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DOI: 10.1055/a-2770-0696
Interdisziplinäre Versorgung von Patient*innen mit Spastizität in Deutschland: Ergebnisse eines Expertentreffens
Interdisciplinary care for patients with spasticity in Germany: Results of an expert meetingAuthors
Supported by: Ipsen Biopharmaceuticals
Zusammenfassung
Die Versorgung von Patient*innen mit Spastizität in Deutschland erfordert eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurologie, Physikalischer und Rehabilitativer Medizin, Hausärzt*innen sowie Ergo- und Physiotherapie. Auf einem Expertentreffen im Dezember 2024 diskutierten Expert*innen aktuelle Versorgungslücken, bestehende Netzwerkstrukturen und Strategien zur Verbesserung der leitliniengerechten Behandlung, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung von Botulinumneurotoxin. Zentrale Schlussfolgerungen sind die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung, der Aufbau von Qualifizierungsprogrammen für Therapeut*innen und die Etablierung eines interdisziplinären Curriculums. Ergänzend wurden innovative Modelle wie digitale Nachsorge-Apps und Gütesiegel für Spastikbehandlungszentren vorgestellt. Das Expertentreffen einigte sich auf nächste Schritte zur Stärkung der multiprofessionellen Zusammenarbeit und zur Förderung einer patientenzentrierten Versorgung.
Abstract
The care of patients with spasticity in Germany requires close interdisciplinary cooperation between neurology, physical and rehabilitative medicine, general medicine and occupational and physical therapy. At an experts meeting in December 2024, experts discussed current gaps in care, existing network structures, and strategies for improving guideline-compliant treatment, particularly with regard to the use of botulinum toxin. Key findings include the need for better networking, the development of qualification programs for therapists, and the establishment of an interdisciplinary curriculum. In addition, innovative models such as digital aftercare apps and quality seals for spasticity centers were presented. The experts meeting agreed on next steps to strengthen multi-professional collaboration and promote patient-centered care.
Schlüsselwörter
Spastizitätsbehandlung - Interdisziplinäre Zusammenarbeit - Botulinumneurotoxin A (BoNT-A) - Neurorehabilitation - Patientenzentrierte VersorgungKeywords
Spasticity Management - Interdisciplinary Collaboration - Botulinum Toxin A (BoNT-A) - Neurorehabilitation - Patient-centered CareHintergrund
Spastische Bewegungsstörungen sind häufig eine Folge neurologischer Erkrankungen wie Schlaganfall und beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich. Trotz evidenzbasierter Leitlinien [1] zur multidisziplinären Versorgung zeigt sich in Deutschland eine Unter- und Fehlversorgung [2] [3] [4]. Besonders betroffen sind Patient*innen in Pflegeheimen [4] sowie solche ohne Zugang zu spezialisierten Netzwerken. Botulinumneurotoxin gilt als eine wirksame Therapieoption [1] [5], wird jedoch nicht flächendeckend eingesetzt [2] [3] [4] [6]. Vor diesem Hintergrund wurde ein Expertentreffen mit klinischen und therapeutischen Expert*innen veranstaltet, um Best-Practice-Empfehlungen zu identifizieren, Netzwerkstrukturen zu stärken und gemeinsame Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.
Umsetzung des Treffens
Das Expertentreffen fand am 7. Dezember 2024 in Hannover statt. Teilnehmende waren Neurolog*innen, Rehabilitationsmediziner*innen, Ergo- und Physiotherapeut*innen unter der Moderation der Firma IPSEN Pharma. Das Programm umfasste:
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Impulsvorträge zur Versorgungssituation und zu bestehenden Netzwerkmodellen (Jena, Weimar, Konstanz).
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Diskussionsrunden zu Therapieansätzen, interdisziplinärer Zusammenarbeit und Patientenpfaden.
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Workshops zu Möglichkeiten der Steigerung leitliniengerechter Therapie und zur Stärkung von Awareness.
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Konsensfindung zu Best Practices und nächsten Schritten.
Die Ergebnisse wurden protokolliert, thematisch geclustert und in Konsensentscheidungen überführt.
Ergebnisse und Konsens
Versorgungssituation und Herausforderungen
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Trotz vorhandener Leitlinien erfolgt die leitliniengerechte Therapie nur bei einer Minderheit der Patient*innen [2].
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Häufige Defizite: unregelmäßige oder fehlende Physio-/Ergotherapie, orale Antispastika ohne Botulinumneurotoxin, geringe Nachsorge nach Akutereignissen, fehlende Langzeitbetreung.
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Hindernisse: Budgetrestriktionen, unzureichende Vergütung, fehlende Kenntnisse der Leitlinien, geringe Patientenaufklärung.
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Besonders problematisch: teilweise extreme Unterversorgung in Pflegeheimen.
Als mögliche Best-Practice-Ansätze und pos. Beispiele für Infrastruktur wurden benannt
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Post-Stroke-Ambulanz Jena: strukturierte Nachsorge und und direkte Kooperation mit Hausärzt*innen.
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Kliniken Schmieder Konstanz: inter- und transdisziplinäre Reha mit Einbindung aller Berufsgruppen.
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Digitale Ansätze: Apps zur Nachsorge („MEIN SCHMIEDER AKTIV“), finanziert durch Rentenversicherung und Berufsgenossenschaften.
Therapieziele
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Linderung von Schmerzen und Pflegebedürftigkeit, Vermeidung von Sekundärkomplikationen, Reduktion systemischer Medikation.
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Optimierung der Lebensqualität und Alltagsintegration.
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Partizipationsorientierte Therapie auf Basis der ICF-Klassifikation [7].
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
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Bedarf an besserer Verzahnung zwischen Physio- und Ergotherapie.
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Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache (ICF-basiert und damit funktions- und leidensbezogen), Kommunikation und standardisierter Assessments.
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Verminderung von Defiziten in Befundungszeit und Dokumentation, insbesondere in der Physiotherapie. Das betrifft v. a. fehlende Zeitressourcen und derzeit finanziell nicht abgebildete Assessmenterstellung in den Therapieberufen.
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Mangel an strukturierten regionalen Netzwerken; existierende Kontakte häufig zufällig.
Strategien zur Verbesserung
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Entwicklung eines Curriculums und Gütesiegels für Spastiktherapeut*innen.
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Einrichtung von Spastik-Lotsen zur Koordination zwischen Ärzt*innen und Therapeut*innen, letztlich zwischen allen Beteiligten
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Nutzung bestehender Ambulante-Spezialärztliche-Versorgung (ASV)-Strukturen.
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Integration interdisziplinärer Ausbildungsmodelle und Rollentausch-Programme.
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Stärkere Einbindung von Fachgesellschaften und Fortbildungszentren.
Die Diskussion verdeutlichte, dass die Fragmentierung der Versorgung und fehlende interdisziplinäre Strukturen zentrale Barrieren für eine optimale Behandlung darstellen. Insbesondere die mangelnde Nutzung von Botulinumneurotoxin zeigt den Bedarf an gezielter Qualifizierung und Awareness-Steigerung. Das vorgeschlagene Gütesiegel könnte als sichtbarer Qualitätsstandard dienen und Netzwerke stärken. Digitale Anwendungen bieten eine Chance, die Kontinuität der Versorgung zu verbessern, stoßen jedoch noch auf Akzeptanzprobleme. Die enge Einbindung von Ausbildungsstätten und die frühzeitige Sensibilisierung für interdisziplinäres Arbeiten sind entscheidend, um langfristig eine nachhaltige Versorgungsqualität zu gewährleisten. Die Rehabilitation im Sozialraum gewinnt immer größere Bedeutung. Rehabilitationskundige Fachkollegen in der Breite der Versorgung sind rar. Der rehabilitationsbeauftragte Arzt könnte dabei eine Schlüsselfunktion einnehmen [8].
Ausblick
Das Expertentreffen zeigte die Relevanz einer multiprofessionellen, patientenzentrierten Versorgung von Patient*innen mit Spastizität in Deutschland auf. Zentrale Handlungsempfehlungen sind:
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Aufbau eines Curriculums und Gütesiegels für Spastiktherapeut*innen.
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Etablierung von Spastik-Lotsen und regionalen Netzwerken.
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Nutzung digitaler Tools zur Nachsorge und Patientenaufklärung.
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Förderung interdisziplinärer Ausbildungs- und Fortbildungsprogramme.
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Unterstützung durch pharmazeutische und wissenschaftliche Partner nutzen.
Durch die Umsetzung dieser Maßnahmen kann die Versorgung von Patient*innen mit Spastizität nachhaltig verbessert und die interdisziplinäre Zusammenarbeit gestärkt werden.
Interessenkonflikt
Some of the authors use the drug but are not involved in procurement processes.
N.B. und A.G.: Referententätigkeit und Durchführung von Studien mit Finanzierung von IPSEN
-
Literatur
- 1 Platz T. et al. Therapie des spastischen, Syndroms, S2k-Leitlinie, 2024. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR, 2024).
- 2 Rakers F. et al The Incidence and Outpatient Medical Care of Patients with Post-Stroke Spasticity. Dtsch Arztebl Int 2023; 120 284-285
- 3 Potempa C. et al „Zur Versorgungslage von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung in Deutschland“. „Monitor Versorgungsforschung“ 2019; 65-72
- 4 Völkel L, Rebscher H, Rychlik R. „Versorgungssituation von Patient:innen mit spastischer Bewegungsstörung in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland“. „Monitor Versorgungsforschung“. 2022 81-87
- 5 Simpson DM. et al Assessment: Botulinum neurotoxin for the treatment of spasticity (an evidence-based review): report of the Therapeutics and Technology Assessment Subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology 2008; 70 1691-1698
- 6 Lee J-I. et al Verbesserung der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit spastischer Bewegungsstörung nach Schlaganfall. Der Nervenarzt 2024; 95 133-140
- 7 (WHO), W.H.O. International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). 2001
- 8 Beyer J. et al Rehabilitative Kompetenz im Akutbereich verankern: die rehabilitationsbeauftragte Ärztin/der rehabilitationsbeauftragte Arzt im Krankenhaus (Kurzfassung). Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2022; 32 200-202
Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 04 November 2025
Accepted: 20 November 2025
Article published online:
23 December 2025
© 2025. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution License, permitting unrestricted use, distribution, and reproduction so long as the original work is properly cited. (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Platz T. et al. Therapie des spastischen, Syndroms, S2k-Leitlinie, 2024. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR, 2024).
- 2 Rakers F. et al The Incidence and Outpatient Medical Care of Patients with Post-Stroke Spasticity. Dtsch Arztebl Int 2023; 120 284-285
- 3 Potempa C. et al „Zur Versorgungslage von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung in Deutschland“. „Monitor Versorgungsforschung“ 2019; 65-72
- 4 Völkel L, Rebscher H, Rychlik R. „Versorgungssituation von Patient:innen mit spastischer Bewegungsstörung in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland“. „Monitor Versorgungsforschung“. 2022 81-87
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- 7 (WHO), W.H.O. International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). 2001
- 8 Beyer J. et al Rehabilitative Kompetenz im Akutbereich verankern: die rehabilitationsbeauftragte Ärztin/der rehabilitationsbeauftragte Arzt im Krankenhaus (Kurzfassung). Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2022; 32 200-202
