Gesundheitswesen 2009; 71(2): 57-58
DOI: 10.1055/s-0029-1192026
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kurs 59° Nord, 24° Ost

Course 59° North, 24° EastM. Wildner
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

Email: manfred.wildner@lgl.bayern.de

Publication History

Publication Date:
23 February 2009 (online)

Table of Contents #

„Sie passieren das Leuchtfeuer Schleimünde und halten Kurs auf die Kieler Förde” oder, für das südlichere Deutschland: „Sie passieren das Leuchtfeuer Friedrichshafen und halten Kurs auf den Seerhein bei Konstanz”. So oder so ähnlich lauten nautische Kursbestimmungen für Schiffe in Fahrt. Erster Schritt ist eine Kreuzpeilung zur Positionsbestimmung – heute satellitenunterstützt über das Global Positioning System (GPS). Dann wird der neue Kurs gepeilt, um Missweisung und Ablenkung korrigiert und angelegt. Kurz gesagt gibt es für das Boot zuerst ein zeitnahes Danach (Positionsbestimmung) und dann ein Davor (Zielpeilung) – im Dazwischen befindet es sich mehr oder weniger auf Kurs.

Klingt trivial? Mag sein – doch so selbstverständlich dieses Vorgehen in der Nautik ist, so wenig selbstverständlich ist es für unser gesellschaftliches Unterwegssein. Bürgerliche Tugenden? Bourgeoisie. Religion? Pharisäertum. Familie? Eine Lebensabschnittsgemeinschaft, wenn überhaupt. Es scheint, dass wir in mancher Hinsicht die letzten gesamtgesellschaftlichen Positionsbestimmungen hinter uns gelassen haben, ohne uns auf einen neuen Kurs geeinigt zu haben. Die vertrauten Markierungen verschwinden aus der Sicht, ohne dass ein neuer Orientierungspunkt am Horizont auszumachen ist. Die altvertraute „Kreuzpeilung” mit moralischem Kompass ist zwar durch eine wissenschaftlich exaktere, moderne und globale Positionsbestimmung ersetzt – doch zeigt sich, dass auch die genaueste Bestimmung im Hier und Jetzt uns nicht abnimmt, das nächste Ziel zu setzen. Die Kritik von David Hume (1711–1776) am „Sein-Sollen-Fehlschluss” bewahrheitet sich: Das, was ist, sagt noch nichts abschließendes darüber, was sein soll.

Unser Leben nur noch ein Dahintreiben „ohne Peilung”, für den Augenblick noch durch die Massenträgheit von unserem letzten Kurs bestimmt? Eine Fahrt im Nebel, die jederzeit für eine Überraschung gut ist? So jedenfalls sieht die „postmoderne” Positionsbestimmung aus – Leben in einer Welt „danach”: Posttraditionell, postnational, vielleicht sogar schon postsexuell und posthuman [1]. Mit der Postmoderne wird in erster Näherung eine „anything goes”-Haltung verbunden, ein „Mach, was Du willst”! Mit diesem Schlagwort griff der österreichische Wissenschaftstheoretiker Paul K. Feyerabend (1924–1994) den Titel eines Musicals auf, welches seine turbulenten Handlungen an Bord des Transatlantik-Liners S.S. America entfaltet. Ursprünglich verwendete Feyerabend diese Formulierung „wider den Methodenzwang” als Plädoyer für eine „anarchische” Methodenvielfalt in der Wissenschaft [2]. Inzwischen wird damit ein gleichberechtigtes, unverbindliches Nebeneinander von Stilen, Meinungen, Positionen und Lebensentwürfen verbunden.

Der für dieses Gefühl stehende Begriff der Postmoderne geht auf den französischen Literaturtheoretiker Jean-Francois Lyotard (1924–1998) zurück [3]. Für Lyotard ist menschliche Geschichte nicht von vernünftig erfassbarer Kausalität gekennzeichnet, sondern durch schwer zu bändigende Einbrüche, durch unvorhergesehene Ereignisse, welche unsere Vernunft ad absurdum führen. Positiv gesprochen auch durch das Erhabene, Sublime, Neue: durch eine Wirklichkeit, die sich plötzlich unseres Denkens bemächtigt, ohne von unserer Vernunft vorhergesehen zu sein. Damit verbunden ist der Hinweis auf eine „Konstruiertheit” unserer Weltsicht: die Welt ist das, was unsere Deutung daraus macht. Daraus ergibt sich wiederum die Option der „Dekonstruktion” als der kritischen Analyse der Deutungszusammenhänge und der Grenzen ihrer Geltung [4]. Für Philosophie und Literaturwissenschaften eine intellektuell reizvolle Herausforderung, für die Naturwissenschaften mit ihrem universalen Geltungsanspruch ein eher sperriger Gedanke.

Wirken sich solche Konstruktionen auf Vorstellungen von Gesundheit aus? Ein paar Angebote vom Marktplatz des „anything goes”: Die binäre Unterscheidung in männlich und weiblich – eine überholte Konstruktion. Dafür der Entwurf einer Kombination von Mensch und Maschine als eines „Cyborg” (cyber organism) [5]. Sich auflösende Grenzen zwischen dem im Schoß der Natur gezeugten „homo genitus” und einem (selbst)-gemachten „homo factus”, unterwegs zu einem „,homo mechanicus et surrogatus‘ am Horizont einer lichten, womöglich alterungsfreien Zukunft” [6]. Menschendämmerung im posthumanen Zeitalter, der Einzelne nicht nur als seines Glückes Schmied, sondern auch als seines Körpers Schneider [ebd.]. Und ein Blick jenseits des Individuums: Das Gesundheitswesen als Renditeobjekt des Kapitalmarktes? Seine Weiterentwicklung ein Wellness-Markt, am liebsten unverändert solidarisch und damit krisenfest finanziert? „Medicina ancilla oeconomiae” – das Gesundheitswesen im Dienst der Wirtschaft?

Wenn mit diesen Entwürfen die letzten vertrauten Markierungen außer Sicht geraten sein werden – trägt die Positionsbestimmung als „Danach” überhaupt noch? Ist womöglich die „Postmoderne” mit dem Verlust der in diesem Begriff noch versteckt anwesenden Moderne – als „letzter Boje” – auch nicht mehr das, was sie einmal war? „Schluss mit lustig” angesichts der gewaltigen Freiheit der Meere?

Sozial- und gesundheitspolitisch Zeit für eine Neubestimmung, sei es mit altem Kompass oder modernem GPS, und für eine Diskussion darüber, wohin die Reise gehen soll. Zeit, auch sprachlich zurückzufinden zu einer Standortbestimmung, welche ein „Schon” und ein „Noch nicht” wiederentdeckt, jenseits des nebeligen postmodernen „Danach”. Zeit für eine Redeweise, die, wenn sie schon nicht von einem klaren Ziel sprechen kann, so doch zumindest gemeinsame Hoffnungen erörtert und ein Bewusstsein des gemeinsamen Unterwegssein entwickelt. Zeit dafür, den Blick wieder von der rückwärtsgewandten Betrachtung der verschwimmenden Spur des eigenen Kielwassers zu lösen und zukunftsorientiert nach vorne zu schauen.

Sind diese gesellschaftlichen und damit politischen Orientierungen Aufgaben der Medizin bzw. der Gesundheitswissenschaften? Max Weber gibt für den wissenschaftlichen Standpunkt eine klare Ausrichtung vor: „Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines Problems ist es ja geradezu, […] dass um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muss” [7, S. 28]. Und weiter: „Wir denken nicht daran, derartige Auseinandersetzungen für ,Wissenschaft‘ auszugeben und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen” [ebd., S. 34].

Ein Standpunkt, der im übergeordneten Interesse intellektueller Redlichkeit und wissenschaftlicher Leidenschaftslosigkeit für die Wissenschaft trägt. Der uns dabei einerseits mit der Frage zurück lässt, wo genau die Grenze zwischen wissenschaftlich denkendem Ordnen und sozialpolitisch wertender Weltanschauung verläuft. Andererseits mit der Frage, in wieweit die für die gesundheitliche Versorgungspraxis verantwortlichen Fachgebiete auch sozialpolitische Verantwortung haben. Und Drittens, wie sie diese Verantwortung in Abgrenzung zu ihrem wissenschaftlichem Auftrag wahrnehmen sollten.

Nach der leidenschaftslosen Positionsbestimmung also die möglicherweise leidenschaftlich zu diskutierende Frage nach dem wünschenswerten Kurs. Eine solche Kursbestimmung nach der Positionsbestimmung ist eine nautische Notwendigkeit, wenn Seenotfällen und Kursstreitigkeiten abgewehrt werden sollen. In diesem Kontext könnte z. B. diskutiert werden, das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen als Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gesundheit der Menschen zu dienen (in Anlehnung an Gustav Radbruchs Definition des Rechtes [8]) zu bestimmen. Dies in der Hoffnung, dass durch einen solchen rechtzeitigen normativen Konsens verhindert wird, dass eines nebeligen Morgens ein Teil der Mannschaft mit der Schiffskasse von Bord geht und im Beiboot Kurs auf die Cayman-Inseln nimmt [9].

Gibt es Neuigkeiten aus der Europäischen Kapitänskabine? Europa hat im Rahmen guter Stewardship nach einem Kurs für seine Gesundheitswesen gesucht. Die Gesundheitsminister haben im Juni 2008 eine Kartierung vorgenommen und den Kurs 59° 26′ N, 24° 46′ O ausgegeben: die geografische Breite und Länge des Ostseehafens Tallinn in Estland. Die Zielsetzung der „Charta von Tallinn” ist „die Mitgliedsstaaten […] dazu zu verpflichten, durch Stärkung der Gesundheitssysteme auf eine Verbesserung der Gesundheit der Menschen hinzuwirken” [10]. Darüber hinaus werden gemeinsame Wegmarken für ein plurales Europa formuliert: Gesundheit primär als Recht und Zweck in sich selbst und sekundär als Beitrag zu Gesellschaft und Wirtschaft, Fairness und Teilhabe, Solidarität und gesundheitliche Chancengleichheit, Qualität und Wirtschaftlichkeit, Transparenz, Verantwortlichkeit und Nachhaltigkeit. Wegmarken, die als wertebasierte Orientierungspunkte zum großen Teil ein „Davor” sind und vielleicht teilweise immer bleiben werden. Und die gerade dadurch längere Zeit für die Kursbestimmung wirksam sein könnten.

Beispiele für solche Wegmarken in diesem Heft? Zum Beispiel der kommentierte Beitrag zu sozialer Ungleichheit in der gesundheitlichen Versorgung, Verbraucherschutz bzw. Patientensicherheit durch Überwachung der Infektionshygiene durch Gesundheitsämter, die ambulante Versorgung aus Versichertenperspektive. Viel Freude beim Lesen und Bestimmen der eigenen Positionen!

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Literatur

  • 1 Habermas J. Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001: 43
  • 2 Feyerabend P. Wider den Methodenzwang – Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1976 (Engl. Original: Against Method, Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge. New Left Bks, 1975)
  • 3 Lyotard JF. Das postmoderne Wissen. Wien, Passage Verlag 2005 (Franz. Original: La condition postmoderne. Paris 1979)
  • 4 Derrida J. Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1972
  • 5 Haraway D. Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2005 (Engl. Original: Woman, Simian and Cyborgs. The Reinvention of Nature. Routledge Chapman Hall, London 1991)
  • 6 Gerl-Falkowitz H-B. Ist die „Mitternacht der Abwesenheit” überschritten?.  Zur Gottesfrage in der Postmoderne. Geist und Leben. 2008;  81 370-384
  • 7 Weber M. Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Weber M. Schriften zur Wissenschaftslehre. Reclam, Stuttgart 1991
  • 8 Radbruch G. Rechtsphilosophie.  K.F. Koehler, Stuttgart. 1950;  (1932) S. 127
  • 9 Hengsbach F. „Mehr Markt” macht nicht gesund – Gesellschaftliche Risiken und solidarische Sicherung entsprechen einander.  Gesundheitswesen. 2008;  70 339-349
  • 10 Europäische Gesundheitsministerkonferenz der Weltgesundheitsorganisation Europa .Die Charta von Tallinn: Gesundheitssysteme für Gesundheit und Wohlstand. Tallinn, Estonia, 27. Juni 2008 ( http://(www.euro.who.int/document/e91438 g.pdf , Zugriff am 02.01.2009)
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Prof. Dr. med. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

Email: manfred.wildner@lgl.bayern.de

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Literatur

  • 1 Habermas J. Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001: 43
  • 2 Feyerabend P. Wider den Methodenzwang – Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1976 (Engl. Original: Against Method, Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge. New Left Bks, 1975)
  • 3 Lyotard JF. Das postmoderne Wissen. Wien, Passage Verlag 2005 (Franz. Original: La condition postmoderne. Paris 1979)
  • 4 Derrida J. Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1972
  • 5 Haraway D. Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2005 (Engl. Original: Woman, Simian and Cyborgs. The Reinvention of Nature. Routledge Chapman Hall, London 1991)
  • 6 Gerl-Falkowitz H-B. Ist die „Mitternacht der Abwesenheit” überschritten?.  Zur Gottesfrage in der Postmoderne. Geist und Leben. 2008;  81 370-384
  • 7 Weber M. Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Weber M. Schriften zur Wissenschaftslehre. Reclam, Stuttgart 1991
  • 8 Radbruch G. Rechtsphilosophie.  K.F. Koehler, Stuttgart. 1950;  (1932) S. 127
  • 9 Hengsbach F. „Mehr Markt” macht nicht gesund – Gesellschaftliche Risiken und solidarische Sicherung entsprechen einander.  Gesundheitswesen. 2008;  70 339-349
  • 10 Europäische Gesundheitsministerkonferenz der Weltgesundheitsorganisation Europa .Die Charta von Tallinn: Gesundheitssysteme für Gesundheit und Wohlstand. Tallinn, Estonia, 27. Juni 2008 ( http://(www.euro.who.int/document/e91438 g.pdf , Zugriff am 02.01.2009)
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