Psychiatr Prax 2009; 36(4): 193-194
DOI: 10.1055/s-0029-1222538
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Der Wilde von Aveyron

Ein Erziehungsdrama zwischen Psychiatrie und PädagogikHorst Isermann
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Publication Date:
08 May 2009 (online)

 

Zur Zeit der Aufklärung im 18.Jahrhundert wurden auch neue pädagogische Ideen entwickelt. Durch individuelle Erziehung und Bildung sollen alle Menschen in die Gesellschaft aufgenommen und damit die Struktur der Gesellschaft verbessert werden. Zu den Ersten, die in diesem Sinne tätig waren, gehörte in Frankreich vor gut 200 Jahren der Arzt und Taubstummenlehrer Jean Itard. Er führte einen in der Literatur weltweit bekannt gewordenen Erziehungsversuch bei einem verwilderten und wahrscheinlich geistig behinderten Jungen, den er Victor nannte, durch. Angeregt von der "moralischen Behandlung" der englischen Psychiater verfolgte Itard bereits moderne Erziehungsmethoden, allerdings auf medizinischer Grundlage. Das besagt, dass Körper und Seele zumeist mit Hilfe der Medizin soweit bereit sein müssen, die erzieherischen Maßnahmen aufnehmen zu können. Für dieses pädagogische Vorgehen prägten die Österreicher Georgens und Deinhardt 1861/63 den Begriff der Heilpädagogik. Einer der Ersten, der die Heilpädagogik praktisch ausübte, war der Pädagoge Johannes Trüper (1855-1921) in Jena, der von dem Psychiater Otto Binswanger und dem Kinderarzt Jussuf Ibrahim von der dortigen Universitätsklinik unterstützt wurde.

Victor von Aveyron. Im Frühjahr des Jahres 1797 tauchte in einem Wald des Departements Aveyron im Süden Frankreichs zum ersten Mal ein nackter, verwilderter Junge auf, dessen Herkunft völlig unbekannt war und blieb. Solche Findelkinder, die lange Zeit von Menschen getrennt lebten und keine Erziehung erhielten, wurden, weil sie gelegentlich von Tieren aufgezogen wurden, Wolfskinder genannt. Besonders bekannt geworden sind in der Literatur Romulus und Remus sowie Kasper Hauser.

Der Wilde von Aveyron konnte nach der ersten Festnahme schnell wieder entweichen, wurde aber 15 Monate später erneut eingefangen und in die Obhut einer Witwe gebracht. Erneut verschwand er wieder im Wald, bis er am Morgen des 9.Januar 1800 abermals eingefangen und für mehrere Monate in das Hospiz nach Rodez, dem Verwaltungssitz des Departements Aveyron, nordöstlich von Toulouse, gebracht wurde ([1], S.117). Dort wurde er von dem bekannten Naturforscher und Zoologen Pierre Joseph Bonneterre (1762-1808) eingehend beobachtet und untersucht. Der 136cm große, wahrscheinlich 12 Jahre alte Junge lebte vermutlich 7 Jahre in absoluter Einsamkeit, nachdem er im Alter von 5 Jahren ausgesetzt worden war ([1], S.123). Er konnte u.a. nicht sprechen, fiel aber dem Untersucher durch eine gewisse Voraussicht, Geschicklichkeit und Schlauheit auf ([2], S.67). Von Rodez wurde der Junge in die Taubstummenanstalt, das spätere Kaiserliche Taubstummeninstitut, nach Paris verlegt, deren Leitung der Arzt Jean Itard am 31.Dezember 1800 übernommen hatte.

Jean Itard (1774-1838). Itard war nach dem Medizinstudium zunächst als Chirurg tätig. Nach der Übernahme der Taubstummenanstalt im Jahr 1800 betreute er dort abends die Heimbewohner, während er vormittags seine Privatpatienten empfing. Gleich mit Beginn des neuen Jahres nahm er die Unterweisung des wilden Jungen von Aveyron auf. Der einzige Laut, den der Junge anfangs hervorbrachte, war der Vokal O. Das veranlasste Itard, ihn Victor zu nennen. Ab 1805 betätigte er sich auch als Taubstummenlehrer.

Itards Erziehungsexperiment. Itard ging davon aus, dass Victor in seiner frühen Kindheit keine oder nur eine sehr unzureichende Erziehung erhielt und durch die jahrelange Isolation eventuell Erlerntes wieder vergaß. Das veranlasste Itard, den 12-jährigen Jüngling nicht als schwachsinnig, sondern als "ein Kind von 10 oder 12 Monaten" zu bezeichnen. Daraus leitete er einen "rein medizinischen Fall ab, dessen Behandlung in den Bereich der moralischen Medizin" falle. Für die moralische, d.h. die seelische Behandlung ("traitement moral") des Wilden von Aveyron teilte Itard fünf Hauptgesichtspunkte mit: Integration in die Gemeinschaft, Wecken der Sensibilität, Erweiterung des Gedankenkreises, Förderung der Sprache und Übung der einfachsten Geistestätigkeiten an den Gegenständen seiner körperlichen Bedürfnisse ( [1] , S.124).

Zu der Frage, ob eine geistige Behinderung bei Victor überhaupt vorlag und wenn ja, wie stark sie ausgeprägt war, meldete sich zunächst der französische Psychiater Philippe Pinel (1745-1826) zu Wort. Er hatte Victor untersucht und urteilte aufgrund seiner Erfahrungen mit Idioten in seiner Anstalt Bicêtre, dass der Wilde von Aveyron eindeutig ein Idiot und zu keiner Art von Geselligkeit und Bildung fähig sei ([1], S.120). Dabei spielte auch eine Rolle, dass damals die artikulierte Sprache das Wesen eines Menschen ausmachte. Itard dagegen teilte diese Ansicht nicht. Er erhoffte sich eine "Heilbarkeit dieser offensichtlichen Idiotie" ([1], S.120).

Seine Arbeit mit Victor fasste Itard in 2 Erziehungsberichten aus den Jahren 1801 und 1806 zusammen. Während anfangs deutliche Fortschritte im Handlungs- und Erkennungsbereich sowie in der Sozialisation beschrieben wurden, waren die Fortschritte später bescheidener. Allerdings wurde er wacher und neigte zum Vagabundieren ([4], S.86-88). Victor blieb aber weiterhin in der von Itard geleiteten Taubstummenanstalt. Vom 18.Lebensjahr an war er bis zu seinem Tod 1828 in der Obhut von Madame Guérin und lebte in einem Nebengebäude der Anstalt. Für ihre Mühe und Pflege des jetzt jungen Mannes erhielt Madame Guérin auf Veranlassung des Innenministeriums 150 Franken im Jahr ([4], S.90).

Kritik an der Erziehung Itards. Befürchtungen kamen auf, dass Itard seine Erziehungsmethoden, teilweise möglicherweise mit Zwang, nur anwandte, um die geistige und körperliche Entwicklung des Wilden aus Gründen seiner Karriere zu studieren. In einem solchen "Naturzustand" frei von Erziehung und Zivilisation könne er die Wirkung der Erziehung am besten beobachten. Vor allem habe Itard sich nicht liebevoll und fürsorglich genug verhalten.

Ausführungen der gegenwärtigen Pädagogin Birgitt Werner ist zu entnehmen, dass der französische Psychoanalytiker und Philosoph Octave Mannoni (1899-1989) Itards pädagogisches Wirken eher als unzulänglich wertete und eine sexuelle Beziehung zu Victor vermutete, die aber nicht näher beschrieben wird. Spätere Pädagogen und Psychoanalytiker sahen in dem Wilden von Aveyron einen primären Autisten, sodass Itards Erziehungsmethoden nicht wirken konnten ([3], S.27). Auch wurde in der neueren pädagogischen und soziologischen Literatur Itard als "brutaler Erzieher" bezeichnet, dessen Erziehungsmethoden einem "Züchtigungs- und Strafprozess" oder einer "Dressur" entsprachen ([3], S.28, 31). Ferner wird erwähnt, dass Victor bis zu seinem Tod unter der Aufsicht und Betreuung von der Haushälterin Madame Guérin lebte, die einen günstigen Einfluss auf ihn ausgeübt und seine Entwicklung wesentlich gefördert haben könnte.

Zusammenfassung. Trotz aller Kritik war Itard als Arzt und Taubstummenlehrer bezüglich seiner Erziehungsberichte im Sinne der heutigen Geistigbehindertenpädagogik tätig, die sich erst vor etwa 50 Jahren als Sonderbereich der Heilpädagogik entwickelt hat. Die Kritiken kamen ausschließlich von Pädagogen und Psychoanalytikern, von Fachrichtungen, die der Medizin und vor allem der Psychiatrie mitunter sehr kritisch gegenüberstehen. Itards Tätigkeit als Arzt und Pädagoge sowie die heilpädagogische Arbeit des Pädagogen Johannes Trüper zusammen mit Ärzten, insbesondere Psychiatern, der Universitätskliniken Jena zeigen, dass für die Förderung, Hilfe, Betreuung und Beratung geistig behinderter Menschen ein Zusammenwirken von medizinischen und pädagogischen Denkansätzen notwendig ist. Das drückt der Begriff "Heil-Pädagogik" ja auch aus. Eine Einengung nur auf die Pädagogik erscheint für die Betreuung geistig behinderter Menschen nicht ausreichend. Der Konflikt Medizin, bzw. Psychiatrie - Pädagogik wird weiterbestehen.

Literatur

  • 01 Itard J . Gutachten über die ersten Entwicklungen des Victor von Aveyron (1801). In: Malson L, Itard J, Mannoni O. Die wilden Kinder. Frankfurt/M: Suhrkamp 1976, 3. Aufl.: 117, 123-124. 
  • 02 Lane H . Das wilde Kind von Aveyron. Frankfurt/M: Ullstein 1985. 
  • 03 Werner B . Die Erziehung des Wilden von Aveyron. Frankfurt/M: Peter Lang 2004. 
  • 04 Malson L . Die wilden Kinder. In: Malson L, Itard J, Mannoni O. Die wilden Kinder. Frankfurt/M: Suhrkamp 1976, 3. Aufl.: 86-88. 

Dr. Horst Isermann

Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie

Leipziger Str. 52a

27356 Rotenburg/Wümme

Email: horst.isermann@gmx.de

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