Geburtshilfe Frauenheilkd 2025; 85(12): 1243-1246
DOI: 10.1055/a-2695-5244
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

Tod in Düsseldorf. Anmerkungen zu Thomas Manns letzter Erzählung „Die Betrogene“ aus Anlass seines 150. Geburtstags

Authors

  • Matthias David

  • Andreas D. Ebert

„Gut zu zwei Dritteln bin ich mit einer Geschichte fertig, die ‚Die Betrogene‘ heißt und von einer herzlich naturliebenden Frau handelt, die von der Natur betrogen wird. Mit über 50, als es ihr zu ihrem Kummer schon garnicht mehr nach der Weiber Weise geht, verliebt sie sich leidenschaftlich in den jungen Hauslehrer ihres Sohnes und wird, vermeintlich vor lauter Liebe und von Gnaden der lieben Natur, wieder zum fließenden Brunnen, was sie hoch beglückt. Dann stellt sich aber heraus, daß die Blutung nur das Anzeichen eines weit vorgeschrittenen Gebärmutter-Krebses war, und sie stirbt, ohne der Natur den Betrug nachzutragen, gegen die aber der Autor sich ziemlich bissig verhält. Die Geschichte, eine Anekdote, die ich hörte, ist recht geistreich ausgeführt und im Stil der klassischen Novelle vorgetragen …“ [1]. So beschrieb Thomas Mann (1875–1955) ([Abb. 1]) den „Plot“ seiner Erzählung „Die Betrogene“ in einem vom 8. Januar 1953 datierten Brief an Hermann Hesse (1877–1962), mit dem er befreundet war. „Die Betrogene“ hatte Thomas Mann im Mai 1952 begonnen und im März des folgenden Jahres abgeschlossen – es wurde sein „… literarisch letztes Wort …“ [2], denn bis zu seinem Tod am 12. August 1955 veröffentlichte er keine weiteren Erzählungen oder Romane mehr, sondern nur noch die beiden Essays „Versuch über Tschechow“ (1954) und „Versuch über Schiller“ (1955).

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Abb. 1 Thomas-Mann-Büste des Bildhauers Gustav Seitz in Berlin am „Moabiter Spreebogen“ (Foto M. David, Oktober 2025).

Prof. h. c. Dr. h. c. mult. (darunter zu Manns Leidwesen kein „Dr. med.“ [3]) Thomas Mann, vermutlich der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der 1929 den Nobelpreis für Literatur für die „Buddenbrooks“ erhielt, veröffentlichte insgesamt 8 Romane und 32 Erzählungen ([Abb. 2]). Im DDR-Lexikon „Deutschsprachiger Schriftsteller …“ wurde – nicht ganz ideologiefrei und stark vereinfachend – der Versuch unternommen, Thomas Manns Werk in einem Satz zusammenzufassen: „M. hat in steter Abwandlung desselben Grundthemas Bücher des Endes (der bürgerlichen Gesellschaft) geschrieben, seine zunehmend kritische Distanz zum Bürgertum mit den Mitteln des Ironisch-Parodistischen künstlerisch gestaltend …“ [4].

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Abb. 2 Zweiter Nachbau der Villa der Familie Mann in der ehem. Poschingerstraße 1, heute Thomas-Mann-Allee, in München-Bogenhausen (Foto. M. David, Oktober 2025). Manns Schreibort zahlreicher Romane und Erzählungen.

Seine letzte Novelle, „Die Betrogene“, verfasste Mann als Achtundsiebzigjähriger. Sie beginnt, wobei sich die Zeitangabe auf das 20. Jahrhundert bezieht, so: „In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts lebte in Düsseldorf am Rhein, verwitwet seit mehr als einem Jahrzehnt, Frau Rosalie von Tümmler mit ihrer Tochter Anna und ihrem Sohne Eduard in bequemen, wenn auch nicht üppigen Verhältnissen. Ihr Gatte, Oberstleutnant von Tümmler, war ganz zu Anfang des Krieges, nicht im Gefecht, sondern auf recht sinnlose Weise durch einen Automobilunfall, doch konnte man trotzdem sagen: auf dem Felde der Ehre, ums Leben gekommen …“ [5].

So harmlos und freundlich diese Erzählung auch beginnt, im weiteren Verlauf entwickelt sie sich zu einer verstörenden und schrecklichen Geschichte, in der, wie z. B. dem Brief an Hermann Hesse, aber auch seinem Tagebuch zu entnehmen ist, Thomas Mann „mit Berufung auf einen authentischen Fall eine Liebes- und eine Krankengeschichte“ miteinander verbindet [6]. Die karzinombedingte postmenopausale Blutung der weiblichen Protagonistin dieser Novelle, die diese irrtümlich für eine wiedergekehrte Monatsblutung hält, ist der „Todesbote der trügerischen Natur“, der „mit einem genuin weiblichen Lebensboten“ verwechselt wird; hinzukommt als „reizender wie aufreizender Liebesbote“ Ken Keaton, ein junger US-Amerikaner und Englisch-Hauslehrer von Rosalie von Tümmlers Sohn, in den sie sich verliebt [7]. Bedingt durch die hormonellen Auswirkungen eines ovariellen Granulosazelltumors, die wiederum zu einem Endometriumkarzinom geführt haben, tritt bei Rosalie von Tümmler „ein Neuerblühen […] eine Art von Verjüngung“ [5] ein. Diese „unerwartete körperliche und emotionale Wiedererweckung“ [7] erklärt sie sich allerdings „psychosomatisch“, nämlich ausgelöst durch ihre Verliebtheit in den 24-jährigen Amerikaner schlichten Gemüts [8]: „Es war das Werk seiner Jugend. Es war das Ringen meiner Seele, es seiner Jugend gleichzutun, um nicht in Scham und Schande vor ihr vergehen zu müssen …“ [5].

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht weist „Die Betrogene“ 4 Besonderheiten auf: 1.) Unter Thomas Manns vielen Krankheitsdarstellungen („Pathographien“) ist dies die einzige Krebserkrankung. 2.) Nur diese Erzählung ist in Düsseldorf, also im Westen Deutschlands angesiedelt. 3.) Allein diese Novelle beginnt mit einer konkreten Zeitangabe und spielt ausschließlich in den 1920er Jahren. Und 4.): Es handelt sich um das einzige Werk Manns mit einer weiblichen Protagonistin, in der Männer letztlich nur Randfiguren sind [2] [9]. Eigentlich handelt es sich sogar um ein die Handlung tragendes Frauenduo, denn in der Erzählung finden sich breit angelegte Gespräche zwischen Rosalie von Tümmler und ihrer Tochter und Vertrauten Anna, in denen diese 2 entgegengesetzte Positionen vertreten: die Stimme der Natur und die Stimme der Kultur [9].

Die Erzählung erschien 1953, die Resonanz war dürftig und die Kritiken schlecht [10]. Die „Abwehr“ der Leserinnen und Leser in den 1950er Jahren gegen dieses Buch Thomas Manns ist wohl u. a. dadurch zu erklären, dass die „Betrogene“ damals gleich 3 Tabus verletzt: 1.) Das Tabu der tradierten Geschlechterrollen, denn hier ist die Frau die „männlich werbende“ und der junge Mann ist der „wie eine Frau begehrte“ [7]. Dies wäre vielleicht aufgrund seiner literarischen Tradition noch am ehesten hingenommen worden [11]. 2.) Die Beschreibung und Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Menstruation/Menopause mit all seinen physischen und psychischen Auswirkungen musste in den prüden 1950er Jahren irritieren, ja provozieren [11]. 3.) Als drittes Tabu muss die sehr naturalistische Darstellung einer zum Tode führenden Krebserkrankung des inneren weiblichen Genitales inkl. einer ausführlichen Beschreibung des Operationssitus bei Frau von Tümmler angesehen werden [7]. Dies war, zumindest zum Zeitpunkt der Buchpremiere, beispiellos in der Literaturgeschichte [11]. Es war (auch durch Thomas Mann?) vorherzusehen, dass die thematische Trias „Krebs, Klimakterium, Vertauschen der üblichen Geschlechts- und Altersrollen“ wenigstens in den 1950er Jahren auf heftigste Ablehnung stoßen würde. – „Anstoß erregten beides: der ‚peinliche‘ Gegenstand sowie dessen Stilisierung …“ [11].

„Die Betrogene“ lässt sich in 3 Abschnitte unterteilen: Im ersten werden Frau von Tümmler, ihre Familie, „ihre unmittelbare Umgebung, ihre Interessen und Sorgen, ihre Gemütsverfassung vorgeführt …“ [9]. Der zweite Abschnitt beginnt, als der junge Amerikaner Ken Keaton die Szenerie betritt und jene, bereits ausführlich beschriebenen Emotionen bei der Protagonistin der Novelle auslöst. Deren schwere Krankheit und ihr Tod werden in einem dritten Teil behandelt, der aus medizinisch-gynäkologischer Sicht besonders interessant ist [9].

Thomas Mann hatte in einem Tagebucheintrag vom 6. April 1952 das Sujet für „Die Betrogene“ notiert und sich gleichzeitig gefragt: „… In welchem Stadium des Krebses tritt solche Blutung ein? Ist der Fall noch operierbar? …“ [12]. Um diese Fragen und andere medizinische Aspekte der Handlung in der „Betrogenen“ klären zu können, benötigte er ärztliche Expertise.

Dafür wandte er sich an den Internisten Frederick Rosenthal (1902–1982). Fast alle Arztfiguren in Thomas Manns Werk sind interessanterweise nicht sehr vertrauenerweckend oder sympathisch. Offenbar hatte er eine tiefe Skepsis und (unbewusste) Abneigung gegenüber den Fähigkeiten und Möglichkeiten der Ärzte resp. der modernen Medizin [2] [6]. „Rosenthal, der bis 1936 in Berlin ärztlich tätig war, dann emigrierte, seit 1938 in Beverly Hills praktizierte, seit 1941 zunächst Heinrich Mann behandelte“ [6] und später auch Thomas Mann im Rahmen einer „Befindlichkeitsstörung“, die sich schließlich als ein noch operables Lungenkarzinom herausstellte, diesen Dr. Rosenthal hielt der arztkritische Thomas Mann offenbar für ausreichend kompetent, um ihn nach dessen „Mitwirkung“ am Roman „Doktor Faustus“ wiederum als medizinischen Berater heranzuziehen [6]. Im Thomas-Mann-Archiv in Zürich befindet sich ein Briefwechsel, der zeigt, welche umfassenden Ratschläge und medizinischen Erläuterung Mann von Rosenthal erhielt. Unter anderem riet er ihm davon ab, Frau von Tümmler an einem primären Endometriumkarzinom erkranken zu lassen, da sich damit nur das scheinbare Wiedereinsetzen der Monatsblutung erklären ließ. „Weitreichendere Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten sich dem Dichter, wenn er von einem Granulosazelltumor der Eierstöcke ausginge, dessen Zellen Östrogen produzierten und im äußeren Erscheinungsbild und im Seelenleben der Frau zu Veränderungen führten, die man als Verjüngungszeichen wahrnehmen könne, ehe dann mit dem Entstehen eines östrogenbedingten Endometriumkarzinoms die Krankheit ihren fatalen Verlauf nehme …“ [6].

Frederick Rosenthal schrieb im Mai 1952 einen fünfseitigen Brief an „Dr. Thomas Mann“, in dem er auch fundierte medizinhistorische Kenntnisse offenbarte und ihm erläuterte, dass es „… tatsaechlich ganz gut moeglich [ist] dass die ‚wirkliche Patientin‘ gelitten hat an einer Eierstockerkrankung die im Jahre 1855 in Wien von Rokitansky entdeckt und 1859 erstmalig in der Wiener Allgemeinen Zeitung veroeffentlicht wurde. – Die medizinische Welt erfuhr mehr ueber die Krankheit im Jahre 1915 als R. Meyer in der Zeitschrift für Geburtshilfe und Frauenheilkunde nachwies, dass dieser Eierstockstumor, granuloeses Zellkarzinom genannt, ausgeht von unbenutzten granuloesen Zellen, die seit der Geburt im Eierstock ruhten und nach dem Einsetzen der Wechseljahr zur boesartigen Entwicklung kommen …“ [13]. Wahrscheinlich ebenfalls im Mai 1952 schickt Rosenthal Thomas Mann eine siebenseitige Ausarbeitung „Zur Physiologie und Pathologie der Eierstöcke im Zusammenhang mit Erscheinungen der Wechseljahre“ [14]. Wie in einem Drehbuch werden hier die verschiedenen Krankheitsstadien und seinerzeit vorhandenen diagnostischen und (eingeschränkten) therapeutischen Möglichkeiten bei einem metastasierten Granulosazelltumor in Kombination mit einem fortgeschrittenen Endometriumkarzinom dargestellt [13]. Thomas Mann musste sich, um den von ihm erdachten Ausgang der Novelle zu mit diesen Textbausteinen zu unterfüttern und für die Leserinnen und Leser plausibel zu machen, nur noch „bedienen“, was er dann auch ausgiebig tat. Szenessy (1966) hat sich u. a. sehr ausführlich mit den von Thomas Mann verwendeten Quellen und seiner besonderen „Montagetechnik“ auch in der „Betrogenen“ befasst. Mann zitiert aus Nachschlagewerken, Reiseführern, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Romanen und Dramen aus eigener und fremder Feder. Szenessy schrieb, dass „… diejenigen Stellen der Erzählung, die einen medizinischen Charakter haben, … weitgehend an den Aufsatz Dr. Rosenthals angelehnt“ sind [15]. Zum Teil sind gemäß „Thomas Manns Montagetechnik“ die vorgegebenen Formulierungen nur wenig von ihm verändert worden. Dies belegen beispielhaft die 2 von Szenessy gegenübergestellten Passagen (s. [Tab. 1]) [15].

Tab. 1 Gegenüberstellung der Briefpassagen von Frederick Rosenthal und dessen, was Thomas Mann daraus in „Die Betrogene“ gemacht hat (Szenessy 1966) [15].

Formulierungen von Rosenthal

Text Thomas Manns in „Die Betrogene“

Doch die Eröffnung der Bauchhöhle zeigt, daß der Zeitpunkt für auch nur vorübergehende Besserung schon längst versäumt ist. Nicht nur sind bereits alle Beckenorgane von dem wachsenden Eierstockkarzinom befallen, auch das Bauchfell zeigt schon makroskopisch karzinomatöse Zellensiedlung, alle Drüsen des lymphatischen Systems sind karzinomatös verdickt, und die Leber zeigt Krebszellenherde.

(VIII 949) Doch die Eröffnung der Bauchhöhle bot Ärzten und Schwestern im weißen Licht der Bogenlampen ein zu furchtbares Bild, als daß auch nur auf vorübergehende Besserung zu hoffen gewesen wäre. Der Zeitpunkt, sie zu bewirken, war offenbar längst versäumt. Nicht nur, daß alle Beckenorgane bereits vom Verderben befallen wären: auch das Bauchfell zeigte, dem bloßen Auge schon, die mörderische Zellenansiedlung, alle Drüsen des lymphatischen Systems waren karzinomatös verdickt, und kein Zweifel war, daß es Krebszellenherde gab auch in der Leber.

… daß das Karzinom bereits in beide Harnleiter … eingewachsen ist.

… daß das Zeug auch in beide Harnleiter schon metastatisch hineingewachsen ist …

Manns Romanheldin Rosalie von Tümmler stirbt wenige Wochen nach dem vergeblichen Versuch, sie durch eine Operation zu retten, in der Klinik. Thomas Mann schrieb, fachmännisch von Rosenthal beraten: „Das urämische Koma senkte sie bald in tiefe Bewusstlosigkeit und einer doppelten Lungenentzündung, die sich unterdessen entwickelte, konnte das ermattete Herz nur Tage noch standhalten …“ [5]. Ein letztes Mal wachte sie aus dem Koma auf. Es kam zu einem kurzen Gespräch mit ihrer Tochter Anna, indem sie versöhnliche Wort dazu findet, dass sie „vom eigenen Körper, vom Leben, vom Schicksal und vielleicht auch von der Liebe getäuscht wurde“ [7]. Thomas Mann ließ sie noch sagen: „Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens, und wenn er für mich die Gestalt lieh von Auferstehung und Liebeslust, so war das nicht Lug, sondern Güte und Gnade …“ [5].

In unserem Text konnten wir, auf der Basis zahlreicher literaturwissenschaftlicher Veröffentlichungen, nur einige Interpretation andeuten, die zu Manns letzter Erzählung „Die Betrogene“ möglich sind. Zu den medizinischen Aspekten meinte Elsaghe treffend, dass diese Novelle in ihrer „… ‚unübersehbaren Vermächtnishaftigkeit‘ … die Reihe von Krankheitsgeschichten [schließt], aus denen sein Œuvre zu einem guten und dem vielleicht besten Teil besteht …“ [2].

Thomas Mann hatte aus Anlass seines 50. Geburtstags schon 1925 gesagt: „Wenn ich einen Wunsch zum Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge von ihm sagen, dass es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß …“ [16].

1 Der bedeutende Kritiker, Literatur- und Musikwissenschaftlicher Hans Mayer (1907–2001) sah „Die Betrogene“ als Parallelerzählung zu Manns „Tod in Venedig“ (siehe [3]).




Publication History

Article published online:
03 December 2025

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