Klin Padiatr 2009; 221(2): 52-53
DOI: 10.1055/s-0029-1192017
Gastkommentar

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diabetes mellitus beim Frühgeborenen: Erstmalige Behandlung mit Sulfonylharnstoff

Neonatal Diabetes Mellitus: Treatment with Sulfonylurea in a Preterm Born InfantR. W. Holl
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Publication Date:
04 March 2009 (online)

Einen Diabetes beim Neugeborenen mit Glibenclamidtabletten behandeln – dies wäre vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen. Hier müssen wir umlernen: Eines der spannendsten Kapitel der pädiatrischen Diabetologie in den letzten Jahren war die molekulare Aufklärung der Pathophysiologie bei einigen Patienten mit neonatalem Diabetes: 2004 beschrieb die Gruppe um Andrew Hattersley im New England Journal of Medicine dass heterozygote Mutationen im KCNJ11-Gen auf Chromosom 6 zu einer Veränderung des Kalium-Kanal-Proteins KIR6.2 führen [5]. Die dadurch bewirkte vermehrte Öffnung des Kaliumkanals an der pankreatischen ß-Zelle führt zu vermehrtem Kaliumausstrom aus der Zelle, das Membranpotential wird stabilisiert (das Zellinnere also negativer geladen), die Zellaktivität dadurch vermindert. Im Falle der ß-Zelle bedeutet das, dass weniger Insulin sezerniert wird, da die ß-Zelle dann nur schwerer aktivierbar ist. Folge ist ein bereits in der Neugeborenenzeit oder den ersten Lebensmonaten auftretender Diabetes mellitus.

Diese Entdeckung stellte nicht nur die molekularbiologische Klärung einer weiteren, seltenen monogenetischen Erkrankung dar: Der Kaliumkanal der ß-Zelle ist der Angriffspunkt der Sulfonylharnstoffe, eine Substanzgruppe die seit Jahrzehnten für die Behandlung des Typ-2-Diabetes im Erwachsenenalter eingesetzt wurde. Der in Deutschland bekannteste Vertreter ist das Glibenclamid. Und tatsächlich konnte die überwiegende Mehrzahl der Patienten mit Kir6.2-Muta­tionen erfolgreich mit Glibenclamid behandelt werden: Die notwendige Dosis ist – bezogen auf das Körpergewicht der Patienten – etwa 10 mal höher als die bei Erwachsenen mit Typ-2-DM eingesetzte Dosis, oft sind 3 oder 4 Gaben täglich notwendig. Meist kann dann Insulin ganz abgesetzt werden und eine stabile Blutzuckereinstellung mit optimalen HbA1c-Werten und ohne Hypoglykämien wird erreicht – für die Patienten ein Segen im Vergleich zu den Schwierigkeiten einer Insulintherapie im 1. oder 2. Lebensjahr, sei es mit Injektionen oder Insulinpumpen. Der Verfasser dieses Editorials betreut selbst ein junges Kind mit Kir 6.2-Mutation: Das sich völlig altersentsprechend entwickelnde Kind mit normalen Blutzuckerwerten bei minimalem Therapieaufwand (3 Tabletten pro Tag) wird von den Familien als „Sechser im Lotto” empfunden. Diese Assozia­tion ist nicht ganz falsch, denn bei aller Begeisterung muss realisiert werden, dass Kir 6-2-Mutationen absolut nur bei wenigen Patienten den neonatalen Diabetes erklären. Nach der DPV-Datenbank, in der die meisten Kinder mit Diabetes erfasst werden, sind es zur Zeit ca. 10 Patienten in Deutschland und Österreich [6].

Kir 6.2 wird nicht nur im Pankreas exprimiert sondern auch im Gehirn. Das DEND-Syndrom stellt eine Kombination von neonatalem Diabetes und neurologischen Symptomen wie Krampfanfälle, Muskelschwäche und Entwicklungsverzögerung dar. Auch diese Patientengruppe profitiert deutlich von der Medikation mit Sulfonylharnstoff, nicht nur in Bezug auf die Blutzuckerwerte, sondern auch für die neurologische Symptomatik.

Im Jahr 2006 wurde von 2 Arbeitsgruppen gleichzeitig ein anderes Gen, ABCC8, welches SUR1 (Sulfonylurearezeptor 1), eine andere Teilkomponente des Kaliumkanals kodiert, als weitere Ursache für neonatalen Diabetes beschrieben [2] [8]. Die klinische Variabilität dieser Patientengruppe scheint etwas größer zu sein, aber auch bei SUR-Mutationen können viele Patienten oral mit Sulfonylharnstoffen behandelt werden [7].

Andere Ursachen des neonatalen Diabetes, wie UPD6 (die häufigste Ursache der transienten ­Verlaufsform), Pankreaserkrankungen/Pankreas-aplasien, syndromale Erkrankungen usw. dürfen natürlich nicht vergessen werden, aber bei jedem Kind mit nicht geklärtem neonatalem Diabetes, transient oder permanent, sollte heute gezielt nach Mutationen in KCNJ11 oder ABCC8 gesucht werden [3] [4].

Vor diesem Hintergrund haben Wendelin und Mitarbeiter aus Graz bei einem frühgeborenen Mädchen der 24. Schwangerschaftswoche mit längerdauerndem, aber dann doch transientem Diabetes einen Behandlungsversuch mit Glibenclamid unternommen, obwohl zum Zeitpunkt des Therapiebeginns die Ergebnisse der Molekularbiologie noch nicht verfügbar waren, und im Nachhinein auch keine Mutation im KCNJ11-Gen oder im ABCC8-Gen nachgewiesen werden konnte [9]. Hyperglykämien bei Frühgeborenen sind nicht selten, halten aber in der Regel nicht so lange an wie in dem beschriebenen Fall. Auch die Steroidgabe mag zur Diabetesentwicklung beigetragen haben – letztlich bleibt die Ursache des Diabetes bei dem Kind aber offen.

Obwohl die pathophysiologische Grundlage unklar bleibt, trat bei dem Kind prompt eine Besserung der Hyperglykämie ein, die intravenöse Insulintherapie konnte beendet werden. Was lernen wir aus diesem Fallbericht? Es wäre sicher falsch bei jedem Kind mit Neugeborenendiabetes eine orale Therapie zu versuchen. Es muss klar festgehalten werden, dass ohne den Nachweis von Kir6.2- oder SUR-1-Mutationen generell nur Insulin zur Behandlung empfohlen werden kann. Und es muss auch betont werden, dass bisher nur wenig Erfahrung mit einer Glibenclamidgabe bei Früh- und Neugeborenen vorliegt. Aber der Fallbericht aus Graz deutet darauf hin, dass möglicherweise innerhalb der klinischen Diagnose „neonataler Diabetes” weitere Krankheitsentitäten vorliegen könnten, die heute noch nicht molekularbiologisch dia­gnostiziert werden können, die aber möglicherweise auch von einer Glibenclamidtherapie profitieren.

In den nächsten Jahren sind also weitere spannende Erkenntnisse zum „neonatalen Diabetes” zu erwarten [1].

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt hiermit, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

  • 1 Ashcroft FM. ATP-sensitive K+channels and disease: from molecule to malady: Am J Physiol Endocrinol Metab.  2007;  293 E880-889
  • 2 Babenko AP. et al . Activating mutations in the ABCC8 gene in neonatal diabetes mellitus: N Engl J Med.  2006;  355 456-466
  • 3 Chen R. et al . Neonatal and late-onset diabetes mellitus caused by failure of pancreatic development: report of 4 more cases and a review of the literature.  Pediatrics.. 2008;  121 ((6)) e1541-1547
  • 4 Flechtner I. et al . Neonatal hyperglycaemia and abnormal development of the pancreas.  Best Pract Res Clin Endocrinol Metab.. 2008;  22 17-40
  • 5 Gloyn AK. et al . Activating Mutations in the Gene Encoding the ATP-Sensitive Potassium-Channel Subunit.  N Engl J Med. 2004;  350 1838-1849
  • 6 Grulich-Henn J. et al . Connataler Diabetes/Diabetesbeginn in den ersten 6 Lebensmonaten: Auswertung der Patienten mit Kir 6.2-Mutation und UPD6 in der DPV-Wiss-Datenbank. 42. Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, 16.–19. Mai 2007, Hamburg.  Diabetologie und Stoffwechsel. 2007;  S1, S72 (P199)
  • 7 Klupa T. et al . Mutations in the ABCC8 gene are associated with a variable clinical phenotype.  Clin Endocrinol (Oxf). 2008;  , [Epub ahead of print]
  • 8 Proks P. et al . A heterozygous activating mutation in the sulphonylurea receptor SUR1 (ABCC8) causes neonatal diabetes Hum Mol Genet.  2006;  15 1793-1800
  • 9 Wendelin G, Haim M, Reiterer F. et al . Diabetes mellitus beim Frühgeborenen: Erstmalige Behandlung mit Sulfonylharnstoff.  Klin Padiatr. 2009;  221 100

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Reinhard W. Holl

Universität Ulm

Abteilung Epidemiologie

Albert-Einstein-Allee 47

89081 Ulm

Email: reinhard.holl@uni-ulm.de

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