Psychiatr Prax 2009; 36(4): 195-196
DOI: 10.1055/s-0029-1222540
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Sprachkritik
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Fachsprache als Herrschaftswissen

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Publication Date:
08 May 2009 (online)

 

Die Macht über das Denken der Menschen, die Deutungsmacht für die Phänomene unserer Erfahrungswelt, ist seit jeher immer wieder Gegenstand erbittert geführter Kämpfe. Diese Macht kommt in zivilisierten Gesellschaften nicht aus Gewehrläufen, sondern sie wird mit weit subtileren Waffen ausgetragen, meistens denen der Sprache. Eine der bedeutsamsten Veränderungen im Verhältnis von Wissen und Macht im vergangenen Jahrtausend ereignete sich, als Martin Luther die Bibel übersetzte und sein Werk mittels des fast zeitgleich erfundenen Buchdrucks der Allgemeinheit bekannt wurde. Das bis dahin sorgfältig in lateinischer Sprache gehütete Herrschaftswissen wurde mit einem Mal irreversibel demokratisiert, ist seitdem jedermann zugänglich und zur Interpretation und zum Gebrauch nach eigenem Gutdünken freigegeben.

Ob die Medizin im vergangenen Jahrzehnt von einer vergleichbaren Demokratisierung des Wissens erreicht wurde, wird man erst rückblickend beurteilen können. Der Übergang zur evidenzbasierten Medizin in Verbindung mit einer ebenfalls technischen Revolution, der ubiquitären medialen Verfügbarkeit von Information im Internet, hat die Herrschaftsverhältnisse über medizinisches Wissen jedenfalls erheblich verändert. Jeder Laie kann sich ohne Probleme zu nahezu jeder beliebigen Krankheit - auf Deutsch - die zugehörigen AWMF-Leitlinien suchen und findet dort in - zumeist - verständlicher Sprache die aktuell gültigen Behandlungsempfehlungen. Jeder Patient kann so zu Hause nachprüfen, ob die Empfehlungen seines behandelnden Arztes dem neuesten Stand des Wissens entsprechen. Die Eminenzen sind tatsächlich wenn nicht entzaubert, dann doch zumindest transparent geworden. Diese Demokratisierung von Wissen ist begrüßenswert, sie verschiebt aber auch strukturelle Machtverhältnisse. Wo es solche Verschiebungen gibt, gibt es Friktionen und es werden Interessenkonflikte mit sprachlichen Mitteln ausgetragen. Eine gut gehütete Bastion psychiatrischen Herrschaftswissens ist die Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen, leider ein Indiz, dass die Anerkennung der therapeutischen Kompetenz nicht so unbestritten ist, dass wir bereitwillig auf die Herrschaft auf diesem Terrain verzichten könnten. Die Zeiten, in denen jeder Psychiater und Psychotherapeut sich seine idiosynkratische Klassifikation als impliziten Geheimcode seiner fachlichen Weltanschauung schuf, sind seit der Einführung der kriterienorientierten Klassifikationssysteme weitgehend vorüber. Aber auch die Vertrautheit mit den feinsinnigen sprachlichen Unterscheidungen und Formulierungen in ICD-10 und DSM-IV gehört zu den Schlüsselkompetenzen des Psychiaters, am deutlichsten manifestiert in der Funktion des Gutachters. Rechtsanwälte, die an den psychiatrischen Aussagen zweifeln, weil sie sich vermeintlich selbst im Dickicht der ICD-10 kundig gemacht haben, scheitern meist ebenso kläglich wie es der Psychiater tun würde, der mit Juristen in der Auslegung von Gesetzestexten wetteifern würde. Was aber wäre, wenn dem Vorschlag des britischen Psychiaters Sir David Goldberg gefolgt würde, der rhetorisch und empirisch brillant begründet, dass eigentlich fünf "Diagnosen" genügen würden, weil alle weiteren Subdiagnosen sich hinsichtlich Syndromstabilität, Prognose, Verlauf und Therapie ohnehin nicht valide unterschieden [1]? Der Kompetenzverlust des Psychiaters, zumal in forensischen Angelegenheiten, wäre unabsehbar; absehbar allerdings ist, dass, wenn auch nicht allein deshalb, ICD-11 und DSM-V ihre Vorgänger tatsächlich in Volumen und Differenzierung erneut übertreffen werden.

Ein weiteres mit allen Mitteln der Sprache verteidigtes psychiatrisches Terrain ist schließlich die Wissenschaft. Cicero und Goethe wird jeweils der Satz zugeschrieben "Ich habe dir einen langen Brief geschrieben, weil ich keine Zeit hatte, einen kurzen zu schreiben", wenngleich sich bei beiden keine sicheren Belege finden. Wer ein (deutsches) geisteswissenschaftliches Buch aufschlägt oder auch viele (vorwiegend ältere) psychiatrische Arbeiten oder gar die klassische Literatur der Psychoanalyse, stellt immer wieder fest, dass dort gerne lange Briefe geschrieben werden. Ob der sprachliche Ausdruck mit hoher Redundanz und Schachtelsätzen mit genealogischer Struktur dabei eine natürliche Selektion des Zugangs für die geistige Elite oder vielleicht doch nur eigenes Unvermögen darstellt, ist oft schwer zu entscheiden. Auffällig freilich ist, dass schon Doktoranden die Kunst der Verschleierung durch Sprache und Satzbau als allererstes zu erlernen scheinen. Die in Entwürfen zu ersten wissenschaftlichen Arbeiten häufig anzutreffenden Sprachgebilde stehen in bemerkenswerter Diskrepanz zu der klaren, einfachen und prägnanten Sprache, die zugegebenermaßen die Publikationen in den - meist journalistisch professionell redigierten - englischsprachigen Topjournals auszeichnet. Dieser wissenschaftliche Sprachkodex ist vergleichsweise arm und restriktiv, aber funktional. Das Herrschaftswissen, d.h. die Fähigkeit, in solchen Journals zu publizieren, besteht in diesem Fall darin, über den Sprachschatz des in diesem Zusammenhang gebräuchlichen, spezifischen und im Sinngehalt maximal verdichteten Vokabulars zur verfügen. Aus diesem Grund werden auch die englischen Zusammenfassungen bei gleichem Inhalt immer um etwa ein Fünftel kürzer als die deutschen und Übersetzungen vom Deutschen ins Englische durch fachlich unkundige "native speakers" erweisen sich als relativ unbrauchbar.

Im Falle von Doktoranden pflege ich die Demokratisierung von Wissen und präzisen Sprachgebrauch anzustreben indem ich zunächst einmal den "Mother-Test" verlange: "Lassen Sie das, was Sie geschrieben haben, Ihre Mutter oder eine andere kluge, aber fachfremde Person lesen. Wenn sie etwas nicht versteht, erklären Sie es ihr keinesfalls, sondern schreiben Sie Ihren Text so lange um, bis sie es versteht." Ich staune allerdings, was Mütter angeblich alles verstehen. Am Ende muss ich andererseits immer wieder auch zur Kenntnis nehmen, dass der kritische Kommentar leichter von der Hand geht als sich das propagierte Ideal verwirklichen lässt. Eine besondere selbstreflexive Dialektik entfaltet die hier vorgetragene Forderung nach Klarheit und Verzicht auf unnötigen Ballast des sprachlichen Ausdrucks nämlich darin, dass mir in einem internen Review rückgemeldet wurde, dass der vorliegende Text ja durch Wortwahl und Satzbau das Problem in feinsinniger Weise ironisiere. Das war eigentlich nicht die Intention.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

Literatur

  • 01 Goldberg D . Revising the meta-structure we use in our classification: Towards DSM-V and ICD-11.  Der Nervenarzt. 2008;  79 Suppl. 4 S557
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