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DOI: 10.1055/a-2713-3630
Episodische, attackenweise Erkrankungen in der Neurologie
Authors
Zusammenfassung
Krankheiten, deren Symptome die Betroffenen plötzlich und für kurze Zeit überfallen, können besondere diagnostische Herausforderungen darstellen. Einige davon sind recht häufig, so die Epilepsien und die Migräne. Die meisten aber sind selten, und um einige dieser seltenen episodischen, attackenweise auftretenden Erkrankungen soll es im Folgenden gehen.
ABKÜRZUNGEN
Einleitung
Für viele dieser episodischen, attackenweise auftretenden Erkrankungen ist inzwischen nachgewiesen, dass sie von pathologischen Veränderungen von Ionenkanälen verursacht werden. Diese Veränderungen können dazu führen, dass die Kanäle in geringerem oder größerem Ausmaß als normal für bestimmte Ionen durchlässig werden. Das ist dann die Ursache dafür, dass die Membranen, in welchen sich die Ionenkanäle befinden, entweder unerregbar sind oder spontan depolarisieren. Sitzen die Kanäle etwa in Muskelfasermembranen, so ist im Falle der Unerregbarkeit eine Lähmung die Folge. Im Falle der spontanen Depolarisation können elektromyografisch myotone Serien registriert werden.
Wegen der Seltenheit dieser Erkrankungen und ihrer oft eigenartigen Symptomatik werden sie häufig über Jahre als psychogen verkannt, wodurch der Weg zu einer wirksamen Therapie versperrt ist. Das ist übrigens nichts Neues ([ Abb. 1 ]). Am Rande: Nicht nur Ärzte missdeuten Symptome unverstandener Krankheiten, dies ist vielmehr allgemein geübte Praxis. Als Beispiel mag die Mutter von Pünktchen in Erich Kästners Pünktchen und Anton dienen.


Die Krankheiten, die Gegenstand der folgenden Betrachtungen sind, sind von Autoren unter den Namen flatulent, spasmodisch, hypochondrisch oder hysterisch abgehandelt worden. In letzter Zeit haben sie auch den Namen psychogen erhalten; diese Bezeichnung, die vielen scheinbar unterschiedlichen und in ihrer Eigenart sehr obskuren Symptomen gegeben wurde, hat oft zu der Behauptung geführt, dass die Ärzte all jenen Störungen, deren Natur und Ursachen sie nicht kannten, den Namen psychogen gegeben haben.
Patientenbeispiele
Die folgenden Patientenbeispiele geben deutliche Anhaltspunkte, worauf es bei der Diagnostik dieser Erkrankungen ankommt. Der erste Patient hatte bereits zahlreiche vergebliche Arztbesuche hinter sich, die ihn etwas klagsam und vorwurfsvoll zurückgelassen hatten.
Episodische Ataxie Typ 2
Fall 1
Der 48-jährige Schiffskoch war an Land gesetzt worden, weil er zu häufig betrunken bei der Arbeit gewesen sei. Unter Tränen beteuert er, überhaupt keinen Alkohol getrunken zu haben, weil er den nämlich nicht vertrage. Allerdings habe er häufig Attacken stärksten Schwindels, könne sich nicht auf den Beinen halten, nur lallend sprechen, er sei dann wohl wie besoffen.
Neurologisch ist er unauffällig bis auf geringe zerebelläre Zeichen, etwas stärker bei den Augenbewegungen.
Plötzlich beginnt er profus am gesamten Körper zu schwitzen. Das wird begleitet von einer sehr ausgeprägten zerebellären Ataxie, der Patient zeigt dabei stark unkoordinierte diskonjugierte Bewegungen der Augen, die scheinbar ohne jeden Halt in ihren Höhlen herumtaumeln. Der Mann wirkt nun tatsächlich, als sei er betrunken.
Dem Untersucher war es in diesem Fall gelungen, eine Attacke zu beobachten. Dies ist bei den Erkrankungen, um die es hier geht, die größte Hilfe auf dem Weg zur Diagnose, hier einer episodischen Ataxie Typ 2 (EA2), die autosomal dominant vererbt wird [2].
Ursächlich sind Mutationen im Gen CACNA1A, das einen spannungsabhängigen Kalziumkanal codiert, der insbesondere für die Funktion des Kleinhirns eine Rolle spielt. Interessanterweise können andere Mutationen dieses Gens ganz andere Erkrankungen verursachen ([ Tab. 1 ]).
Während der Attacken zeigen die Betroffenen ein stark ausgeprägtes zerebelläres Syndrom, man ist versucht von einem episodischen Ausfall der Kleinhirnfunktion zu sprechen. Die ersten Attacken können in der Kindheit auftreten, aber auch das Erstauftreten im Erwachsenenalter ist möglich. Sie dauern einige Stunden. Alkoholgenuss, Stress, Aufregung sind Provokationsfaktoren, so auch beim Patienten hier, der sich, während er von seinen früheren vergeblichen Arztbesuchen und seiner Einordnung als psychogen oder als Alkoholiker berichtete, so sehr aufregte, dass eine seiner Attacken auftrat.
Die Behandlung erfolgt symptomatisch mit Azetazolamid. Vor Kurzem wurde auch eine gute Wirksamkeit von 4-Aminopyridin gezeigt [3]. Beide Substanzen senken die Häufigkeit der Attacken. So kann dieser Patient unter der Therapie mit Azetazolamid seinen Beruf als Koch wieder erfolgreich ausüben.
Was ist sinnvoll, wenn es (noch) nicht gelingt, während einer Attacke zu untersuchen?
Im Intervall finden sich meist diskrete oder subklinische Befunde. Danach zu suchen bzw. darauf zu achten, ist wesentlich – einerseits, um den Betroffenen die Fehldiagnose psychogen zu ersparen, andererseits, um Bausteine für die richtige Diagnose zu sammeln. So hatte dieser Patient unabhängig von seinen Attacken Augenbewegungsstörungen, wie sie sich eigenartigerweise auch bei manchen von Migräne betroffenen Patienten im Intervall finden, nämlich gestörte langsame Augenfolgebewegungen (impaired smooth Pursuit) [4]. Diese Augenbewegungsstörungen lassen sich als zerebellär verursacht auffassen. Sie gehören sowohl zum Krankheitsbild der episodischen Ataxie Typ 2 als auch zu anderen Krankheiten, die durch Mutationen im Gen CACNA1A verursacht werden, so etwa der familiären hemiplegischen Migräne [5].
Episodische Ataxie Typ 1
Fall 2
Die beiden 24 und 21 Jahre alten Schwestern haben seit einigen Jahren anfallsartige Ereignisse, beginnend mit einer Art Krampf in den Beinen, nicht wie der herkömmliche Wadenkrampf, sondern völlig schmerzlos, der sich dann über die Beine, den Rumpf, die Arme und den Kopf ausbreitet. Sie könnten dann nur noch sehr unsicher gehen. Hinzutreten würden Sprachschwierigkeiten, sie müssten sich sehr konzentrieren, um langsam und deutlich zu sprechen. Auch sei ihnen aufgefallen, dass sie während einer solchen Attacke sehr ungeschickt seien, sie könnten kein Glas gezielt fassen, auch das Schreiben sei äußerst schwierig. Der Zustand sei am besten mit der Wirkung von Alkohol zu vergleichen.
Die Dauer der Attacken wird von den Schwestern mit 5–7 Minuten bei einer Frequenz von 1–2 × monatlich angegeben. Erstmals sei eine derartige Symptomatik während der Pubertät aufgetreten. Auslöser seien Stress, Alkohol, unvorhergesehene plötzliche Situationen.
Unabhängig davon komme es zu immer wieder auftretenden Bewegungen in den Zehen.
Neurologisch sind sie unauffällig.
Bei keiner der Schwestern gelang es, eine Attacke zu beobachten. Sie beschreiben aber stimmig Attacken eines zerebellären Syndroms.
Dieser Diagnose widersprechend passen dazu allerdings nicht die mit den Attacken einhergehenden Verkrampfungen in den Beinen und die ebenfalls erwähnten gelegentlichen unwillkürlichen Bewegungen in den Zehen. Aufgrund dieser Beschwerden, also der unwillkürlichen Muskelkontraktionen oder Muskelsteifigkeit, wurde eine Nadel-Elektromyografie vorgenommen, die eindeutig neuromyotone Aktivität zeigte ([ Abb. 2 ]). Die Diagnose ist damit klar: Es handelt sich um eine episodische Ataxie Typ 1 (EA1) [6], [7].


Bei unerklärlichen muskulären Plus-Symptomen, also Zuckungen, Kontraktionen, Steifigkeit, Faszikulationen, ist die Nadelelektromyografie oft der Schlüssel zur Diagnose.
Die Ursache einer EA1 ist ein mutiertes Gen KCNA1, das einen Kaliumkanal codiert, der an der Repolarisation von Nervenfasern beteiligt ist. Die meisten bekannten Mutationen dieses Gens verursachen EA1, andere Phänotypen sind bisher nur vereinzelt beschrieben ([ Tab. 2 ]). Der Erbgang ist autosomal dominant.
Auch bei diesen Patientinnen zeigte die sorgfältige Untersuchung im Intervall, dass keine psychogene Ursache ihrer sonst nur anamnestisch fassbaren Symptome vorlag.
Wie bei der EA2 haben die meisten Betroffenen ihre erste Attacke in der Kindheit, kaum aber nach dem 20. Geburtstag. Die Dauer der Attacken ist kürzer, also nur wenige Minuten, dafür ist es nicht selten, dass mehrere Attacken am Tag auftreten. Stärkster Provokationsfaktor ist Stress oder Aufregung.
Die Therapie ist nicht so erfolgreich wie bei der EA2. Am besten scheint Carbamazepin zu wirken, von dem eine unvollständige Besserung der Beschwerden zu erwarten ist.
Dies war auch bei diesen Patientinnen der Fall, die das Medikament später für und während geplanter Schwangerschaften absetzten. Während der Schwangerschaften kam es bei diesen Patientinnen zu keinen Attacken mehr, die nach den Geburten aber prompt wieder einsetzten. Dass Schwangerschaft vor den Attacken schützt, ist freilich kein allgemeines Merkmal dieser Erkrankung.
Erythromelalgie
Fall 3
Ein 44-jähriger Mann klagt seit einem Jahr über gelegentlich auftretende, sehr starke Brennschmerzen in beiden Händen, die bei körperlicher Belastung und bei Wärme stärker, durch Kühlung gebessert werden. Nach besonders intensiver körperlicher Arbeit sind die Füße ebenfalls betroffen.
Neurologisch ist er unauffällig.
Während einer Schmerzattacke ist eine kräftige Rötung der betroffenen Hautareale zu sehen.
Auch bei dieser Erkrankung ist es so, dass zwischen Erstsymptom und Diagnose meist Jahre (bis zu 20) vergehen. Dabei genügt die knappe Beschreibung hier ohne Weiteres für die Diagnose: Erythromelalgie [10], [11].
Diese Erkrankung kann Folge einer Gain-of-Function-Mutation im Gen SCN9A sein, das einen spannungsabhängigen Natriumkanal codiert. Der Erbgang ist autosomal dominant. Andere Mutationen dieses Gens können etwas andere Krankheiten verursachen, z. B. Small-Fiber-Neuropathie, bei denen es dauerhaft oder episodisch zu veränderter Schmerzwahrnehmung kommt ([ Tab. 3 ]). Krankheiten, bei den es zu einer sekundären Erythromelalgie, die nicht durch SCN9A-Mutationen verursacht ist, kommen kann, zeigt die Übersicht 1 [12]
Mögliche Ursachen einer sekundären Erythromelalgie
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myeloproliferative Erkrankungen:
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essenzielle Thrombozytose
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Polycythaemia vera
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Myelofibrose
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-
Infektionskrankheiten:
-
HIV
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Influenza
-
Syphilis,
-
Pockenviren
-
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systemischer Lupus erythematodes
-
rheumatoide Arthritis
-
Diabetes mellitus Typ 1 und 2
-
solide Tumoren
-
Astrozytom
-
Kolonkarzinom
-
Mammakarzinom
-
-
Medikamente:
-
Bromocriptin
-
Nifedipin
-
Verapamil
-
Isopropanol topisch
-
Pergolid
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Simvastatin
-
-
Gicht
-
multiple Sklerose
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perniziöse Anämie
-
thrombozytopenische Purpura
-
Pilzvergiftung (parfümierter Trichterling)
-
Quecksilbervergiftung
Eine Small-Fiber-Neuropathie haben auch die Patienten mit primärer Erythromelalgie, dies aber nur in den betroffenen Hautarealen. Dies lässt sich durch sorgfältige Testung von Schmerz und Temperaturempfinden (beide vermindert bei Erythromelalgie) nachweisen, z. B. auch mittels sog. quantitativer Sensibilitätstestung (QST) [11]. Die Befunde der üblichen Neurografien sind normal.
Häufig wird der Begriff Small-Fiber-Neuropathie zu großzügig verwendet, nämlich für Neuropathien, deren neurografische Befunde normal sind, die also eine normale NLG haben. Dieser Befund könnte dadurch verursacht sein, dass tatsächlich nur die small Fibers von einer Erkrankung betroffen sind, weit häufiger aber ist er darauf zurückzuführen, dass mit der üblichen Neurografie eine pathologische temporale Dispersion nicht erfasst wird [13], [14]. Daher wird häufig aus dem Vorhandensein einer Neuropathie und normalen neurografischen Befunden geschlussfolgert, dass eben nur die small Fibers betroffen sind. Diese Schlussfolgerung ist meistens falsch, da normale neurografische Befunde eine Neuropathie keinesfalls ausschließen.
Es sei auch daran erinnert, dass eine Small-Fiber-Neuropathie isoliert auftreten kann, also dass bei den Betroffenen tatsächlich nur die dünnen, unbemarkten Nervenfasern geschädigt sind, wie es z. B. bei der Erythromelalgie der Fall ist, dass bei Neuropathien aber wesentlich häufiger auch die dünnen, unbemarkten Nervenfasern geschädigt sind, nämlich im Rahmen der Schädigung aller Nervenfasern.
Bei Verdacht auf Polyneuropathie genügt eine normale NLG bei Weitem nicht für die Diagnose Small-Fiber-Neuropathie. Die meisten Patienten mit Polyneuropathie haben eine normale NLG [15]!
Die ersten Attacken einer Erythromelalgie treten meist vor der Einschulung auf, nur ausnahmsweise nach der Pubertät. Provozieren lassen sie sich durch körperliche Belastung und durch Wärme Die Dauer der Attacken liegt im Bereich weniger Stunden, äußerstenfalls zwischen 5 min und 15 h. Mehrere Attacken am Tag sind die Regel.
Eine allgemein gut wirksame pharmakologische Therapie der primären Erythromelalgie gibt es nicht [12]. Gut wirksam indes ist kräftige lokale Kühlung der betroffenen Hautareale. Dies ist naturgemäß nicht überall zu bewerkstelligen, sodass bei einigen Betroffenen ein hoher Leidensdruck verbleibt.
Bei den sekundären Erythromelalgien (s. o.: Übersicht) steht die Erkennung und Behandlung der jeweiligen Grunderkrankung im Vordergrund. Ist diese erfolgreich, verschwindet meist auch die Erythromelalgie.
Die Erythromelalgie sollte molekulargenetisch gesichert werden, um keine sekundäre Form zu übersehen.
Hyperkaliämische episodische Paralyse
Fall 4
Ein 24-jähriger Rekrut erinnert sich, dass er im Alter von 10 Jahren erstmals für etwa eine halbe Stunde vollständig gelähmt war. Das ist seitdem einige Male wieder geschehen, meistens morgens.
Atmung und Mimik waren freilich nicht betroffen. Da ihm das auch beim Militärdienst widerfahren ist, und zwar immer nach einem Gepäckmarsch am Vortag, wurde er als Simulant und Drückeberger schließlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem mildere Disziplinarmaßnahmen versagt hatten. Nun sitzt er im Gefängnis und hat keine Lähmungen mehr.
Neurologisch ist er unauffällig.
Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass der als gesund geltende Vater des Patienten auch einige morgendliche Lähmungsattacken hinter sich hat, die aber wesentlich weniger schlimm gewesen seien als bei seinem Sohn. Da in der Differenzialdiagnose episodischer Lähmungen die Kanalerkrankungen eine wesentliche Rolle spielen, wurde beim Vater ein Nadel-EMG abgeleitet ([ Abb. 3 ] u. Übersicht 2). Die myotonen Serien, die dort gefunden wurden, bestätigen eindrucksvoll die Diagnose: hyperkaliämische episodische Paralyse [16].


Erkrankungen mit Serienentladungen im EMG (nach [17], [18])
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myotone Dystrophie (DM1)
-
proximale myotone Myopathie (PROMM, DM2, Ricker)
-
Chloridkanalerkrankungen, z. B. Myotonia congenita Thomsen
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Natriumkanalerkrankungen, z. B. Paramyotonie, hyperkaliämische episodische Paralyse
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Schwartz-Jampel-Syndrom
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Neuromyotonie
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Polymyositis
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chronische Denervationszustände
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Glykogenosen, z. B. Morbus Pompe
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zentronukleäre Myopathie
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mitochondriale Myopathie
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colchizininduzierte Myoneuropathie
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Ciguatoxinvergiftung
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Hyperthyreose
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Hypothyreose
-
Tetanie
Genaue Familienanamnese und eigene Untersuchung möglicherweise Betroffener sind nicht selten der Schlüssel zur Diagnose.
Die Krankheit wird autosomal dominant vererbt, offenbar ist der Sohn ebenfalls betroffen. Die Instabilitäten der Muskelfasermembranen, die sowohl zu Myotonie als auch zu Lähmungen führen können, werden von Mutationen im Gen SCN4A verursacht, das einen spannungsabhängigen Natriumkanal codiert ([ Tab. 4 ]).
Typische Lähmungsattacken treten vorzugsweise nach Ruhe auf, der eine anstrengende körperliche Tätigkeit voranging. Dies führt zu einem Anstieg des Serum-Kaliums und damit zur Lähmungsattacke. Andere Auslöser können sein: Hunger, Stress, Kälte, Zufuhr von Kalium. Bei weniger stark Betroffenen genügt manchmal nicht nur einer der genannten Auslöser, sondern es müssen mehrere davon zusammenkommen.
Die ersten Attacken treten im Kleinkindesalter auf. Sie können so leicht sein, dass sie kaum bemerkt werden und innerhalb von Minuten vergehen. Es können aber auch schwere generalisierte Attacken vorkommen, dann besonders morgens vor dem Aufstehen. Dabei liegen die Patienten paralysiert im Bett. Eigenartigerweise sind Kopf- und mimische Bewegungen möglich, was wie beim Patienten zur Fehldiagnose psychogen verführt.
Diese Attacken sind meist nach 2–3 Stunden vorüber. Damit einher geht die Normalisierung des Serum-Kaliums, das gegen Ende der Attacke meist auf subnormale Werte fällt. Nicht selten wird zu diesem Zeitpunkt das Serum-Kalium bestimmt und daraus die Fehldiagnose einer hypokaliämischen episodische Paralyse gestellt. Das wiederum führt dazu, dass die nächste Lähmungsattacke mit Kaliumzufuhr behandelt wird, was die Lähmung naturgemäß nicht bessert.
Während einer Lähmungsattacke ist das Kalium i. d. R. erhöht, fällt aber gegen Ende der Attacke auf subnormale Werte ab. Dies hat nicht selten schon zur gefährlichen Fehldiagnose einer hypokaliämischen episodischen Paralyse geführt!
Das Nadel-EMG kann im Intervall unauffällig sein, oder es finden sich myotone Serien. Während der Attacke sieht man reichlich pathologische Spontanaktivität, nicht nur in Form myotoner Serien, sondern auch wie bei hochgradigem axonalem Schaden, sowie myopathische Veränderungen entsprechend dem Ausmaß der Parese. In plegischen Muskeln kann sogar elektrische Stille herrschen.
Den unterschiedlichen dominant vererblichen Phänotypen der verschiedenen Mutationen des Gens SCN4A ist gemeinsam, dass die Symptome durch Muskelarbeit, Kälte und Kalium stark beeinflusst werden können. Das kann man sich manchmal zunutze machen, nämlich, wenn es nicht gelingt, bei Betroffenen eine Attacke zu beobachten. In diesen Fällen lassen sich Symptome nicht selten durch Arbeitsbelastung oder lokale Kühlung eines Muskels oder einer Kombination daraus provozieren. Diese können dann klinisch oder mittels Nadel-EMG beurteilt werden.
Die Differenzialdiagnose der Erkrankungen mit episodischen Lähmungen umfasst vorwiegend Ionenkanalerkrankungen ([ Tab. 5 ]. Eine Ausnahme ist die thyreotoxische periodische Paralyse. Sie ist nicht erblich, sondern kann symptomatisch bei Patienten mit Hyperthyreose vorkommen. Wahrscheinlich ist es keine Ionenkanalerkrankung, die Pathophysiologie ist aber immer noch nicht ganz klar [19]. Auch bei dieser Erkrankung können die Lähmungsattacken durch körperliche Anstrengung oder hohe Glukosezufuhr ausgelöst werden. Die Lähmung folgt dem Auslöser nach wenigen Stunden, häufig nachts, und kann dann bis zu 72 h anhalten. Während der Attacke ist das Serumkalium erniedrigt; die Serumspiegel der Schilddrüsenhormone sind meist nur gering erhöht, was dazu beiträgt, dass die richtige Diagnose nicht gestellt wird.
Fazit
Neben den Epilepsien und der Migräne gibt es in der Neurologie eine Vielzahl von attackenweise auftretenden Erkrankungen. Bei vielen davon ist es klar, dass sie durch veränderte Ionenkanäle verursacht sind. Soweit diese Kanäle auf Muskelfaser- oder Nervenzellmembranen lokalisiert sind, spielen neben der sorgfältigen klinischen Beobachtung neurophysiologische Methoden, vor allem die Nadel-EMG, in der Diagnostik eine wesentliche Rolle.
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Seltene Erkrankungen werden häufig als psychogen verkannt, vor allem dann, wenn ihre Symptome seltsam anmuten und die Krankheit dem Untersucher nicht bekannt ist.
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Bei episodischen, attackenweise symptomatischen Erkrankungen ist es besonders hilfreich, eine oder mehrere Attacken zu beobachten.
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Bei episodischen, attackenweise symptomatischen Erkrankungen ist es bei der Untersuchung im Intervall zwischen den Attacken wichtig, sehr sorgfältig auch auf Kleinigkeiten, also nur gering ausgeprägte Symptome, zu achten.
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Da viele der attackenweise auftretenden Erkrankungen vererbt werden, oft autosomal dominant, können die sorgfältig erhobene Familienanamnese und die eigene Untersuchung möglicherweise betroffener Familienmitglieder zur Diagnose führen.
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Ist Muskelsteifigkeit ein Symptom, so hilft die Nadel-Myografie meistens weiter.
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Eine Small-Fiber-Neuropathie ist eine positive Diagnose, die sich auf spezifische pathologische Befunde stützen sollte, und nicht auf deren Fehlen (also z. B. nicht „Polyneuropathie mit normaler NLG“).
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Die klinische Diagnose einer Erythromelalgie sollte molekulargenetisch gesichert werden, um keine sekundäre Form zu übersehen.
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Episodisch auftretende generalisierte schlaffe Lähmungen müssen an eine Kanalerkrankung denken lassen.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Wilhelm J. Schulte-Mattler, Regensburg
Wilhelm J. Schulte-Mattler
Prof. Dr. med. Medizinstudium an den Universitäten Bonn und Würzburg, Staatsexamen 1988. Dissertation über Quantitatives EMG. Weiterbildung zum Neurologen in Würzburg, Facharzt für Neurologie 1993. Ab 1994 Leitung der Klinischen Neurophysiologie an den Universitätskliniken Halle an der Saale und von 2000 bis 2019 in Regensburg. Vorsitzender der EMG-Kommission der DGKN.


Interessenkonflikt
Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein.;
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Whytt R R. Observations on the nature, causes and cure of those disorders which have been commonly called nervous hypochondriac, or hysteric, to which are prefaced some remarks on the sympathy of the nerves. Edinburgh: for T. Beckett and P. Du Hondt, London, and J. Balfour, Edinburgh 1765
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- 16 Rudel R, Ricker K, Lehmann-Horn F. Genotype-phenotype correlations in human skeletal muscle sodium channel diseases. Arch Neurol 1993; 50: 1241-1248
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- 18 Kimura J. Electrodiagnosis in diseases of nerve and muscle. 4. Aufl.. Oxford, New York: Oxford University Press;: 2013
- 19 Lin S-H, Huang C-L. Mechanism of thyrotoxic periodic paralysis. J Am Soc Nephrol 2012; 23: 985-988
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Publication History
Article published online:
28 November 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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