den letzten Jahren zum Beispiel bei den lysosomalen Speichererkrankungen, u. a. dem Morbus Pompe, exerziert. So ist bei dieser hereditär-rezessiven Muskelstoffwechselerkrankung der Enzymdefekt nun durch Einsatz eines gentechnischen Humananalogons spezifisch behandelbar geworden [2] [3], ein wertvoller Schritt in die richtige therapeutische Richtung.

Für die hier vorgestellte Myosinspeicher-Erkrankung und die assoziierte Gruppe der sog. Proteinaggregationsmyopathien, die weitreichende und zurzeit hochaktuelle Überlappungen in der Pathogenese zu den Proteinaggregationserkrankungen des Gehirns wie Demenzen, Parkinson, Huntington und auch amyotrophische Lateralsklerose aufweisen [4] [5] [6], ist ein ähnlicher Weg zu erhoffen. Zur Unterstützung solcher innovativer Ansätze bei seltenen neurologischen Erkrankungen ist zu diesem Thema erfreulicherweise u. a. eine DFG-Forschergruppe eingerichtet worden und seit 2009 aktiv.

Prof. Dr. M. Dieterich

Literatur

  • 1 Kiphuth I, Neuen-Jacob E, Struffert T et al. Myosinspeichermyopathie: eine seltene Unterform der Proteinaggregationsmyopathien.  Fortschr Neurol Psychiat. 2010;  78 219-222
  • 2 Schoser B, Hill V, Raben N. Therapeutic approaches in glycogen storage disease type II/Pompe Disease.  Neurotherapeutics. 2008;  5 569-578
  • 3 Schröder R, Schoser B. Myofibrillar myopathies: a clinical and myopathological guide.  Brain Pathol. 2009;  19 483-492
  • 4 Weihl C C, Pestronk A, Kimonis V E. Valosin-containing protein disease: inclusion body myopathy with Paget’s disease of the bone and fronto-temporal dementia.  Neuromuscul Disord. 2009;  19 308-315
  • 5 Neumann M, Tolnay M, Mackenzie I R. The molecular basis of frontotemporal dementia.  Expert Rev Mol Med. 2009;  11 e23
  • 6 Ju J S, Fuentealba R A, Miller S E et al.. Valosin-containing protein (VCP) is required for autophagy and is disrupted in VCP disease.  J Cell Biol. 2009;  187 875-888

Prof. Dr. Marianne Dieterich

Klinik und Poliklinik für Neurologie, mit Friedrich-Baur-Institut für Muskelerkrankungen Ludwig-Maximilians-Universität

Marchioninistr. 15

81377 München

Email: marianne.dieterich@med.uni-muenchen.de

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