Pro
Die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) gilt als sehr schwierig.
Die Prävalenz der BPS wird in den USA mit 1–1,8 % angegeben. Auffallend ist eine hohe
Suizidrate von 5–10 % innerhalb von 15 Jahren und eine Selbstverletzungsrate von 69–80 %
(zusammenfassend etwa Jerschke et al. [1]).
Jerschke et al. [1] fanden in ihrer Stichprobe häufige Therapieabbrüche (47,4 %) und Zwangseinweisungen
(20,7 %). Aufgrund häufiger und langer Klinikaufenthalte schätzen Jerschke et al.
die Kosten pro Jahr und Patient auf 12 000 € (bezogen auf die letzten beiden Jahre
vor Aufnahme auf einer speziellen DBT-Station an der Universitätsklinik Freiburg).
Bei BPS verursacht eine relativ kleine Gruppe (1–1,5 %) relativ hohe Kosten durch
Therapieabbrüche, häufige Klinikaufenthalte, disziplinarische Entlassungen, akute
Behandlungsmaßnahmen usw.
Schon aus dieser Kurzübersicht ist ablesbar, dass Borderline-Patientinnen zu den sog.
„Drehtürpatienten” gehören und stationäre Settings häufig nutzen.
Die Nachteile stationärer Behandlungen sind meiner Ansicht nach dabei folgende:
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Zu Beginn einer stationären Behandlung wird oft eine Klärung des Behandlungsziels
vernachlässigt. Die Patienten werden ohne klar erkennbaren oder mit diffusem Auftrag
behandelt. Das führt dazu, dass die Kriterien für eine Beendigung der Behandlung nicht
operationalisiert sind und dass die Patienten nach der Krisenintervention weiter behandelt
werden. Behandler haben dabei nicht selten Kognitionen wie: „Die Patientin bleibt
im Krankenhaus, bis sie gesund ist.” Abgesehen davon, dass dieser Anspruch uneinlösbar
ist, tragen solche Kognitionen zur Hospitalisierung der Patientinnen bei.
-
Stationäre Settings sind dazu prädisponiert, dysfunktionales Verhalten im lerntheoretischen
Sinn zu verstärken. Das heißt, Ärzte, Psychologen und Pflege reagieren auf selbstverletzendes
Verhalten häufig mit zusätzlichen Gesprächsangeboten und verstärken so dysfunktionales
Verhalten unabsichtlich. In einer Supervision reagierte ich deshalb ziemlich verblüfft,
als ein Pfleger beiläufig fragte, ob es denn in Ordnung sei, dass sich eine Borderline-Patientin,
eine Stunde nachdem sie sich geschnitten hatte, mit ihrem Notebook eine Pizza bestellte.
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Borderline-Patientinnen konkurrieren in stationären Settings nicht selten um Zuwendung,
indem sie versuchen, sich in der Quantität und Qualität ihrer Selbstverletzungen zu
überbieten, was dann wiederum durch Zuwendung (s. o.) verstärkt wird.
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Gelegentlich schauen sich Borderline-Patientinnen bei Mitpatientinnen „neues” selbstverletzendes
Verhalten ab.
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Den Borderline-Patientinnen wird in stationären Settings häufig zu viel Verantwortung
abgenommen. Es wird unterschätzt, dass diese Patienten schon eine längere Krankheitsgeschichte
hinter sich haben und wahrscheinlich eine genauso lange noch vor sich, dass Patientinnen
– obwohl ursächlich nicht „schuld an ihrer Misere” – doch die Einzigen sind, die ihre
Probleme lösen können.
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Da die Borderline-Patientinnen aus ihrem Lebensumfeld herausgenommen werden, können
gelernte neue Verhaltensweisen nicht oder nur ungenügend den Alltag generalisieren.
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Es wird häufig vergessen, dass ein stationärer Aufenthalt auch eine Variante einer
„Beziehung” darstellt und dass Patientinnen kurz vor Abschluss der Behandlung deshalb
nicht selten Angst „vor dem Alleinsein” haben und erneut dysfunktionales Verhalten
zeigen. Ein optimaler Entlasszeitpunkt wird aus Angst oder Sorge der Behandler deshalb
häufig verpasst und die Patientinnen werden länger im Krankenhaus belassen als es
notwendig und sinnvoll wäre.
Auf der anderen Seite konnten wir in unserem ambulanten Darmstädter Netzwerk, das
seit 1997 besteht und Borderline-Patientinnen mit der dialektisch behavioralen Therapie
(DBT) behandelt, zeigen, dass man Borderline-Patientinnen sehr gut ambulant behandeln
kann [2]
[3]
[4]. In einer eigenen Untersuchung [3] fanden wir innerhalb eines Jahres in einer Stichprobe von 33 Patienten eine Einjahresabbrecherquote
von nur 12 %. In der gleichen Stichprobe reduzierte sich die Anzahl der Patienten
mit Suizidversuchen von 36 auf 6 %. Die Anzahl der Patienten, die sich selbst verletzten,
reduzierte sich innerhalb eines Jahres von 79 auf 48 %. Die Anzahl der Patientinnen,
die sich mindestens einmal wöchentlich verletzten, ging von 27 auf 4 % zurück. Nach
einem Jahr ambulante DBT zeigte sich ein durchschnittlicher Rückgang der Dauer der
stationären Aufenthalte von 2,57 auf 0,35 Wochen. Bei einem angenommenen Tagessatz
von 351€, überschlagen auf die 33 Patienten und gegengerechnet mit den Kosten, die
für die ambulante Therapie mit DBT zu veranschlagen sind, ergibt sich pro Patient
und Jahr eine durchschnittliche Ersparnis von 1566,42 € zugunsten der ambulanten Therapie.
Fairerweise muss man natürlich einräumen, dass es in der Bundesrepublik bislang leider
nur einige wenige ambulante Netzwerke gibt, die sich die Behandlung von Patientinnen
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu ihrer Aufgabe machen und dass es demgegenüber
viele auf BPS spezialisierte Stationen gibt, die diese Patientinnen mit der dialektisch
behavioralen Therapie (DBT) behandeln. Für diese Spezialstationen gelten, da deren
Teams sehr gut ausgebildet sind, die o. g. Nachteile in weit geringerem Ausmaß. Einschränkend
muss man weiterhin sagen, dass es natürlich sinnvoll ist, für bestimmte Komorbiditäten
spezialisierte stationäre Behandlungsangebote bereitzuhalten, bspw. BPS und schwere
Abhängigkeitssymptome, BPS und schwere Essstörungen, BPS und Posttraumatische Belastungsstörungen,
BPS und schwere dissoziative Symptome.
Die DBT als eine Therapie im Team mit sorgfältig aufeinanderabgestimmter Einzel- und
Gruppentherapie passt hervorragend zu modernen Behandlungsstrukturen wie Integrierte
Versorgung oder Medizinische Versorgungszentren und scheint deshalb das Mittel der
Wahl als Methode für ambulante Borderline-Therapie zu sein. Unsere Erfahrungen zeigen,
dass DBT im bundesrepublikanischen Versorgungssystem durchaus ambulant von Niedergelassenen
angeboten werden kann. Die ambulante Versorgung ist möglich und ist gegenüber der
stationären kostengünstiger. Der Gewinn für die teilnehmenden Therapeuten liegt darin,
dass die Behandlung „schwieriger Patienten” durch Entlastung im Team und durch strukturierte
Behandlungskonzepte, im Vergleich zur Behandlung anderer Störungen, als nicht belastender
erlebt wird [2]. Die Arbeit im Team und die Arbeit in und mit modernen Behandlungskonzepten bereichert
die Arbeit ambulant arbeitender Psychotherapeuten. Der Gewinn für die Patientinnen
liegt in der wohnortnahen Versorgung und darin, dass sie die neu erworbenen Fertigkeiten
direkt vor Ort in der gewohnten Umgebung ausprobieren können. Der Gewinn für die Kostenträger
liegt in einer kostengünstigen Versorgung, der ansonsten „sehr teuren” Borderline-Patientinnen.
Eine Hospitalisierung und Behandlungsabhängigkeit wird verhindert.
Es bleibt zu hoffen, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Jahren
weitere ambulante Netze gründen und damit stationäre Behandlungen überflüssig machen.
Kontra
In der Bundesrepublik Deutschland werden derzeit jährlich etwa 4,5 Milliarden Euro
für die stationäre Behandlung der Borderline-Störung (BPS) ausgegeben [5]. Vergegenwärtigt man sich diese Zahlen, und berücksichtigt man weiter, dass die
Wahrscheinlichkeit einer Wiederaufnahme, nach einer unspezifischen stationären Behandlung
bei etwa 80 % liegt, so liegt die Vermutung nahe, dass unspezifische stationäre Behandlungen
mehr schaden als nutzen. Und vor diesem Hintergrund ist die von Hans Gunia in diesem
Heft vertretene Argumentationslinie, die klar gegen stationäre Behandlungen votiert,
gut nachvollziehbar. Wenn wir dennoch der Bitte der Herausgeber nachkommen, Argumente
für die stationäre Behandlung der BPS ins Feld zu führen, so sollte dies unter der
dezidierten Annahme geschehen, dass die o. g. Daten, auf die sich auch Gunia bezieht,
1998 veröffentlicht wurden, also bevor es in Deutschland störungsspezifische Behandlungszentren
gab, die sich an den Richtlinien der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) orientierten.
Mittlerweile hat sich die Situation grundlegend geändert. Während 1998 knapp nur knapp
die Hälfte der Psychiatrisch/Psychosomatischen Kliniken in Deutschland spezielle Angebote
für BPS vorhielten, ist das mittlerweile bei über Ÿ der Kliniken der Fall [6]. Im Gegensatz zum 1998 noch berichteten überwiegenden Einsatz von tiefenpsychologischen
Verfahren wird heute an erster Stelle DBT angewendet. Die Wirksamkeit der stationären
DBT-Behandlungs-Programme ist mittlerweile sehr gut belegt. So konnte unsere Arbeitsgruppe
in einer kontrollierten Studie in allen psychometrischen Variablen signifikante Unterschiede
gegenüber der Warteliste zeigen, mit sehr großen Effektstärken (SCL-90-R GSI: d = 0,83)
[7]. Diese Daten konnten von unabhängigen Arbeitsgruppen repliziert werden [8] und zeigen sich auch im Langzeitverlauf stabil [9]. Der Deutsche Dachverband DBT (DDBT; www.dachverband-dbt.de) überprüft die Qualitätskriterien von stationären DBT-Behandlungseinheiten und vertritt
relativ hohe Ansprüche an strukturelle, prozessurale und Ergebnisqualität: Dies ist
in der deutschsprachigen Psychiatrie sicherlich einmalig. Kein anderes Behandlungsprogramm
erhebt solch hohe Ansprüche. Und gerade die Tatsache, dass es derzeit in Deutschland
trotz dieser hohen Qualitätsansprüche über 30 zertifizierte Behandlungseinheiten bzw.
Behandlungsanwärter gibt, spricht dafür, dass die Klinikträger diese Bemühungen anerkennen
und willens sind, die Qualität der Behandlung nachhaltig zu verbessern.
Aber auch die stationäre Behandlung für Borderline-Patienten nach den Kriterien der
DBT erfordert spezifische Indikationsstellung:
1. Stationäre Krisenintervention
Ambulante Therapeuten, die mit Borderline-Patienten arbeiten, tun sich leichter, wenn
sie mit Kliniken kooperieren, die kurzfristige stationäre Aufenthalte für die Krisenintervention
bei suizidalen Krisen vorhalten. Diese stationären Aufenthalte sollten geplant und
vom niedergelassenen Therapeuten initiiert sein. Dabei sollten diese sich auf die
wenigen Situationen reduzieren, in welchen die Problemlösekompetenz den Patienten
tatsächlich überfordern, sodass Suizid oder schwerwiegende Folgen drohen. Dies ist
unter adäquaten therapeutischen Bedingungen äußerst selten der Fall. Die stationäre
Krisenintervention sollte in der Regel nicht länger als eine Woche dauern. Der Fokus
der Behandlung liegt auf der Problem- und Bedingungsanalyse der Krisensituation sowie
der Erarbeitung von rasch wirksamen Bewältigungsstrategien. Dies erfordert enge Kooperation
und Absprache mit dem niedergelassenen Kollegen. Es ist sinnvoll, die Station, auf
der die Krisenintervention stattfindet, räumlich von einer psychotherapeutischen Station
zu trennen. Keinesfalls sollte diese Krisenintervention als „Hintertüre” für eine
ungeplante stationäre Langzeittherapie missbraucht werden.
2. Stationäre oder teilstationäre Standard-DBT-Behandlungsprogramme
Wir können davon ausgehen, dass die ambulante Standard DBT (Einzeltherapie plus Skillsgruppe
plus Supervision, plus Telefonberatung) ähnlich gute Wirkung entfaltet, wie stationäre
Behandlungsprogramme. Nur leider sind derartige „DBT-Netzwerke” in Deutschland nur
in wenigen Städten etabliert (z. B. Darmstadt, Berlin, Köln). Rein statistisch kommt
nur eine von etwa 1000 Borderline-Patientinnen in Deutschland in den Genuss einer
ambulanten störungsspezifischen Behandlung. Vor diesem Hintergrund erscheint es tatsächlich
sinnvoll, stationäre Behandlungsprogramme vorzuhalten, die innert 3 Monaten die wichtigsten
Problembereiche von BPS-Patienten bearbeiten. Dies betrifft in aller Regel die Vermittlung
von Fertigkeiten zur Bewältigung von Suizidalität, schweren Selbstverletzungen, Hochrisikoverhalten,
aggressiven Durchbrüchen, sowie die Vermittlung von basalen sozialen Kompetenzen.
3. Stationäre oder teilstationäre Spezial-DBT-Behandlungsprogramme
Auch wenn die ambulante oder stationäre Standard-DBT im Gruppenmittel gute Erfolge
aufweist, so gibt es doch eine Reihe von Problemen, die eine zusätzliche Behandlung
in einem Subgruppen-spezialisierten DBT Behandlungsprogramm erfordert.
Dies ist zum einen komorbide Posttraumatische Belastungsstörung nach langwierigem sexuellen Missbrauch in der Kindheit, unter welcher etwa 60 % der
weiblichen BPD-Patienten in Deutschland leiden. Ohne spezifische Behandlung persistiert
diese Problematik über Jahre, mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensqualität
der Betroffenen. Am ZI Mannheim wurde in den letzten Jahren ein hoch spezialisiertes
Behandlungsprogramm für diese Gruppe von Patientinnen entwickelt, das sehr gute Effektstärken
(PDS ca. d = 1,4) und gute Remissionsraten zeigt [10]. Derzeit wird dieses Programm an mehreren Kliniken in Deutschland etabliert, um
diese Daten zu replizieren. Dennoch kann man schon jetzt konstatieren, dass Borderline-Patientinnen
mit therapierefraktärer komorbider PTBS den Behandlungsversuch auf einer entsprechenden
Spezialstation wagen sollten.
Zum zweiten erfordern schwerwiegende komorbide Essstörungen oft die Behandlung auf einer entsprechend ausgerichteten Station, welche beiden Problembereichen
(Essstörung plus Störung der Affektregulation) gerecht wird. Dies trifft insbesondere
den Problembereich der Anorexie, da es sich im klinischen Alltag oft zeigt, dass gerade
mit der Gewichtszunahme die Störung der Emotionsregulation in den Vordergrund tritt.
Wenn diese nicht zeitgleich fokussiert wird, kommt es gehäuft zu suizidalen Krisen
oder schwerwiegenden Selbstverletzungen. An der Psychiatrischen Klinik in Lübeck wurde
ein derartiges Konzept entwickelt und evaluiert [11].
Und schließlich erfordert das Problem der komorbiden Substanzabhängigkeit (26–84 %) Expertenwissen und spezifische Behandlung: Eine Untersuchung zur Effektivität
von Standard-DBT bei Patienten mit BPS und komorbider substanzbezogener Störung reproduzierte
die überlegene Wirksamkeit der DBT auf die Borderline-spezifische Symptomatik, zeigte
jedoch keinen Einfluss auf Frequenz und Menge des Substanzkonsums [12]. Erst die Integration psychotherapeutisch wirksamer Methoden aus der Suchttherapie
sowie die Ergänzung der DBT-Zielhierarchisierung um Ziele aus dem Suchtbereich, Erweiterung
des Skillstrainings auf den Umgang mit Craving, die Einführung des Prinzips der Dialektischen
Abstinenz sowie Attachmentstrategien, führte in 2 randomisierten Studien im ambulanten
Setting zu einer signifikanten Verbesserung der klinischen Symptome aus beiden Störungsbereichen
[13]
[14]. Kienast et al. [15] etablierten ein stationäre DBT-S-Programm. Ergebnisse zeigen hier ebenfalls eine
Reduktion der Borderline-spezifischen Symptomatik sowie substanzabhängiger Verhaltensweisen
bei schwer kranken Patienten. Zentrum der DBT-S in Deutschland ist die Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie Hamburg Eilbek.