DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2009; 7(02): 6-9
DOI: 10.1055/s-0029-1220584
Science
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Wie gestalten Osteopathen die Beziehung zu ihren Patienten? – Eine qualitative Studie

Regina Novy
Wien, WSO
,
Peter Sommerfeld
Wien, WSO
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Publication Date:
27 March 2009 (online)

Einleitung

Grundlage jeder therapeutischen Beziehung ist die Begegnung zwischen zwei Menschen. Eine Begegnung, die, wie Wieland anmerkt, durch die nicht mit anderen teilbare Verantwortung der handelnden Person (Osteopath) und der durch dieses Handeln betroffenen zweiten Person (Patient) geschaffen wird. Die an ihnen vollzogenen Handlungen stehen für die Betroffenen stets in einem unmittelbaren vitalen Bedeutungszusammenhang [30]. Im Gegensatz zu anderen therapeutischen Bereichen, wie z.?B. der Psychotherapie, gibt es in der Osteopathie keine klaren konzeptuellen Merkmale dafür, welchen Anforderungen die Struktur dieser Beziehung gerecht werden soll. Vielmehr, so unsere erste These, ist die Beziehungsgestaltung im Rahmen einer osteopathischen Intervention in erster Linie von meist unreflektierten Faktoren wie dem Selbstverständnis, dem Menschenbild und dem weltanschaulichen Gebäude der behandelnden Osteopathen abhängig.

Vor dem Hintergrund von Erkenntnissen aus angrenzenden Wissenschaftsbereichen wie Tiefenpsychologie, Entwicklungspsychologie und Psychotherapie soll hier das Ergebnis einer qualitativen Studie vorgestellt werden, die in Form von problemzentrierten, leitfadenunterstützten Interviews mit fünf Osteopathen der Frage nachgegangen ist, wie Osteopathen die Beziehung zu ihren Patienten konkret gestalten und welche Konsequenzen man daraus für die osteopathische Lehre und Praxis diskutieren kann.

In welcher Form die therapeutische Beziehung im Rahmen der osteopathischen Intervention zum Problem werden kann, lässt sich aus folgenden theoretischen Ansätzen ableiten:

  • der Bindungstheorie,

  • der Entwicklungspsychologie und

  • den im Bereich der Psychotherapie diskutierten Phänomenen von Empathie, Compliance, Übertragung und Gegenübertragung.

Die Bindungstheorie und ihre mögliche Bedeutung für die osteopathische Intervention

In der Bindungstheorie wird davon ausgegangen, dass frühkindliche Bindungserlebnisse die Beziehungsfähigkeit eines Menschen nachhaltig prägen [5]. Eine gelungene frühkindliche Bindung – z.?B. als Containment [3] oder Holding beschrieben – führt demnach zu einem generalisierten Gefühl von Kompetenz und Selbstwert und ermöglicht die Entwicklung einer Reihe sozialer und kognitiver Kompetenzen. Diese Erkenntnisse sind, so unsere zweite These, für die osteopathische Intervention von Relevanz, weil hier die Beziehung zwischen Therapeut und Patient zu einem beachtlichen Teil auf einer nonverbalen Ebene abläuft und schon allein das therapeutische Setting (der Patient liegt und wird vom Osteopathen berührt) die Möglichkeit der Regression der Patienten fördert. Damit tragen Osteopathen eine spezifische Verantwortung. Sie sind aufgefordert, ihren Patienten ein empathisches, einfühlsames Verhalten im Sinne des „Holding” entgegenzubringen und damit als ein „sicherer Behälter” für alle Gefühle der Patienten im Sinne des „Containment” zu agieren bzw. zu reagieren.


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Entwicklungspsychologische Kontexte

Aus der Entwicklungspsychologie können besonders Aspekte der Ich–Entwicklung und Erkenntnisse aus der Körperschemaforschung für die Osteopathie von Bedeutung sein. Dabei verdienen die Arbeiten über die Entwicklung und Störbarkeit des Körpererlebens und der Körpergrenzen besondere Beachtung [4, 31]. Bei psychisch labilen oder traumatisierten Menschen (auch ohne manifeste psychische Erkrankungen) kann Körperkontakt zu bedrohlichen Gefühlen führen. Dies ist für die osteopathische Intervention von Relevanz, da diese u.?a. durch einen engen körperlichen Kontakt gekennzeichnet sein kann. Osteopathen sollten demnach einen bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit dem Körpererleben und den damit in Zusammenhang stehenden Körpergrenzen ihrer Patienten entwickeln.


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Empathie, Compliance, Übertragung und Gegenübertragung – Phänomene einer osteopathischen Intervention?

Psychotherapeutische Zugänge (darunter v.?a. die Psychoanalyse) beschreiben klare strukturelle Merkmale einer therapeutischen Beziehung. Zu den wesentlichen Elementen einer solchen Beziehung gehören Empathie, Compliance, Übertragung und Gegenübertragung. In der jüngeren Psychotherapieforschung werden zunehmend auch die Interaktionsprozesse und Wechselwirkungen zwischen Therapeut und Patient reflektiert [2]. In der Folge wird das Paradigma der therapeutischen Abstinenz der Analytiker infrage gestellt und eine Neudefinition der therapeutischen Beziehung gefordert. Diese Erkenntnisse und Entwicklungen können auch für die Osteopathie von Relevanz sein und würden damit zu Schwerpunktverschiebungen in der Beziehung zwischen Osteopath und Patient führen. Unsere vierte These postuliert dementsprechend, dass ein vielleicht stillschweigend hingenommenes „Dogma der Abstinenz” und eine damit verlangte Neutralität des Osteopathen gegen–über seinem Patienten kritisch hinterfragt werden sollte. Dies scheint v.?a. vor dem Hintergrund jenes holistischen Paradigmas relevant zu sein, das den ganzen Menschen ins Zentrum der osteopathischen Intervention gestellt sehen will. Auch Übertragungsphänomene, die in einer osteopathischen Behandlung ja primär auf körperlicher Ebene ablaufen bzw. durch diese Ebene vermittelt werden, sollten vor diesem Hintergrund betrachtet werden.


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