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DOI: 10.1055/a-2717-5623
Potenziale wissensbasierter Digitalisierungsansätze multiprofessioneller Teamarbeit am Beispiel von Palliative Care
Potential of Knowledge-Based Digitalization Approaches in Multiprofessional Palliative Care TeamworkAuthors
Supported by: Das Forschungsprojekt Palliative Care als digitale Arbeitswelt: Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten der digitalen Transformation von Kommunikations- und Kollaborationsprozessen in der multiprofessionellen Versorgung der letzten Lebensphase (PALLADiUM) wurde gefördert durch das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt), einem Institut der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Zusammenfassung
Hintergrund
Palliativspezifische digitale Lösungen zur Unterstützung der Kommunikation und Kollaboration im multiprofessionellen Team spielen bislang kaum eine Rolle.
Forschungsziel
Ziel war es, einen Beitrag zum grundlegenden Verständnis von palliativspezifischen Digitalisierungsansätzen und -bereichen zur Stärkung der multiprofessionellen Kollaboration und Kommunikation zu leisten.
Studiendesign und Methodik
Es wurden 4 ethnografische Forschungsaufenthalte auf einer Palliativstation und Fokusgruppen (n=6) durchgeführt. Die Daten wurden in MAXQDA codiert, die Datenerhebung und -auswertung erfolgte nach dem Ansatz der Grounded Theory (GT).
Ergebnisse
Herausforderungen, Räume und Settings des Informations- und Wissensaustauschs sowie die teamvergewissernde/-stabilisierende Praxis liefern Erkenntnisse, um palliativspezifische Grundlagen, Ansätze und Potenziale digitaler Unterstützung zu verstehen.
Schlussfolgerung
Wissensbasierte Digitalisierung bzw. Technikentwicklung im Bereich Palliative Care (PC) kann neue Kommunikations- und Interaktionswege eröffnen und die Zusammenarbeit stärken.
Abstract
Background
Digital solutions designed to support multiprofessional collaboration in PC have so far played a marginal role.
Study goal
The aim of the study was to contribute to the understanding of digitalization approaches tailored to PC to strengthen multiprofessional collaboration.
Study design
4 ethnographic research stays on a palliative care unit and focus groups (n=6) were conducted. The data were coded using MAXQDA. Data collection and analysis followed GT.
Results
Challenges, spaces and settings for information and knowledge exchange, as well as team-reinforcing and stabilizing practices, provide valuable insights to understand palliative-specific approaches and potentials for digital support.
Conclusion
Knowledge-based digitalization in the field of PC can open up new communication and interaction pathways and strengthen collaboration.
Schlüsselwörter
multiprofessionelle Zusammenarbeit - wissensbasierte Digitalisierung - Informations- und Wissensaustausch - Grounded Theory - qualitativ-empirische ForschungKeywords
multiprofessional collaboration - knowledge-based digitalization - information and knowledge exchange - grounded theory - qualitative-empirical researchEinleitung
Multiprofessionelle Zusammenarbeit, die unterschiedliche Kompetenzen und Perspektiven integriert, um Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige bestmöglich zu versorgen und zu begleiten, ist nicht nur als Leitgedanke tief in der Hospiz- und Palliativarbeit verankert [1] [2] [3] [4], sondern bildet das Kernelement des ganzheitlichen, personenzentrierten und bedürfnisorientierten Versorgungsansatzes von Palliative Care. Wenig empirisch beleuchtet ist dabei, wie diese alltägliche multiprofessionelle Praxis als solche ‚funktioniert‘, welche spezifischen Anforderungen, Gelingensbedingungen und Herausforderungen im Versorgungsalltag mit ihr einhergehen [5] [6] und inwiefern diese im Hinblick auf sinnvolle praxistaugliche Digitalisierungsoptionen der Kommunikation und Kollaboration zwischen den beteiligten Professionen relevant werden. Hier setzte das vom Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) geförderte interdisziplinäre Projekt „Palliative Care als digitale Arbeitswelt: Perspektiven und Gestaltungsmöglichkeiten der digitalen Transformation von Kommunikations- und Kollaborationsprozessen in der multiprofessionellen Versorgung der letzten Lebensphase (PALLADiUM)“ an und untersuchte mit Fokus auf multiprofessionelle Zusammenarbeit auf der Palliativstation Ansatzpunkte digital unterstützter Kommunikation und Kollaboration.
Multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Palliative Care meint – im alltagssprachlichen Sinn und aus Sicht der Praktizierenden – zuvorderst ‚Teamarbeit‘, genauer, eine „kommunikativ ausgerichtete Teamleistung“ [7]. Entsprechend der vier palliativmedizinisch relevanten Behandlungsdimensionen – physisch, psychisch, sozial und spirituell – zeichnet sie sich im Vergleich zu anderen (medizinischen) Arbeitsbereichen durch eine hohe professionelle Heterogenität der eingebundenen Teammitglieder aus. Zudem ist Teamarbeit im Palliativbereich durch ein spezifisch palliatives Selbstverständnis orientiert, das sich im allgegenwärtigen Verweis auf eine palliativ-hospizliche ‚Haltung‘ oder ‚Kultur‘ manifestiert [8] [9] [10]. Diese Haltung ist Bezugspunkt und Bewertungsmaßstab der Teamarbeit. Sie bildet deren Grundlage, erfordert eine kontinuierliche Reflexion der individuellen und kollektiven Praxis und lässt sich als soziokultureller ‚Werte-Rahmen‘ fassen, der die Zusammenarbeit maßgeblich prägt und leitet.
Aufgrund der spezifischen Orientierungen und Bedingungen ist der Palliativbereich deutlich weniger digitalisierungsaffin und in geringerem Maße transformiert als andere medizinische Bereiche. Doch auch in der Palliativversorgung nehmen (so bezeichnete) ‚Digital-Health-Anwendungen‘ kontinuierlich zu. Im Einsatz sind bspw. Technologien zum Symptommanagement oder (radarbasiertem) Monitoring von Vital- und Bewegungsparametern, Telemedizin und elektronische Dokumentationssysteme [11] [12] [13] [14]. Forschungs- und entwicklungsseitig wird dabei bislang mehrheitlich die Ebene Patientinnen, Patienten/Angehörige-Gesundheitspersonal oder die intersektorale Zusammenarbeit adressiert [15] [16] [17] [18] [19] [20] [21], weniger jedoch die alltägliche praktische Zusammenarbeit im Team selbst. PALLADiUM legt den Fokus explizit auf das Gesundheitspersonal als multiprofessionelles Team auf der Palliativstation und dessen Zusammenarbeit im Versorgungsalltag. Auf Palliativstationen in Deutschland wird die Digitalisierung der klinischen Kommunikations- und Arbeitsabläufe bislang hauptsächlich durch gesetzliche Vorgaben und krankenhausweite Initiativen zur Steigerung von Effizienz und messbarer Versorgungsqualität vorangetrieben. Mit dieser Ausrichtung werden die derzeitigen Dokumentations- und Kollaborationssysteme den Ansprüchen und Anforderungen an Zusammenarbeit im Stationsalltag in der Palliativversorgung jedoch kaum gerecht, in dem häufig auch nicht planbar intensiver, schneller und flexibler Austausch von Information und Wissen zwischen den Beteiligten (z.B. Gesundheitspersonal, Patientinnen und Patienten, Angehörige) erforderlich ist [20] [21]. Eine wichtige forschungsleitende Annahme im Projekt war in diesem Zusammenhang die analytische Unterscheidung zwischen ‚Information‘ und ‚Wissen‘ [22]:
Information ist grundsätzlich als ‚objektiv‘ (im Sinne von ‚im Prinzip‘ akteursunabhängig) konzipiert und steht jedem zur Verfügung, der Zugang zu ihr hat. Sie ist weitestgehend formalisiert und damit dekontextuiert und steht gleichsam ‚für sich selbst‘, wenngleich sie unterschiedliches Kontextwissen erfordert, um ‚verstanden‘ – d.h. in ihrer Relevanz in Bezug auf das eigene Handeln oder das von anderen Akteuren sinnhaft eingeordnet – werden zu können (bspw.: „Frau Müller zur Neuaufnahme in Zimmer 7 ist gerade angekommen.“). Somit benötigt – in der hier vorgenommenen analytischen Unterscheidung – Information immer ergänzendes, situativ kontextuiertes Orientierungs- und Handlungswissen. Dieses kontextuierte Wissen wird für die professionellen Akteure ‚vor Ort‘, gemäß der jeweiligen Funktionszuschreibungen, durch mehr oder weniger individuell verfügbare und/oder kollektiv geteilte Erfahrungswissensbestände, ihren jeweiligen Bedeutungen und den damit einhergehenden Interpretationsrahmen bereitgestellt, gespeist und formiert. Wissen ist also ebenso kultur- und situationsabhängig wie akteursgebunden und ‚subjektiv‘ (bspw.: „Die Patientin möchte viel ihr Leid klagen. Mein Eindruck ist, das ist psychisch überlagert.“). Es gibt kommunikativ vermitteltes bzw. vermittelbares Wissen (z.B. Erfahrungswissen) und implizites bzw. praktisches Wissen, das nur schwer oder gar nicht explizit gemacht werden kann (z.B. je nach Gespür ‚automatisch’ eingespielte Handgriffe, ‚Bauchgefühl‘) [23] [24] [25]. Für eine reibungslose und effektive Zusammenarbeit ist es – zumal in multiprofessionellen Teams und im Austausch zwischen Professionellen und Laien – entscheidend, wie als wichtig erachtete Informationen und hierfür relevantes Wissen der Teammitglieder verfügbar gemacht und genutzt werden können, um ein gemeinsames Verständnis der jeweiligen Patientensituation und Handlungsbedarfe zu erreichen [26]. [Abb. 1] stellt die analytische Unterscheidung der beiden Begriffe vereinfacht dar.


Ausgehend von dieser begrifflichen Unterscheidung zielte diese Einzelfallstudie darauf ab, Potenziale[1] wissensbasierter digital unterstützter multiprofessioneller Zusammenarbeit in der stationären spezialisierten Palliativversorgung umfassend empirisch zu beleuchten. Damit soll ein Beitrag zum vertieften und kontextualisierten Verständnis palliativspezifischer Digitalisierungsansätze und relevanter Digitalisierungsbereiche zur Stärkung multiprofessioneller Kollaboration und Kommunikation geleistet werden, die bislang unzureichend berücksichtigt wurden. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf grundlegenden Fragen des digitalen Wandels im Bereich Palliative Care. Diese Grundlagenfragen sowie deren empirische Untersuchung bilden die Basis für die an anderer Stelle publizierte Entwicklung und Evaluation eines Funktionsdemonstrators bzw. iterativ weiterentwickelten Prototyps zur Unterstützung der multiprofessionellen Kommunikation und Zusammenarbeit auf der Palliativstation [27] [28].
Material und Methoden
Das Projekt vereinte drei Disziplinen (Medizin, Wirtschaftsinformatik, Soziologie) und verfolgte einen integrierten Mixed-Methods-Ansatz in einem eng verzahnten Forschungs- und Entwicklungsprozess. Die empirische Basis der folgenden Ausführungen bilden ethnografische Daten, erhoben mittels teilnehmender Beobachtungen und ergänzt durch Fokusgruppen. Die iterative qualitative Datenerhebung und -auswertung erfolgte entlang der Forschungsprinzipien von Grounded Theory.
Ethnografische Feldforschung
Durch intensive teilnehmende Beobachtungen (SP, SG) von Arbeitsabläufen, Interaktionen sowie Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen im Rahmen 14-tägiger Forschungszyklen (n=4) auf der Palliativstation des Universitätsklinikums Erlangen wurden routinemäßige Kommunikations- und Kollaborationspraktiken, Informations- und Wissensprozesse sowie implizite Wissensbestände (bzw. Hinweise auf diese) erfasst. Vor Ort wurden detaillierte Feldnotizen und Memos (SP, SG) erstellt und anschließend in Beobachtungsprotokollen ausgearbeitet (SP, SG) [29] [30]. Gespräche, die situativ mit den Teammitgliedern entstanden – etwa zu Wünschen, Ideen und Befürchtungen hinsichtlich Digitalisierung – wurden ebenfalls in den Feldnotizen festgehalten. Die Protokolle wurden in MAXQDA (VERBI Software 2022) codiert und von insgesamt vier Forschenden mit Schwerpunkten in qualitativer Sozialforschung, Thanatosoziologie, Palliativmedizin und Wissenssoziologie qualitativ analysiert (SP, AE, SG und SK). Alle Mitarbeitenden der Station (n= 33) wurden nach positivem Votum der Ethikkommission des Universitätsklinikums Erlangen (Nr. 168_21B) und informierter schriftlicher Einwilligung pseudonymisiert in die Studie einbezogen. Forschungszyklus I (Juni 2021) folgte einem explorativen Design, das darauf abzielte, ein umfassendes Bild der kommunikativen und kollaborativen (Informations- und Wissens-)Prozesse zu erhalten. Ziel war es zunächst zu verstehen, wie die tägliche Zusammenarbeit erfolgt, welche digitalen und analogen Dokumentations- und Kommunikationsmedien zum Einsatz kommen, welche Informations- und Wissensbedarfe bestehen und welche Herausforderungen sich im Rahmen der multiprofessionellen Zusammenarbeit ergeben. Diese erste Phase war entscheidend, um den weiteren Forschungsprozess entsprechend den Gegebenheiten vor Ort und den eruierten Relevanzen auszurichten sowie die Beobachtungsschwerpunkte für die folgenden Forschungszyklen zu identifizieren. In den Forschungszyklen II (Juli/August 2021), III (Oktober 2021) und IV (Oktober/November 2022) erfolgten die Beobachtungen entlang der bis dahin empirisch-analytisch identifizierten Schwerpunkte sowie unter kontinuierlichem Einbezug der im Studienverlauf gewonnenen Erkenntnisse ([Abb. 2]). In allen Projektphasen wurden zudem Fokusgruppen (n=6) mit Mitgliedern des multiprofessionellen Teams (aus den Bereichen Medizin, Pflege, Psychologie, Soziale Arbeit, Physio- und Musiktherapie und Seelsorge) durchgeführt (SP, SG, MM, MW), um Ergebnisse zu diskutieren, präzisieren und kontinuierlich Feedback einzuholen ([Tab. 1]). Alle Fokusgruppen wurden zeitlich so angesetzt, dass eine Teilnahme für alle Berufsgruppen möglich war und jede Berufsgruppe nahm an mindestens einer Fokusgruppe teil. Aufgrund tagesaktueller Dynamiken mussten geplante Teilnahmen jedoch mitunter abgesagt werden. So handelt es sich bei Fokusgruppe VI nicht um eine Fokusgruppe im eigentlichen Sinn, da eine Teilnahme kurzfristig für lediglich zwei Personen möglich war ([Tab. 1]). Im Rahmen von Fokusgruppe III wurden die Ergebnisse für das Untersuchungsfeld am Universitätsklinikum Erlangen am Universitätsklinikum Augsburg reflektiert und auf ihre Übertragbarkeit hin befragt. Mit Ausnahme von Fokusgruppe IV wurden alle Fokusgruppen transkribiert und ebenfalls in MAXQDA codiert und ausgewertet (SP, AE, SG, SK). Zugang zu den Rohdaten hatten ausschließlich die unmittelbar beteiligten Forschenden. Dies war umso wichtiger, da mehrere Berufsgruppen durch lediglich eine Person im Team vertreten sind und daher trotz konsequenter Pseudonymisierung Rückschlüsse auf Einzelpersonen anhand spezifischer Situations- und Gesprächskontexte nicht vollständig auszuschließen waren.[2] Die Tatsache, dass einzelne Vorgesetze Teil des Projektteams waren, erhöhte seitens der Forschenden zudem die Sensibilität für Fragen von Asymmetrie und Vertraulichkeit. Dem Vertrauensaufbau zwischen Forschenden und Stationsteam kam daher von Beginn an besondere Bedeutung zu. Gleichwohl ist kritisch zu reflektieren, dass die Einbindung von Führungskräften in das Projektteam eine Limitation der Studie darstellt. Bestehende hierarchische Beziehungsgefüge sowie potenziell damit verbundene Loyalitätserwartungen und Konformitätseffekte können das Kommunikations- und Interaktionsverhalten der Teilnehmenden beeinflussen und zu Verzerrungen führen.


Grounded Theory
Die qualitative Datenerhebung und -analyse erfolgte gemäß der Grounded Theory, die durch einen iterativen Ansatz gekennzeichnet ist, der zwischen Datenerhebung und -analyse wechselt [31] und in ihrem Ansatz bzw. der methodischen Umsetzung konsequent auf das jeweilige Forschungsfeld ausgerichtet wird, um praktische Herausforderungen im jeweiligen Handlungsfeld bzw. in den jeweiligen Praxisbezügen verstehen und bearbeiten zu können.
Grounded Theory ist keine spezifische Methode, sondern eine Forschungsperspektive, die bestimmten methodologischen Prinzipien folgt. Zentrale Elemente sind die fortlaufende Konzeptualisierung und zunehmende ‚Verdichtung‘ in Empirie gründender ‚Kategorien’ durch offenes, axiales und selektives Codieren, der permanente Vergleich, theoretisches Sampling und das kontinuierliche Verfassen von Memos [32] [33] [34] [35]. Das mehrstufige Codieren stellt den grundlegenden analytischen Prozess dar, bei dem das Abstraktionsniveau sowie die Interpretationstiefe stetig zunehmen. Beim offenen Codieren wird das empirische Datenmaterial sequenziell analysiert. Sinneinheiten werden identifiziert, denen zunächst datennahe Codes zugewiesen werden. Die Codes werden in Code-Memos inhaltlich erläutert/definiert und im weiteren Verlauf ausdifferenziert (diese Dimensionierung spiegelt sich auch in Sub-Codes wider). Der Übergang zum axialen Codieren ist fließend. Hierbei steht die Herausarbeitung der Beziehungen und wechselseitigen Sinn- und Verweisungszusammenhänge zwischen den Codes im Vordergrund.[3] Damit einher geht auch die sukzessive (Neu-)Bestimmung zentraler Hauptcodes sowie übergeordneter Analyse-Kategorien, die im Zuge des selektiven Codierens weiter abstrahiert und theoretisch integriert werden.
Das Codieren im Projekt erfolgte dementsprechend kontinuierlich. Daten aus früheren Feldaufenthalten wurden unter Einbezug neuer Erkenntnisse gezielt recodiert. Das Codierverfahren war systematisch, folgte jedoch keiner quantitativen Logik (wie z.B. einer standardisiert überprüfbaren Intercoder-Reliabilität), da keine bestehende Theorie angewendet oder getestet wurde, sondern eine empirisch verankerte, gegenstandsbezogene ‚Theoriebildung‘ bzw. die Generierung von Analysewissen angestrebt wurde. Verschiedene Blickwinkel auf das Datenmaterial wurden dabei als wertvolle Bereicherung betrachtet. Differenzen und Mehrdeutigkeiten, die im Zuge der Codierung entstanden, wurden nicht homogenisiert, sondern festgehalten bzw. kenntlich gemacht, diskutiert und im weiteren Analyseprozess berücksichtigt. Trotz des ausdrücklich induktiven Ansatzes wurden Vorwissen (z.B. Literatur, berufliche und persönliche Erfahrungen der Forschenden) und das im Laufe der aktuellen Forschung im untersuchten Feld gewonnene ‚Orientierungs- und Handlungswissen‘ der Forschenden als zentrale Ressourcen verstanden und spiegelten sich in forschungsleitenden Annahmen sowie der Verwendung von sensitizing concepts wider. Das erhobene Datenmaterial wurde unabhängig voneinander von mindestens zwei (SP, AE) und insgesamt vier Forschenden (SP, AE, SG, SK) codiert, die Ergebnisse regelmäßig im interdisziplinären Forschungsteam sowie in Interpretationssitzungen mit anderen Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern diskutiert. Der Fokus lag dabei auf intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und einem transparenten, forschungsgeleiteten Vorgehen.
[Abb. 3] veranschaulicht den für den Grounded-Theory-Ansatz charakteristischen Codier- und Abstraktionsprozess ausgehend von einer Originaltextpassage aus dem qualitativen Datenmaterial. Dabei handelt es sich um eine vereinfachte exemplarische Darstellung, um die fortschreitende theoretische Verdichtung nachvollziehbar zu machen.


Ergebnisse
Der Ergebnisteil fokussiert drei für das Verständnis der Versorgungspraxis vor Ort als zentral herausgearbeitete Analysedimensionen – a) Herausforderungen multiprofessioneller Zusammenarbeit, b) raum- und settingbezogene Typen des Informations- und Wissensaustauschs sowie c) Teamvergewisserung und Irritationen des ‚Wir’–, anhand derer der Mehrwert wissensbasierter Digitalisierungsansätze im Bereich Palliative Care veranschaulicht wird.
a) Herausforderungen multiprofessioneller Zusammenarbeit
Im Rahmen der Forschungszyklen I und II wurden Herausforderungen der multiprofessionellen Teamarbeit auf der Palliativstation des Universitätsklinikums Erlangen identifiziert. Einen Überblick zu konkreten Herausforderungslagen im Stationsalltag, die für die multiprofessionelle Versorgungspraxis als bedeutsam erscheinen, sowie zu deren wahrgenommenen wie auch antizipierten Effekten, gibt [Tab. 2]. Die Unterscheidung zwischen ‚Herausforderungen‘ und ‚Effekten‘ ist dabei eine analytische, da in der Praxis beide Aspekte zunächst als ‚Herausforderung‘ aufscheinen. Die Heterogenität der Teammitglieder sowie die Perspektiven – sprich Wissensvielfalt im Team – sind die zentralen Ressourcen von Palliative Care, können für die Zusammenarbeit aber auch Herausforderungen darstellen und unerwünschte Praxiseffekte mit sich bringen. Der mündliche und schriftliche Informations- und Wissensaustausch geschieht vor dem jeweils eigenen Wissenshorizont, aus der jeweils eigenen fachlichen und persönlichen Perspektive sowie situativ bedingten Gegebenheiten. Das führt bspw. zu unterschiedlichen Einschätzungen dazu, was wann von wem wozu in welcher Dringlichkeit (nicht) zu tun oder zu kommunizieren sei. Erschwerend kommt hinzu, dass die schriftliche Dokumentation – geprägt durch Faktenorientierung, externe Vorgaben und Abrechnungsrelevanz – sowie die vorhandenen Dokumentationssysteme nicht auf einen vernetzten, wechselseitig handlungsrelevanten Austausch von Information und Wissen ausgerichtet sind.
Die beiden folgenden Zitate von Mitarbeitenden des multiprofessionellen Teams unterstreichen zudem die analytische Bedeutsamkeit der eingangs erläuterten Unterscheidung von Information und Wissen:
„Weil jeder, (…) natürlich jeder eine andere Wahrnehmung hat, dann anders fokussiert, priorisiert und anders dann wieder Informationen weitergibt. Alles natürlich in einem gewissen Rahmen und trotzdem gibt es da wahnsinnige ja Schwankungen oder nicht Schwankungen – Auslegungen. Ja.“ (Fokusgruppe I, Pos. 63)
„Da findet gerade ein Gespräch statt. Eigentlich ist ein Familiengespräch um 13 Uhr geplant. Ich weiß jetzt nicht, was ist das für ein Gespräch. Ich habe keine Info und weiß dann halt auch nicht, wann kann ich stören oder, wenn ich jetzt dringend etwas brauche …“ (Forschungszyklus II, Pos. 489)
Es zeigt sich, dass eine wesentliche Aufgabe eines digital unterstützten Arbeitssystems darin besteht, nicht nur auf Informationen abzustellen, sondern auch die unterschiedlichen Wissensbestände/Expertisen zu integrieren und sichtbar zu machen, um sie gezielt adressieren und für die multiprofessionelle Zusammenarbeit nutzbar machen zu können.
b) Raum- und settingbezogene Typen des Informations- und Wissensaustauschs
Formen, Inhalte, Umfang und Dringlichkeit des Austauschs variieren erheblich – je nachdem, worum es geht und wer sich mit wem wo befindet. Die systematische Unterscheidung der verschiedenen örtlich-materialen Räume mit ihren sozialen Beziehungsmustern sowie organisationalen Settings, in denen der Informations- und Wissensaustausch zwischen den Teammitgliedern im Stationsalltag erfolgt, erweist sich hinsichtlich der Frage nach adäquaten Ansatzpunkten digital unterstützter Kommunikation und Kollaboration daher als wichtige Komponente. Es lassen sich, je nach Raum- und Settingbezug drei Typen des Informations- und Wissensaustauschs unterscheiden: 1) formalisiert-standardisiert 2) informell-ad hoc und 3) strategisch-dynamisch. [Tab. 3] nennt die jeweils wesentlichen Merkmale und veranschaulicht Unterschiede mithilfe von Auszügen aus den Beobachtungsprotokollen.
Während formalisiert-standardisierter Informations- und Wissensaustausch im Rahmen von Frühbesprechungen, Visiten, Übergaben und multiprofessionellen Teambesprechungen stattfindet, sind der informelle-ad hoc sowie der strategisch-dynamische Informations- und Wissensaustausch per se nicht an bestimmte Räume, Settings oder Vorgaben gebunden. Gleichwohl sind in der alltäglichen Praxis hierfür zentrale, raum- und settingbezogene Knotenpunkte zu erkennen: der Stationsstützpunkt, das Büro des Case-Managements und Sozialdienstes sowie der Stationsflur. Insbesondere der informelle-ad hoc Austausch birgt dabei das Risiko für Informations- und Wissensbrüche, die in der Folge zu Verzögerungen und Mehrarbeit führen können. Etwa dann, wenn Mitarbeitende des Case-Managements und Sozialdienstes nur zufällig und zeitlich verzögert mitbekommen, dass eine Patientin nicht mehr in ein Heim, sondern ein Hospiz verlegt werden soll. Besondere Bedeutsamkeit für die multiprofessionelle Zusammenarbeit auf der Palliativstation hat der strategisch-dynamische Informations- und Wissensaustausch. Er ermöglicht rasche direkte Absprachen und Lösungen und spiegelt die Dynamiken und mitunter unmittelbaren Handlungsnotwendigkeiten (bspw. bei Schmerzeskalation) der täglichen Arbeitspraxis wider. Wie [Tab. 3] zeigt, findet dieser auch gezielt und ‚institutionalisiert‘ innerhalb von formalisiert-standardisierten Settings (hier: Frühbesprechung) statt. Voraussetzung hierfür ist, dass alle stets genau wissen, wer wann wo wie und wozu erreichbar ist und wer welche Entscheidungen treffen kann.
c) Teamvergewisserung und Irritationen des ‚Wir’
Das starke ‚Wir-Postulat‘ als Basisrahmung multiprofessioneller Zusammenarbeit auf der Palliativstation gewinnt besonders in herausfordernden, weil unsicheren und uneindeutigen Situationen an Bedeutung. Nicht nur dann, aber dann besonders deutlich, kommen verschiedene Strategien und Techniken[4] zum Einsatz, um das ‚Wir‘ zu stärken bzw. ‚Wir-Gefährdungen‘ im Sinne einer Infragestellung von ‚Team-Fundamenten‘ (das, was das Team aus Sicht seiner Mitglieder ausmacht, wofür ‚wir‘ stehen und wie ‚wir‘ was machen) möglichst zu vermeiden. [Tab. 4] und [Tab. 5] zeigen, dass und welche Stabilisierungstechniken und Vermeidungsstrategien – als Bearbeitungsmodi von ,Wir-Irritationen‘ und zur Vergewisserung des kollektiv geteilten Selbstverständnisses – analytisch unterschieden und benannt werden können, wenngleich die genannten Modi in der Praxis teils eng beieinander liegen bzw. sich überschneiden und auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Stabilisierungstechniken sind durch das (mehr oder weniger) aktive und gezielte Zutun der Beteiligten gekennzeichnet, wohingegen Vermeidungsstrategien eher passiv, indirekter und subtiler angelegt sind.
Die Beobachtungsdaten zeigen, dass für den Kontext von Palliative Care und Digitalisierung die spezifische Prozessierung von Teamirritation und Teamvergewisserung v.a. hinsichtlich der damit einhergehenden möglichen Praxiseffekte analytisch bedeutsam ist: Im Kontext von Digitalisierungsprozessen zeichnen sich einerseits dort, wo unerwünschte Effekte die Zusammenarbeit beeinträchtigen, konkrete Ansatzpunkte zur digitalen Unterstützung ab – z.B. dann, wenn Vermeidungsstrategien zu ausstehenden Entscheidungen, unklaren Aufträgen, Missverständnissen bzw. Informations- und Wissensbrüchen, Mehrarbeit und Verzögerungen führen.
„(…) für mich ist oft nicht klar, was ist Brainstorming, was Auftrag – für meine Arbeit brauche ich klare Aufträge. Was ist der Auftrag, was ist die Entscheidung? … zu vage, vieles bleibt offen . Ich will oft sagen: Ja, und jetzt?“ (Forschungszyklus III, Pos. 390)
Andererseits werden auch die Grenzen dessen deutlich, was sinnvoll digitalisierbar ist und in Bezug auf die Prinzipien, Werte und als bewährt erachteten Routinen der multiprofessionellen Zusammenarbeit NICHT digitalisiert werden sollte. Entsprechend sind z.B. je nach Arbeitssituation Face-to-Face-Kommunikation sowie nonverbale Kommunikation und Interaktion elementare, nicht digital ersetzbare, Bestandteile multiprofessioneller Zusammenarbeit auf der Palliativstation. Sie sind sowohl für die gemeinsame Fallverständigung und -bearbeitung als auch die zwischenmenschlich-emotionale Ebene sowie die aktive Gestaltung, Umsetzung und kontinuierliche Reaktualisierung des Teamselbstverständnisses essenziell (die Grenzen digital unterstützter Zusammenarbeit und Kommunikation werden in einer gesonderten Publikation erläutert).
Diskussion
Neben einer zielgerichteten und situationsbezogenen Informationsübermittlung zwischen den verschiedenen beteiligten Professionen ist essenziell, dass Technologieentwicklung auch relevante Wissensaspekte berücksichtigt [22] [23] [24] [25] [26]. Die analytische Unterscheidung von Information und Wissen (und ihre weitere theoretisch wie empirisch begründete Differenzierung) erscheint aus unserer Sicht als unabdingbar zu berücksichtigen, wenn es um digital unterstützte Zusammenarbeit multiprofessioneller Teams im Bereich Palliative Care geht. Sie eröffnet differenzierte Forschungs- sowie technische Entwicklungsprozesse, die gezielt auf die palliativspezifischen Anforderungen an eine ganzheitliche, patientenzentrierte Versorgung, die vielfältigen Bedürfnisse der Teammitglieder, die Dynamiken ihrer täglichen Arbeit und die komplexen Abwägungs- und Entscheidungsprozesse abgestimmt sind. Dies führt zu neuen, umfassend angelegten digital unterstützten Arbeitssystemen [27] [28], die wiederum den Weg für verbesserte Kommunikationswege und Interaktionsmodi ebnen können.
Wissensdivergenzen auf der Palliativstation in Form von unterschiedlichen Perspektiven, Relevanzsetzungen, Situationsdefinitionen oder als sinnvoll bewerteten Behandlungen und Vorgehensweisen sind zwar alltäglich, haben aber unmittelbare Auswirkungen auf die multiprofessionelle Zusammenarbeit (führen bspw. zu Missverständnissen im Team) mit den jeweiligen, als mehr oder weniger konkret wahrgenommenen Praxisentscheidungen und können den jeweiligen Handlungsauftrag verzögern oder erschweren. Die konsequente Berücksichtigung und Integration von Wissen bzw. subjektiven Wissensperspektiven – bspw. hinsichtlich der aktuellen Symptomlast, Behandlungsansätzen oder Weiterversorgungsoptionen – im Zuge technischer Entwicklungsprozesse kann zur Sichtbarkeit berufsgruppen- und personenbezogener Wissensdivergenzen im Team beitragen, diese reflexiv zugänglich und bearbeitbar machen. Herausforderungen multiprofessioneller Zusammenarbeit, verschiedene Typen des Informations- und Wissensaustauschs in ihren jeweiligen Räumen und Settings sowie Teamaspekte, die mit den besonderen Rahmenbedingungen im Arbeitsbereich Palliative Care und den gegebenen Handlungszusammenhängen einhergehen, erweisen sich als aufschlussreiche, wissensbezogene Analysedimensionen, die dazu beitragen a) palliativspezifische Bedarfe und Potenziale sinnvoller digitaler Unterstützung zu verstehen und b) passende Lösungsansätze abzuleiten.
So sollten bestimmte Informationen und situativ relevantes Wissen (bspw. behandlungsrelevante Eindrücke zur aktuellen Patientensituation) allen/bestimmten Berufsgruppen oder Personen zuverlässig – und nicht ‚zufällig‘ – bekannt sein. Die systematische Unterscheidung von Räumen und Settings des Informations- und Wissensaustauschs lässt multiprofessionelle Zusammenarbeit als „sozialräumlichen Prozess“ [36] greifbar werden, ermöglicht es, Informations- und Wissensbrüche zu lokalisieren und gezielt (digital) zu adressieren. Mehrarbeit, Verzögerungen und Unverständnis können so verringert werden. Zudem gilt es, bei der Entwicklung digitaler Systeme zur Unterstützung der Arbeitsabläufe, die jeweils spezifischen Logiken und Bedingtheiten multiprofessioneller Kommunikation und Kollaboration zu beachten. Auf der Palliativstation ist strategisch-dynamischer Informations- und Wissensaustausch wesentlich. Dementsprechend müssen digital unterstützte Arbeitssysteme auch in der Lage sein, situative Änderungen, typische Dynamiken und schnelle Handlungsbedarfe des Stationsalltags abzubilden und einen zuverlässigen, kontinuierlichen, je aktualisierten Informations- und Wissensfluss möglich zu machen [27].
Implikationen für die Technikentwicklung ergeben sich auch aus dem jeweiligen Teamverständnis, das in den täglichen Arbeitsabläufen, Interaktionen und Aushandlungen wirksam wird. Der arbeitsleitende ‚Wir-Bezug‘ [8] [9] [10] [37] kommt auf der Palliativstation auch im Rahmen teamstabilisierender/-vergewissernder Praktiken zum Ausdruck. Irritationen des ‚Wir‘ und stabilisierende/vergewissernde Praktiken sind dabei keineswegs Phänomene, die nur auf der Palliativstation oder in multiprofessionellen Teams auftreten. Vielmehr gelten sie in jeglichen sozialen Beziehungsgefügen mit verschiedenen Akteuren – beispielsweise Familien und Paare – weitgehend als ‚normal‘ und werden entsprechend bearbeitet [38]. Ebenso wenig gilt es, Teamirritationen grundsätzlich zu vermeiden, da sich aus ihnen auch produktive Impulse für die Zusammenarbeit ergeben können. Vor diesem Hintergrund können spezifische Kommunikations- und Kollaborationssysteme als neuartige, zusätzliche Technik-Akteure (i.S. von Bruno Latours Konzept der ‚Aktanten‘, die als aktive Bestandteile sozio-technischer Interaktionszusammenhänge zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Elementen fungieren) [39] in der multiprofessionellen Zusammenarbeit neue Informations-, Wissens- und Interaktionswege eröffnen. Dies kann nicht nur zur Überbrückung von räumlich-zeitlichen Asynchronitäten, sondern auch von Routinen, etablierten Kommunikations- und Raumordnungen sowie Rollen im Team beitragen. Beispielsweise, wenn hierarchisierte Konstellationen im Stationsalltag zu einer zurückhaltenden Kommunikationspraxis führen und behandlungs- oder weiterversorgungsrelevante Informationen und vorhandenes Wissen mündlich nicht konsequent weitergegeben/eingebracht werden. Digital unterstützte Kommunikations- und Kollaborationssysteme könnten dann als alternative (Text-)Kanäle genutzt werden – z.B. mittels entsprechender Mitteilungsfunktionen – bestehende Interaktionsdynamiken umgehen und einen unmittelbaren und kontinuierlichen Informations- und Wissensfluss befördern.
Die Potenziale wissensbasierter Digitalisierungsansätze liegen mit Blick auf multiprofessionelle Zusammenarbeit im Bereich Palliative Care in ihrer Funktion als potenzieller ‘Wissens-/Wahrheitsirritator’ für eingespielte, etwaig unbefragte Deutungsroutinen, was jeweils der Fall ist. Das heißt: Solche Ansätze befördern die Reflexion und damit Veränderbarkeit etablierter bzw. bislang unhinterfragter Inhalte und Prozesse (z.B. Dokumentation, Abwägungen, Entscheidungen) und können zur Egalisierung von Asymmetrien sowie der Nutzbarmachung und Objektivierung der Fülle an unstrukturierten Daten und Wissensbeständen beitragen, die in der täglichen Dokumentation und im teaminternen Austausch anfallen. Eine gemeinsame Situationsdefinition des Teams im Sinne eines kollektiv geteilten Verständnisses dazu, was wann weshalb/wozu von wem zu tun/nicht zu tun ist, kann befördert – und damit die kontinuierliche Patienten(weiter)versorgung gestärkt werden. Ein Umsetzungsbeispiel aus dem im Projekt PALLADiUM sukzessive entwickelten Funktionsdemonstrator/App-Prototyp ist die ‚Symptomwolke’ als eine von vier optionalen Symptomdarstellungen [28]. Grundlage dieser Darstellung bildet die strukturierte und routinemäßig erfasste Symptomdokumentation. Größe und Farbgebung der jeweiligen Symptome geben dabei Aufschluss über Trend (gleichbleibend, zunehmend, abnehmend) und Intensität der erfassten Symptome. Die zunächst kontraintuitive Darstellung kann den multiprofessionellen Austausch befördern und zur Transparenz (professionsbedingt) heterogener Symptomwahrnehmungen und -bewertungen beitragen. Mithilfe von Natural Language Processing (NLP) könnten zudem Symptome (farblich) hervorgehoben werden, zu denen in der Dokumentation widersprüchliche Eintragungen vorliegen.
Digitalisierung, die einen Mehrwert für den jeweiligen Arbeitszusammenhang liefern soll, lässt sich nicht verallgemeinern, sondern muss die spezifischen Anforderungen und Herausforderungen sowie organisationalen Rahmenbedingungen der jeweiligen Arbeitsfelder berücksichtigen. Die wissensbasierte und streng arbeitsfeldorientierte Annäherung an und Bearbeitung des ‚Digitalisierungspotenzials‘ auf der Palliativstation im Rahmen der durchgeführten ethnografischen Einzelfallstudie zeigt dabei Digitalisierungsdimensionen und -ansätze auf, die über diesen Bereich hinaus von Bedeutung sein können. Typische, kontextgebundene Praktiken der Zusammenarbeit sowie die vielschichtigen relevanten (Wissens-)Perspektiven im multiprofessionellen Team, die für das Verständnis digitaler Transformationsprozesse in komplexen, hoch relationalen Arbeitsfeldern zentral sind, konnten systematisch erfasst und analytisch erschlossen werden. Die Studie leistet damit einen Beitrag zum grundlegenden Verständnis digitaler Transformation für Arbeitsbereiche, die ähnlichen Logiken folgen und vor ähnlichen Herausforderungen stehen (Personenzentrierung, multiprofessionelle Zusammenarbeit, heterogene Informations- und Wissens- sowie Kompetenzlagen). Beispielbereiche, in denen die weiterführende Erforschung wissensbasierter Digitalisierung ertragreich erscheint, sind stationäre Hospize, Geriatrie, stationäre und häusliche Altenpflege sowie die ambulante Palliativversorgung.
Kernbotschaft
Wissensbasierte Digitalisierungsansätze im Bereich Palliative Care zeigen Potenziale auf, die die multiprofessionelle Kommunikation und Kollaboration und damit die kontinuierliche Patientenversorgung stärken können. Sie können dazu beitragen, Informations- und Wissensbrüche zu verringern, die Transparenz und Reflexion zum jeweiligen Vorgehen, zu Entscheidungen, ausstehenden Aufgaben und Behandlungen zu erhöhen, Asynchronität zu überbrücken und unerwünschte Effekte der jeweils etablierten (aber nicht unveränderlichen) Teampraxis zu reduzieren. Die analytische Unterscheidung von Information und Wissen eröffnet neue Forschungsperspektiven sowie neuartige technische Entwicklungsprozesse, die gezielter auf das jeweilige Handlungsfeld, die vielfältigen Bedürfnisse der Teammitglieder und die Dynamiken der täglichen Arbeit abgestimmt sind.
Datenerhebung und -auswertung
Teilnehmende Beobachtungen: SP (PhD, weiblich, Erhebung und Auswertung Forschungszyklen I–IV), SG (MA, weiblich, Erhebung und Auswertung Forschungszyklen I–II), AE (MA, weiblich, Auswertung Forschungszyklen I–IV), SK (PhD, weiblich, Auswertung Forschungszyklus IV); Fokusgruppen: SP (Erhebung Fokusgruppen I, III, V, VI; Auswertung Fokusgruppen I–VI), SG (Erhebung Fokusgruppen I, II, IV; Auswertung Fokusgruppen I–III), AE (Auswertung Fokusgruppen I–V) SK (Auswertung Fokusgruppen V–VI), MM (MSc, männlich, Erhebung Fokusgruppen I–III), MW (MSc, männlich, Erhebung Fokusgruppen IV–VI).
Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung
Wir danken Dr. Irmtraud Hainsch-Müller und Dr. Christoph Aulmann vom Interdisziplinären Zentrum für Palliative Versorgung am Universitätsklinikum Augsburg sowie allen Teilnehmenden, die uns im Rahmen der Beobachtungen, Fokusgruppen und Gespräche unterstützt haben.
1 Die Grenzen digital unterstützter Zusammenarbeit im Bereich Palliative Care (etwa hinsichtlich Face-to-Face-Kommunikation) werden in einer gesonderten Publikation erläutert.
2 Daher muss an dieser Stelle auch auf eine Übersicht zu den Fokusgruppen-Teilnehmenden mit detaillierten soziodemografischen Informationen und professionsbezogenen Angaben verzichtet werden.
3 Bisweilen irritierend ist die in Literatur und Forschungspraxis uneinheitliche Verwendung der Begriffe Code, Kategorie und Konzept. Wir unterscheiden zwischen Haupt- und Subcodes sowie (Kern-)Kategorien, die im Verlauf des Forschungs- und Analyseprozesses weiterentwickelt, verknüpft und verdichtet werden.
4 Der Technikbegriff bezieht sich hier auf bestimmte Modi des Handelns/Kommunizierens.
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Literatur
- 1 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Langversion 2.2, AWMF-Registernummer: 128/001OL. 2020 Accessed August 12, 2024 at: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/
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- 38 Schneider W. Streitende Liebe. Zur Soziologie familialer Konflikte. Opladen: Leske+Budrich; 1994
- 39 Latour B. Mixing Humans and Nonhumans Together. The Sociology of a Door-Closer. Social Problems 1988; 35: 298-310
Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 01 February 2025
Accepted after revision: 22 August 2025
Article published online:
10 December 2025
© 2025. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution License, permitting unrestricted use, distribution, and reproduction so long as the original work is properly cited. (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
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