Open Access
CC BY 4.0 · NOTARZT
DOI: 10.1055/a-2739-2703
Originalarbeit

Auswirkungen der Versorgung psychiatrischer Notfälle auf die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie: eine prospektiv-bizentrische Patientenbefragung

Impact of Medical Care of Psychiatric Emergencies on the Physician Patient Relationship in Acute Psychiatry: a Prospective Bicentric Patient Survey

Authors

  • Benedikt Schick

    1   Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Benjamin Mayer

    2   Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, Universität Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN9189)
  • Christine Eimer

    3   Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Kiel, Deutschland (Ringgold ID: RIN15056)
  • Bettina Jungwirth

    1   Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Camilla Metelmann

    4   Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Sektion Notfallmedizin, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Eberhard Barth

    1   Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Claus-Martin Muth

    4   Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Sektion Notfallmedizin, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Markus Jäger

    5   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Kempten, Kempten, Deutschland
  • Paul Fetzer

    6   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Leonie Sitter

    6   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
  • Carlos Schönfeldt-Lecuona

    6   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universitätsklinikum Ulm, Ulm, Deutschland (Ringgold ID: RIN27197)
    7   Tagesklinik für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, CuraMed Tagesklinik Neu-Ulm GmbH, Neu-Ulm, Deutschland
 

Zusammenfassung

Ziel der Studie

Ziel der Studie war es, Auswirkungen der prähospitalen Versorgung psychiatrischer Notfälle auf die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie zu untersuchen.

Methodik

Durchführung einer fragebogenbasierten Umfrage an 135 psychiatrischen Notfallpatienten (2023–2024) an einer Universitätsklinik und einem Bezirkskrankenhaus.

Ergebnisse

Die negative Bewertung des Rettungsdienstfachpersonals hat die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie negativ beeinflusst (β = 1,75, p = 0,003). Notärztliche Gewalt-/Zwangsanwendung kann o. g. Arzt-Patienten-Beziehung verschlechtern (β = 4,65, p = 0,016). Vergleichbare Maßnahmen durch Rettungsdienstfachpersonal zeigten einen schwächeren Effekt (p = 0,006) als die der Notärzte (p < 0,001).

Schlussfolgerung

Empfinden psychiatrische Notfallpatienten die prähospitalen Maßnahmen als Zwang oder Gewalt, dann verschlechtert sich die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie. Notärztliche Maßnahmen haben dabei den größeren Einfluss.


Abstract

Objective

Aim of the study was to investigate the impact of prehospital care for psychiatric emergencies on doctor–patient relationship in acute psychiatry.

Methods

A questionnaire-based survey was conducted among 135 psychiatric emergency patients at a university hospital and a district hospital between 2023–2024.

Results

Negative perception of emergency medical services personnel had a negative impact on the doctor-patient relationship in acute psychiatry (β = 1.75, p = 0.003). Use of force/coercion by emergency physicians can further deteriorate the doctor–patient relationship (β = 4.65, p = 0.016). Comparable measures taken by emergency medical services personnel had a weaker effect (p = 0.006) than those taken by emergency physicians (p < 0.001).

Conclusion

If psychiatric emergency patients perceive prehospital measures as coercive or violent, the doctor–patient relationship in acute psychiatry deteriorates. In this regard, emergency medical measures have a greater impact.


Einleitung

Nahezu jeder dritte Notarzteinsatz ist mit einer psychiatrischen Erkrankung assoziiert [1]. Dabei steht die Inzidenz dieser Einsätze in starkem Kontrast zur von Notärztinnen und Notärzten wahrgenommenen Versorgungsqualität dieser speziellen Patientengruppe [2] [3] [4] [5]. Notärzte adressieren nicht nur ein Qualifikationsdefizit im Umgang mit psychiatrischen Patienten, sondern berichten auch über eine geringere Motivation in deren Versorgung [4] [6]. Für die Gruppe der psychiatrischen Notfälle wird dabei insbesondere eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung als unbedingt erforderlich für eine erfolgreiche Behandlung angesehen. Definierte Kernelemente der Arzt-Patienten-Beziehung sind dabei Vertrauen, Wissen, Respekt und Loyalität [7]. Laut Ridd et al. gibt es jedoch keinen einheitlichen konzeptionellen Rahmen, der allen Kernelementen einer klar definierten Arzt-Patienten-Beziehung das gleiche Gewicht beimisst [8]. In der prähospitalen Notfallmedizin, die von Zeitdruck und schnellen Entscheidungen geprägt ist, bleibt oft nur die Anwendung des von Szasz und Hollender definierten „aktiv-passiven“ Modells. In diesem Modell wird dem Patienten nur ein eingeschränktes Partizipationsrecht eingeräumt [8] [9]. Eine solche „nicht-partizipative“ Interaktion beeinflusst zweifellos die Arzt-Patienten-Beziehung negativ [7] [10]. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie das psychische Outcome des psychiatrischen Notfalls im Kontext der Notfallmedizin objektiviert werden kann. Das psychische Outcome lässt sich, anders als beispielsweise die 30-Tage-Mortalität des Intensivpatienten, nicht auf einen singulär messbaren Parameter reduzieren. Sowohl die Qualität und Quantität der psychischen Symptome als auch die direkte und indirekte Verarbeitung der prähospitalen Krisensituation spielen eine Rolle. Die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung, wie in unserer Studie untersucht, kann dabei, abhängig vom prähospitalen, subjektiven Erleben des Patienten, positiv oder negativ beeinflusst werden. Im Kontext des psychischen Outcomes kommt es somit beispielsweise zu einer schnelleren Verarbeitung des Erlebten, zu mehr Vertrauen in das medizinische Versorgungssystem und vice versa. Das Ziel der vorliegenden Studie war es daher, anhand strukturierter Interviews mit psychiatrisch erkrankten Notfallpatienten zu untersuchen, ob die Versorgung durch Notärzte und Rettungsdienstfachpersonal Auswirkungen auf die spätere Arzt-Patienten-Beziehung in der akutstationären psychiatrischen Behandlung hat.


Methoden

Nach Genehmigung durch die lokale Ethikkommission und Registrierung in einem zentralen Studienregister wurde von 2023 bis 2024 eine fragebogenbasierte Umfrage auf einer universitär-akutpsychiatrischen Station sowie auf einer akutpsychiatrischen Station einer regionalen Psychiatrie in Deutschland durchgeführt. Die Studie erfolgte gemäß den aktuellen Richtlinien der Deklaration von Helsinki. Alle teilnehmenden Patienten haben ihre schriftliche Einwilligung gegeben.

Einschlusskriterien waren:

  • Volljährigkeit und

  • notärztlich/rettungsdienstliche Einlieferung.

Ausschlusskriterien waren:

  • eine Erkrankungsschwere, die eine Teilnahme an der Studie unmöglich machte und

  • mangelnde Deutschkenntnisse.

Um die primäre Forschungsfrage zu beantworten, wurde ein Fragebogen von einem Notarzt und Anästhesisten, einem Psychiater sowie einem Psychologen entwickelt. Um die Arzt-Patienten-Beziehung als primären Endpunkt messen zu können, wurden validierte Skalen (Patient-Doctor Relationship Scale, Patient Satisfaction Questionnaire [PSQ]) für diese Forschungsfrage angepasst [11] [12].

Der Fragebogen wurde durch 10 Notärzte und 10 Psychiater bezüglich inhaltlicher Korrektheit validiert. Der Fragebogen (siehe Appendix, Teil 1) sowie Angaben zur inhaltlichen Struktur und zur statistischen Auswertung (siehe Appendix, Teil 2, Tabelle S1) finden sich im Appendix.


Patientenrekrutierung

Jede Neuaufnahme in einem der beiden teilnehmenden psychiatrischen Krankenhäuser wurde unmittelbar, bzw. bei einer Aufnahme außerhalb der Dienstzeit bis 08:00 Uhr am Folgetag, durch den diensthabenden Arzt dem Studienleiter gemeldet. Dieser prüfte vorab, ob eine Studienteilnahme entsprechend den formulierten Ein- und Ausschlusskriterien möglich war. Anschließend erfolgte die Aufklärung der Patienten sowie deren schriftliche Einwilligung. Die Aushändigung der Fragebogen sowie das tagesgleiche Einsammeln erfolgte durch geschulte Doktoranden.


Ergebnisse

Wie in [Abb. 1] dargestellt, konnten 135 Fragebogen ausgewertet werden. Die Rückläuferquote betrug 60%. Die demografischen Daten sind in [Tab. 1] aufgeführt. Um eine bessere Übersicht über die Ergebnisse zu ermöglichen, werden diese getrennt nach notärztlicher bzw. rettungsdienstlicher prähospitaler Versorgung berichtet.

Zoom
Abb. 1 Studienablauf.

Tab. 1 Demografische Daten.

Kategorien

N = 135

Prozent

Geschlecht

Männer

72

53%

Frauen

60

45%

divers

3

2%

Altersverteilung

18–19 Jahre

4

3%

20–29 Jahre

34

25%

30–39 Jahre

28

21%

40–49 Jahre

31

23%

50–59 Jahre

20

15%

60–69 Jahre

15

11%

70–79 Jahre

2

1%

80–89 Jahre

1

1%

ICD-10-Diagnosen

F00–09 organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen

5

4%

F10–19 psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

44

33%

F20–29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

35

26%

F30–39 affektive Störungen

38

28%

F40–49 neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

13

10%

F50–59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren

1

1%

F60–69 psychische und Verhaltensstörungen

15

11%

F80–89 Entwicklungsstörungen

2

1%

F90–99 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

1

1%

Z-Diagnosen (Z91.8, Z73)

3

2%

Aufnahme

nur mit Rettungsdienst

97

72%

mit Notarztbegleitung

38

28%

freiwillige Aufnahme

125

93%

unfreiwillige Aufnahme

10

7%

Aufnahme ohne Gewaltanwendung

115

85%

Aufnahme mit Gewaltanwendung

20

15%

Auswirkungen der prähospitalen Versorgung auf die Arzt-Patienten-Beziehung in der Psychiatrie

Versorgung durch Notärzte

Die im Fragebogen durch die psychiatrischen Notfallpatienten angegebene subjektive Bewertung des Verhaltens der Notärzte wurde anhand eines Scores zur Bewertung der Arzt-Patienten-Beziehung berechnet (siehe Appendix Teil 2). Die subjektive Bewertung des Verhaltens der Notärzte durch die psychiatrischen Notfallpatienten korrelierte stark mit der stationären Arzt-Patienten-Beziehung im anschließenden psychiatrischen Aufenthalt (Spearman-Rangkorrelation ρ = 0,56, p < 0,001). Darüber hinaus konnten prähospital-notärztliche Maßnahmen, die von den Patienten als physische oder psychische Gewalt empfunden wurden, als ein Prädiktor für eine schlechtere Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie identifiziert werden (Regressionskoeffizient β = 4,65, p = 0,016).


Versorgung durch Rettungsdienstfachpersonal

Wurden die Maßnahmen des Rettungsdienstfachpersonals in der prähospitalen Versorgung der psychiatrischen Notfallpatienten negativ empfunden, so wurde die folgende Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie ebenfalls als schlecht beschrieben (β = 1,75, p = 0,003). Zwischen der Bewertung der durch das Rettungsdienstfachpersonal durchgeführten Maßnahmen und der späteren Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie zeigte sich eine moderat-positive Korrelation (ρ = 0,407, p < 0,001).

Die weiteren potenziellen Einflussfaktoren auf die Arzt-Patienten-Beziehung zeigten in der statistischen Auswertung keinen signifikanten Einfluss (siehe [Tab. 2]).

Tab. 2 Ergebnisse der Regressionsanalyse, SEM = Standard Error of the Mean.

Variable

Regressionskoeffizient

SEM-Koeffizient

p-Wert

Rettungsdienstfachpersonal

Bewertung des Verhaltens des Rettungsdienstfachpersonals durch die Befragten

1,750

0,577

0,003

Gewalterfahrung durch Rettungsdienstfachpersonal

−0,166

0,837

0,843

durch Rettungsdienstfachpersonal provoziert gefühlt

1,245

1,027

0,228

durch Rettungsdienstfachpersonal beeinträchtigt gefühlt

0,669

0,702

0,343

Notarzt

Bewertung des Verhaltens des notärztlichen Personals durch die Befragten

−0,021

1,214

0,986

Gewalterfahrung durch den Notarzt

4,652

1,833

0,016

durch den Notarzt provoziert gefühlt

0,988

1,978

0,621

durch den Notarzt beeinträchtigt gefühlt

1,524

1,195

0,211



Anwendung von Zwang oder physischer/psychischer Gewalt durch Notarzt/Rettungsdienstfachpersonal als potenzieller Einflussfaktor auf die Arzt-Patienten-Beziehung in der Psychiatrie

Versorgung durch Notärzte

Vier von 8 Patienten, welche die notärztlich durchgeführten Maßnahmen als physische oder psychische Gewalt interpretierten bzw. keine klare Abgrenzung zu Zwangsmaßnahmen treffen konnten, bewerteten die nachfolgende Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie als „eher schlecht“ oder „schlecht“. Der Gesamtpunktewert für die Arzt-Patienten-Beziehung wurde als Messgröße zur Berechnung der Korrelation verwendet (siehe Appendix, Tabelle S2). Dabei zeigte sich eine moderate Korrelation zwischen den von den Patienten als Zwang interpretierten notärztlichen Maßnahmen und der anschließenden Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie (ρ = 0,56, p < 0,001).


Versorgung durch Rettungsdienstfachpersonal

Sechs von 18 Patienten werteten die vom Rettungsdienstfachpersonal durchgeführten Maßnahmen als Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt bzw. interpretierten die Maßnahmen als Zwang. Die folgende Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie wurde von dieser Gruppe an Patienten als „eher schlecht“ oder „schlecht“ bewertet. Wurden die Maßnahmen des Rettungsdienstfachpersonal als physisch/psychische Gewalt bzw. Zwang interpretiert, so war der Effekt auf die folgende Arzt-Patienten-Beziehung im Vergleich zu o. g. Maßnahmen durch Notärzte vergleichsweise schwach (p = 0,006).


Weitere, die Arzt-Patienten-Beziehung in der Psychiatrie beeinflussende Faktoren

Als potenzielle Einflussfaktoren auf die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie wurden die Variablen Geschlecht, Alter und Diagnose der Patienten in die Analyse einbezogen. Darüber hinaus wurde der potenzielle Einfluss der Aufnahmemodalitäten (freiwillig/unfreiwillig) untersucht. Weder die psychiatrische Diagnose noch das Geschlecht der Patienten hatten einen signifikanten Einfluss auf die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung (p = 0,269). Die Spearman-Rangkorrelation zeigte eine schwache Korrelation zwischen dem Alter der Patienten und ihrer Bewertung der Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung (r = −0,329). Je älter die Patienten waren, desto besser bewerteten sie die Arzt-Patienten-Beziehung (p < 0,001). Die Tabellen, auf denen die Analysen zur differenzierten Betrachtung der ICD-Diagnosen und des Geschlechts basieren, sind im Anhang aufgeführt (siehe Appendix, Tabelle S3, Tabelle S4). Geschlecht, Alter und Diagnose unterscheiden sich innerhalb ihrer Gruppen hinsichtlich der Arzt-Patienten-Beziehung nicht signifikant und stehen daher nicht in ausreichendem Zusammenhang mit der Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung als Gesamtkonstrukt. Die Art der Einweisung (freiwillig/unfreiwillig) wurde hingegen als potenzieller Risikofaktor für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen oder physischer/psychischer Gewalt im prähospitalen Bereich identifiziert.


Einweisung in die Akutpsychiatrie durch Notärzte

Von den 38 Patienten, die notärztlich versorgt wurden, wurden 5 unfreiwillig in die Psychiatrie eingewiesen. Vier dieser Patienten interpretierten die notärztlichen Maßnahmen als physische/psychische Gewalt. Von den 33 Patienten, die sich freiwillig in Behandlung begaben, interpretierten 4 die Maßnahmen als physische oder psychische Gewaltanwendung bzw. konnten nicht eindeutig zwischen der Anwendung von Gewalt und Zwang differenzieren. Somit nahmen die Patienten die notärztlichen Maßnahmen bei unfreiwilligen Einweisungen häufiger als Anwendung physischer oder psychischer Gewalt wahr (Korrelationsverhältnis, Eta-Koeffizient: η = 0,578, p = 0,002).


Einweisung in die Akutpsychiatrie durch Rettungsdienstfachpersonal

Von den 135 Patienten, die bei der Einweisung von Rettungsdienstfachpersonal begleitet wurden, wurden 10 unfreiwillig in der Akutpsychiatrie untergebracht. Sechs Patienten interpretierten die durch das Rettungsdienstfachpersonal angewandten Maßnahmen als Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt. Bei 12 der 125 freiwillig untergebrachten Patienten kam es aus deren Sicht zur Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt. Der Zusammenhang zwischen Aufnahmemodalität (freiwillig vs. unfreiwillig) und als Gewalt interpretierten Maßnahmen durch das Rettungsdienstfachpersonal war moderat (η = 0,394, p < 0,001).




Diskussion

In der vorliegenden Studie, die sich mit dem Zusammenhang zwischen der prähospitalen Versorgung psychiatrischer Notfälle und den Auswirkungen auf die sich anschließende Arzt-Patienten-Beziehung in der akutpsychiatrischen Behandlung befasst, zeigte sich: Wurde das Rettungsdienstfachpersonal von Patienten negativ bewertet, verschlechterte sich die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie. Wendeten Notärzte aus Sicht der Patienten physische oder psychische Gewalt oder Zwangsmaßnahmen an, dann verschlechterte sich die nachfolgende Arzt-Patienten-Beziehung ebenfalls signifikant.

Insgesamt bewertete nur ein geringer Anteil der befragten psychiatrischen Notfallpatienten den Notarzt bzw. das Rettungsdienstfachpersonal negativ. Dies deckt sich mit Ergebnissen von Baubin et al., die in einer Studie zur Entwicklung eines Fragebogens zur „Patientenzufriedenheit in der Notfallmedizin“ zeigen konnten, dass Notfallpatienten ein hohes Maß an Zufriedenheit in Bezug auf ihre prähospitale Versorgung berichten [11]. Wenngleich Vergleichsstudien fehlen, so kann angenommen werden, dass psychiatrisch erkrankte Patienten vergleichbare Ansprüche an die prähospitale Versorgung stellen, wie rein somatisch Erkrankte.

Im Rahmen der Studie zeigte sich, dass die Befragten notärztliche Maßnahmen teilweise als die Ausübung von Zwang, bis hin zur Anwendung physischer oder psychischer Gewalt interpretierten. Dies ist diskussionswürdig.

Der Terminus „Zwang“ ist nicht einheitlich definiert. Im Kontext der vorliegenden Studie kann Zwang als „(…) die Anwendung von Maßnahmen gegen den Patientenwillen, einschließlich der Anwendung körperlicher Gewalt“ (Übersetzung durch Verfasser) definiert werden [12]. Mögliche Auswirkungen von Zwang können, wie in der S3-Leitlinie zur „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ aufgeführt, zu einem „(…) zeitweiligen Verlust von Autonomie“ führen. Für „(…) die Betroffenen stellt dies fast immer eine große emotionale und körperliche Belastung dar.“ [13].

Unklar bleibt, ob die in der Studie befragten Patienten tatsächlich physischen Zwang erlebt haben oder bereits die verbale Einengung wie beispielsweise „Sie müssen mitkommen“ als Zwangsmaßnahme erlebt und geschildert wurde. Die von Patienten wahrgenommene Anwendung von Zwang oder physischer/psychischer Gewalt durch Notärzte beeinträchtigte dabei die Arzt-Patienten-Beziehung in der Akutpsychiatrie stärker als ein als vergleichbar geschildertes Vorgehen durch Rettungsdienstfachpersonal.

Erklärungsansätze dafür finden sich unter anderem in der unterschiedlichen Erwartungshaltung an die ärztliche Rolle. Attribute wie „Ärzte verkörpern Hilfe und Schutz, treten für die Rechte ihrer Patienten ein“ etc. werden durch die ggf. notwendige Anwendung von Zwang oder Gewalt aus Patientensicht konterkariert [14]. In einer Studie mit Notfallsanitätern in Südaustralien gaben diese an, sich bei psychiatrischen Notfällen eher in einer Art „Transportfunktion“ zu sehen [15]. Aus Patientensicht entspricht dies einem technisch-operativen Rollenverständnis des Rettungsdienstfachpersonals. Dies könnte teilweise erklären, warum notärztlicher Zwang oder Gewaltanwendung als schwerwiegender interpretiert werden [16] [17].

Die Arzt-Patienten-Beziehung wird nicht nur durch potenziell modifizierbare Faktoren beeinflusst, sondern auch durch nicht modifizierbare Faktoren. So bewerten ältere Patienten beispielsweise die Arzt-Patienten-Beziehung häufig positiver als jüngere Patienten [18] [19]. Ein patientenzentrierter Kommunikationsstil führt dabei unter anderem zu einer höheren Patientenzufriedenheit [20]. Unklar ist hingegen, welchen Einfluss das Geschlecht psychiatrischer Notfallpatienten auf deren prähospitale Versorgung hat. Studien bei somatisch erkrankten Patienten zeigen, dass Patientinnen in der Traumaversorgung sowie beim Meldebild „akuter Brustschmerz“ gegenüber männlichen Patienten benachteiligt sein können [21] [22]. Möglicherweise spielt an dieser Stelle die Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen, die zwischen Männern und Frauen divergieren, eine Rolle. Im akutpsychiatrischen Umfeld dominieren bei Frauen unter anderem Angst-, affektive und Persönlichkeitsstörungen, während bei Männern eher Suchterkrankungen vorliegen [23] [24]. Mitunter werden männliche Patienten als potenziell gefährlicher betrachtet [25]. Im notärztlichen Kontext wurden in einer Studie Hinweise auf eine häufigere Hypnotikaapplikation durch männliche Notärzte gefunden [26]. Die europäisch-multizentrische EUNOMIA-Studie hat bei Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis geschlechtsspezifische Aspekte unfreiwillig untergebrachter oder behandelter Patienten untersucht. Frauen neigen in dieser Studie eher zur Aggressivität, während die männlichen Patienten insgesamt schwerwiegendere Übergriffe begingen [27]. Ob und in welchem Ausmaß die psychiatrische Diagnose Auswirkungen auf die prähospitale Versorgung und damit die folgende Arzt-Patienten-Beziehung in der Psychiatrie hat, kann jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden [13]. Dagegen konnte in der zitierten EUNOMIA-Studie klar gezeigt werden, dass es im Rahmen unfreiwilliger Einweisungen in die Psychiatrie häufiger zur Gewalt- oder Zwangsanwendung durch Rettungsdienstfachpersonal gekommen ist [28]. Patienten berichteten in diesem Zusammenhang von dem Gefühl einer permanenten Demütigung durch die Zwangseinweisung [29]. An dieser Stelle wird deutlich, dass die prähospitale Patientenversorgung untrennbar Auswirkungen auf die Arzt-Patienten-Beziehung hat [30]. Daher sollte laut Lidz et al. „ein Aufnahmeverfahren mit geringstmöglicher Anwendung von Zwang, insbesondere die Vermeidung von Drohungen und Gewalt (…)“ angestrebt werden (Übersetzung und inhaltliche Kürzung durch die Verfasser) [31].

Dem Studiendesign sind Limitationen inhärent, welche die Einordnung der Ergebnisse erschweren. Grundsätzlich wird über eine Patientenbefragung zu vielen Aspekten die subjektive Meinung der Studienteilnehmer erfasst. Dabei kann ein Retrospektionseffekt nicht ausgeschlossen werden. Die von den Patienten berichteten potenziellen Gewalterfahrungen sind ihrer Natur nach subjektiv, und eine klare Trennung zwischen rechtlich im Ausnahmefall legitimierten Zwangsmaßnahmen und unzulässiger Gewaltanwendung wurde in der vorliegenden Studie nicht getroffen. Aufgrund der relativ geringen Stichprobengröße des Studienkollektivs (n = 135) sind die Ergebnisse nicht verallgemeinerbar.


Schlussfolgerung

Die Art und Weise, wie Notärzte und Rettungsdienstfachpersonal von Patienten wahrgenommen und bewertet werden, sowie der mögliche Einsatz von physischer oder psychischer Gewalt oder Zwangsmaßnahmen können einen nachhaltigen Einfluss auf die Arzt-Patienten-Beziehung in der psychiatrischen Weiterversorgung haben. Es ist denkbar, dass sich neben einer schlechteren Compliance auch die Aufenthaltsdauer in der Akutpsychiatrie verlängert. Dieser Aspekt sollte in weiterführenden Studien untersucht werden, um eine Kausalität zwischen prähospitaler Versorgung und potenziell schlechterem Outcome durch eine schlechtere Arzt-Patienten-Beziehung begründen zu können. Die Tatsache, dass Patienten die Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt durch Notärzte in der prähospitalen Versorgung als schwerwiegender für die Arzt-Patienten-Beziehung bewerten als die Anwendung von Gewalt durch Rettungsdienstfachpersonal, unterstreicht die besondere Rolle des Notarztes. Die geringe Stichprobengröße sowie die insgesamt geringe Anzahl an Patienten, die von der Anwendung von Zwang oder Gewalt berichten, erlauben keine Generalisierung der Ergebnisse. Studien, die sich mit dem Einfluss prähospitaler Zwangs- oder Gewaltanwendung auf das Outcome des psychiatrischen Patienten beschäftigen, könnten jedoch auf den Studienergebnissen aufbauen.



Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Benedikt Schick
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Ulm
Albert-Einstein-Allee 23
89081 Ulm
Deutschland   

Publication History

Received: 28 April 2025

Accepted after revision: 17 October 2025

Article published online:
24 November 2025

© 2025. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution License, permitting unrestricted use, distribution, and reproduction so long as the original work is properly cited. (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).

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Abb. 1 Studienablauf.