Einleitung
Einleitung
Das Ausmaß der chronischen Wunden in den westlichen Nationen wird von Politik, Öffentlichkeit,
aber auch den Gesundheitsberufen eher unterschätzt, da sich diese Krankheitsbilder
oft im Versteckten abspielen. Gesundheitsökonomen gehen davon aus, dass ungefähr 1 %
der Gesundheitsausgaben westlicher Länder in die Versorgung von chronischen Wunden
einfließt (Health Econ Study 1980 [1]
[2]
[3]). Zahlreiche Studien zur Lebensqualität von Patienten mit chronischen Wunden haben
in den letzten Jahren gezeigt, dass diese sehr deutlich eingeschränkt ist, einerseits
aufgrund der Wundschmerzen, aber andererseits auch aufgrund der zeitlichen und materiellen
Ressourcen, welche durch die Krankheit gebunden werden, sowie durch die soziale Stigmatisierung
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10].
In älteren Arbeiten aus Großbritannien und Kontinentaleuropa wurde in den 1960er-Jahren
berichtet, dass ungefähr 2 % der Bevölkerung mindestens 1-mal im Leben ein chronisches
Ulcus cruris durchmacht haben und dass 80 – 90 % dieser Ulzera venös bedingt seien
[11]. In der Bonn-Studie (Erhebungsjahr 2003 [2] hatten noch 0,7 % der Bevölkerung mindestens 1-mal im Leben ein Ulcus cruris (Bonner
Venenstudie/Referenzen B). Aufgrund von Berichten aus Zentrumskliniken muss davon
ausgegangen werden, dass bei der Ursache der chronischen Wunden ein Shift von den
venösen ([Abb. 1 a] und [1 b]) zu den gemischtvenös-arteriellen ([Abb. 2]), den arteriellen ([Abb. 3]) und den neuropathisch-ischämischen Fußulzera stattgefunden hat. Diese Vermutung
beruht allerdings auf Publikationen aus Zentrumsspitälern [12]
[13]
[14]
[15]. Im Gespräch mit ÄrztInnen an den regionalen Krankenhäusern und den dermatologischen
und gefäßmedizinischen Praxen wird dieser Eindruck allerdings klar bestätigt.
Abb. 1 a Chronische venöse Insuffizienz mit venösem Ulkus (C6; Stadium 3 nach Widmer). Crossen-
und Stamminsuffizienz der V. saphena magna (Grad 4 nach Hach). Typische „mediale Stauungsstraße”.
b Chronische venöse Insuffizienz mit venösem Ulkus (C6; Stadium 3 nach Widmer). Crossen-
und Stamminsuffizienz der V. saphena parva (Grad 3 nach Hach). Typische „laterale
Stauungsstraße”.
Abb. 2 Gemischtes venös-arterielles Ulkus. Alle klinischen Zeichen einer fortgeschrittenen
chronischen venösen Insuffizienz (C6, Stadium 3 nach Widmer). Die arterielle Abklärung
ergibt eine pAVK im Stadium 2 nach Fontaine, mit mehreren filiformen Stenosen der
A. femoralis superficialis und der A. poplitea. Aufgrund der Dermatolipofasziensklerose
hat der Unterschenkel die Form „einer Champagnerflasche, die auf dem Kopf steht”.
Gemischte venös-arterielle Ulzera sind oft bimalleolär, d. h. gleichzeitig medial
und lateral lokalisiert.
Abb. 3 Arterielles Ulkus. Die vaskuläre Abklärung ergibt einen normalen Venenstatus, jedoch
eine fortgeschrittene pAVK im Stadium 2 nach Fontaine, mit einem Ankle-Brachial-Pressure-Index
(ABPI) von 0,5. Arterielle Ulzera sind in der Regel am lateralen Unterschenkel lokalisiert.
Eine chronische kritische Extremitäten-Ischämie liegt in der Regel nicht vor, aber
die arterielle Perfusion reicht für eine konservative Wundheilung ohne Revaskularisation
nicht mehr aus.
Venöse Ulzera auf dem Rückzug
Venöse Ulzera auf dem Rückzug
Wenn man mit Ärzten und Pflegenden spricht, die sich bereits seit einigen Jahren mit
Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden beschäftigen, wird der Eindruck im
Trend bestätigt, dass die Anzahl und Frequenz der Patienten mit großen und schlecht
versorgten venösen Ulzera in den letzten 20 Jahren eher rückläufig ist. Genaue epidemiologische
Daten zu dieser Verschiebung fehlen allerdings weitgehend, denn die alten epidemiologischen
Studien aus den 1960er- und 1970er-Jahren [11]
[16] sind mit den modernen Studien methodisch nur bedingt vergleichbar, und Studien zur
Verteilung der verschiedenen Ursachen chronischer Wunden stammen in der Regel aus
Zentrumsspitälern [13]
[17] und sind daher nicht Bevölkerungs-basiert. In phlebologischen Arbeiten aus Universitätskliniken
wird in den letzten Jahren jeweils berichtet, dass 40 – 50 % der Unterschenkelulzera
eine „reine” venöse Ursache haben (im Gegensatz zu Zahlen von 80 – 90 % vor 50 Jahren),
ein Befund, den wir aus unserem eigenen Krankengut nur bestätigen können.
Verschiedene Gründe können für den wahrscheinlichen Rückgang der „rein” venösen Ulzera
geltend gemacht werden. Venöse Ulzera werden aufgrund neuerer duplex-sonografischer
Untersuchungen ungefähr zur Hälfte durch eine tiefe Veneninsuffizienz, im Allgemeinen
im Rahmen eines postthrombotischen Syndroms verursacht und zur anderen Hälfte durch
eine epifasziale Insuffizienz, vor allem der großen Stammvenen (Vena saphena magna
([Abb. 1 a]) und parva ([Abb. 1 b]), komplett oder partiell) [18]
[19]
[20].
Aufgrund der seit inzwischen 40 Jahren konsequent durchgeführten Thrombose-Prophylaxe
mit niedrig-dosiertem Heparin und Unterschenkelkompression in allen Risikosituationen
im Krankenhaus [21] (Immobilisierung, große Bauchoperationen, große orthopädische Operationen, Wochenbett)
muss davon ausgegangen werden, dass die Inzidenz von tiefen Beinvenenthrombosen in
den letzten Jahrzehnten signifikant abgenommen hat.
Hinzu kommt eine breit verfügbare Thrombosediagnostik mittels Labortest und Duplex-Sonografie,
was zu einer früheren Feststellung von frischen tiefen Beinvenenthrombosen führt.
Damit dürfte in den letzten 40 Jahren ein Shift von den ausgedehnten Mehr-Etagenthrombosen
[19] zu den reinen Ein-Etagen-Unterschenkelthrombosen stattgefunden haben. Diese hinterlassen
aber im weiteren Verlauf viel seltener ein postthrombotisches Syndrom [22].
Beim einmal etablierten schweren postthrombotischen Syndrom hat die „Shave-Therapie”
der Dermatolipofasziensklerose ebenfalls zu längeren anhaltenden rezidivfreien Verläufen
bei sehr ausgedehnten Befunden der chronischen venösen Insuffizienz geführt [23]. Auf Seiten der Varizenchirurgie und Sanierung der epifaszialen Refluxe wurde eine
Verfeinerung der Strippingtechniken in Richtung von minimal-invasiven chirurgischen
Eingriffen und endovenösen Behandlungsverfahren vollzogen, wodurch diese Therapien
heute einer breiten Bevölkerung bei relativ geringer Morbidität zu Verfügung stehen
[24]
[25]
[26]
[27]. Auch dieser Trend dürfte zu einer Abnahme der schweren Formen der chronischen venösen
Insuffizienz geführt haben.
Gemischt venös-arterielle Ulzera auf dem Vormarsch ([Abb. 2])
Gemischt venös-arterielle Ulzera auf dem Vormarsch ([Abb. 2])
Auf der anderen Seite stellen wir an unserem Krankengut fest, dass 20 % aller Patienten
mit einem Ulcus cruris eine relevante periphere arterielle Verschlusskrankheit haben
(definiert durch einen Knöchel-Arm-Index [ABPI] unter 0,9) [13]. Andere Zentren berichten über eine vergleichbare Prävalenz von gemischten venös-arteriellen
Ulzera [15]. Eine Erklärung hierfür ist die zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung, was
zu einer Zunahme der unerkannten peripheren arteriellen Verschlusskrankheit im Alter
führt. Die vaskuläre Abklärung von Patienten mit venösen Ulzera bringt dann eine oft
bisher unbekannte periphere arterielle Verschlusskrankheit zum Vorschein.
Die Therapie der gemischten venös-arteriellen Ulzera ist jedoch wesentlich schwieriger
als die der rein venösen [12]
[15], und die Rezidivrate ist in unserem Krankengut wesentlich höher (30 % statt 15 %
nach 1 Jahr) [14]. Ein gemischtes venös-arterielles Ulkus ist im Prinzip ein venöses Ulkus, bei welchem
im gleichen Bein gleichzeitig eine periphere arterielle Verschlusskrankheit vorliegt.
Die Behandlung muss daher die gleichen Gesichtspunkte beachten wie die Behandlung
der rein venösen Ulzera. Wenn immer möglich, sollte jedoch als erster Schritt die
periphere arterielle Verschlusskrankheit interventionell angegangen werden, um das
gemischte venös-arterielle Ulkus in ein rein venöses Ulkus zu verwandeln. Damit wird
einerseits der Grundpfeiler der Therapie venöser Ulzera, die Kompressionsbehandlung,
wieder normal toleriert, andererseits darf empirisch davon ausgegangen werden, dass
durch eine Rekanalisation auch die Wundheilung im Bein generell verbessert wird, auch
wenn hierfür der formale Beweis im Sinne einer kontrollierten Studie (PTA vs. keine
PTA) bis heute aussteht.
Arterielle Ulzera und ischämisch-hypertensive Ulzera (Ulcus hypertonicum Martorell)
Arterielle Ulzera und ischämisch-hypertensive Ulzera (Ulcus hypertonicum Martorell)
Während die rein arteriellen Ulzera, welche typischerweise supramalleolär lateral
lokalisiert sind ([Abb. 3]) [13]
[28], in unserer Erfahrung und auch in der Literatur in den letzten Jahren bei ungefähr
3 – 5 % aller Ulzera stehen geblieben sind, hat in unserem Krankengut die Inzidenz
des hypertensiv-ischämischen Ulkus Martorell eher zugenommen (derzeit ebenfalls bei
3 – 5 %). Dabei handelt es sich um eine klinisch recht typische, am laterodorsalen
Unterschenkel gelegene ([Abb. 4 a] und [4 b]) spontan auftretende Hautnekrose (Hautinfarkt). Die figurierte Nekrose ist Ausdruck
einer nekrotisierenden Livedo racemoasa. Eine arterielle Hypertonie gehört zur Definition
des Krankheitsbildes, wobei diese meistens seit Jahrzehnten vorbesteht und gut eingestellt
ist. 60 % der Patienten haben zusätzlich einen Diabetes mellitus, oft im Rahmen eines
metabolischen Syndroms. Die zweite absolute Voraussetzung zur Etablierung dieser Diagnose
ist eine histologisch einfach nachweisbare obliterative subkutane Arteriolosklerose.
Für den Nachweis dieses histologischen Merkmals ist eine relativ große und tiefe Hautbiopsie
(3 × 1 cm Spindel) aus dem Wundrand erforderlich. In unserem Krankengut machen hypertensiv-ischämische
Ulzera in den letzten Jahren ungefähr 5 % der Fälle aus. Wir erklären uns dies damit,
dass langjährige Hypertoniker dank den stark verbesserten Möglichkeiten der vaskulären
Prävention mit antihypertensiver Therapie, Statinen und Plättchenhemmern im Schnitt
wesentlich länger komplikationsfrei überleben, d. h. ohne die großen vaskulären Komplikationen
wie Schlaganfall und Myokardinfarkt. Dafür können diese Patienten typischerweise zwischen
dem 55. und 80. Lebensjahr als Spätkomplikation ihrer arteriellen Hypertonie ein Ulcus
hypertonicum Martorell entwickeln.
Abb. 4 a Ulcus hypertonicum Martorell: typischerweise laterodorsale Hautnekrose (Hautinfarkt),
entzündlicher Ulkusrand, Verwechslungsgefahr mit Vaskulitis oder Pyoderma Gangraenosum.
b Ulcus hypertonicum Martorell: Variante mit entzündlicher Hautnekrose (Hautinfarkt)
über der Achillessehne.
Ungewöhnliche Ulzera am Unterschenkel
Ungewöhnliche Ulzera am Unterschenkel
Ungefähr 10 % der chronischen Unterschenkel-Ulzera werden durch seltene Ursachen hervorgerufen,
und ungefähr 5 % können ätiologisch nicht sicher eingeordnet werden [29]. Wichtig ist dabei die frühzeitige Diagnose von malignen Hauttumoren. Aus den großen
Fallserien von dermatologischen „Ulkus-Ambulanzen” an großen Kliniken geht hervor,
dass ungefähr 2 % aller Patienten ein „malignes Ulcus curis” aufweisen, d. h. einen
ulzerierten Hauttumor [28]
[30]. Deshalb muss insbesondere bei atypisch lokalisierten, „vegetierenden” oder bei
aus dem Hautniveau aufragenden chronischen Wunden eine Hautbiopsie gefordert werden.
Die sekundäre maligne Entartung in chronisch entzündeten und rezidivierend aufbrechenden
Hautarealen von chronisch venöser Insuffizienz ist eine Seltenheit und betrifft ungefähr
1 – 2 % aller Patienten mit venösen Ulzera [30].
Insbesondere die diagnostische Abklärung bei Verdacht auf ulzerierte maligne Hauttumore
oder auf nekrotisierende Vaskulitis (Purpura) erfordert die Durchführung einer Hautbiopsie
[31]. Wenn ein Labor für die histologische direkte Immunfluoreszenz zur Verfügung steht,
kann es zur besseren Klassifizierung einer nekrotisierenden kutanen leukozytoklastischen
Vaskulitis von Vorteil sein, wenn ein kleines Gewebestück von 2 × 3 mm, möglichst
mit intakter Epidermis, mit Eilpost ins Labor gesendet wird. Dies erlaubt z. B. den
Nachweis von vaskulären IgA-Ablagerungen bei der Purpura Henoch-Schönlein.
Diabetische Fußulzera
Diabetische Fußulzera
Zusätzlich zu den Unterschenkel-Ulzera (Ulcus cruris) müssen die diabetischen Fußulzera
als weitere sehr häufige Ursache chronischer Wunden in Betracht gezogen werden. Diese
unterscheiden sich allerdings in ihrer Ätiopathogenese und klinischen Erscheinung
grundlegend von den Unterschenkel-Ulzera. Sie werden auch in der Mehrzahl der Fälle
in diabetologischen, orthopädischen oder allgemein-chirurgischen Institutionen und
Praxen betreut und an den dermatologischen Einrichtungen eher im Rahmen anderer Hautprobleme
oder als weniger häufiges Krankengut der Ulkussprechstunden der dermatologischen Kliniken
gesehen. Deshalb werden sie den eingangs erwähnten 1 % Lebenszeitrisiko nicht zugerechnet,
sondern müssen separat berücksichtigt werden.
Das diabetische Fußsyndrom einschließlich der diabetischen Fußulzera ist für die Hospitalisationen
und Komplikationen des Diabetes mellitus hoch-relevant. Ungefähr die Hälfte aller
Unterschenkel-Amputationen müssen bei Diabetikern vorgenommen werden und ungefähr
die Hälfte aller Hospitalisationen von Diabetikern betreffen das diabetische Fußsyndrom
und seine Komplikationen. Dies unterstreicht dessen enorme medizinisch-soziale und
medizinisch-ökonomische Bedeutung.
Die genaue Abklärung der Polyneuropathie, der vaskulären Situation und die orthopädische
Befundaufnahme ist Inhalt weiterer Ausführungen…