Z Sex Forsch 2025; 38(03): 174-175
DOI: 10.1055/a-2664-4612
Buchbesprechungen

Dialektik der Hure. Von der „Prostitution“ zur „Sex-Arbeit“

Aaron Lahl
Preview
Zoom
Theodora Becker. Dialektik der Hure. Von der „Prostitution“ zur „Sex-Arbeit“. Berlin: Matthes & Seitz 2023. 591 Seiten, EUR 38,00

In ihrer Studie zur Dialektik der Hure betrachtet die Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Theodora Becker die Prostitution „als Prisma der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Widersprüche“ (S. 8). Die titelgebende Dialektik ist also eine historisch konkrete: Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation hat eine spezifische (d. h. von ihren antiken/mittelalterlichen Vorgängerinnen differenzierbare) Form der Prostitution hervorgebracht, die wiederum die Paradoxien dieser Gesellschaftsform in sich aufnimmt, ja auf die Spitze treibt und damit potenziell überschreitet. Das erregte Debattieren um das Wesen der Prostitution und die hilflosen Versuche ihrer staatlichen Kontrolle und Unterdrückung können deshalb Becker zufolge als unbewusstes Ringen der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer eigenen antagonistischen Konstitution dechiffriert werden (S. 14).

Um diesen Gedanken zu entfalten, durchpflügt Becker die bürgerlichen Diskurse zur Prostitution mit Fokus auf die zweite Hälfte des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Korpus der von ihr analysierten Quellen ist umfangreich und reicht von frühen sexualwissenschaftlichen Arbeiten, wie jenen des russischen Venerologen Benjamin Tarnowsky, der das Theorem der „geborenen Prostituierten“ vertrat, über die verschiedenen legislativen und administrativen Regulierungsversuche im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik bis hin zur Geschlechtsmetaphysik Otto Weiningers, die Becker zufolge auf wahnhaft-verzerrte Weise kritische Einsichten in die Geschlechtsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft mitteile. In einem eigenen Kapitel untersucht Becker zudem die Verhandlung der Prostitution in der kommunistischen Bewegung. Dabei rekonstruiert sie nicht nur die bekannte Kritik des Sexgewerbes als dekadentes und historisch bald überholtes Übel der bürgerlichen Gesellschaft (z. B. bei August Bebel), sondern widmet sich auch der kommunistischen Prostituierten-Zeitschrift Der Pranger (1920–1924 in Hamburg erschienen), die die Prostituierten und die kommunistische Bewegung füreinander zu gewinnen versuchte. Kurzum: Becker betreibt eine zugleich breite und detailreiche Quellenanalyse, die für sich genommen schon eine Lektüre lohnt.

Doch die historischen Rekonstruktionen bilden für die Autorin lediglich das Sprungbrett, um sich ihrem eigentlich philosophischen Erkenntnisgegenstand zuzuwenden: der historischen Dialektik zwischen Prostitution und bürgerlicher Gesellschaft. In immer neuen Anläufen zeigt Becker vor dem Hintergrund ihrer Quellenanalyse auf, wie die von Marx bestimmten ökonomischen Funktionsprinzipien der kapitalistischen Gesellschaft (Warenform, Fetisch, Tausch) sowie die bürgerlichen Anschauungsformen (Arbeitsmoral, Sexualmoral, männlicher/weiblicher Geschlechtscharakter) die Prostitution zutiefst prägen – und doch bei ihr an ihre Grenzen stoßen.

Der Rezensent war beim Nachvollzug dieser Analyse an die Arbeit des Sexualhistorikers Thomas Laqueur zur Onanieverfolgung in der westlichen Moderne erinnert (Laqueur: Die einsame Lust. Eine Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung, Berlin, Osburg 2008). Ähnlich wie Becker, rekonstruiert Laqueur den Skandal der Masturbation vor dem Hintergrund der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der bürgerlichen Subjektformation. Laqueur zufolge fürchtete und bekämpfte die bürgerliche Gesellschaft in der Selbstbefriedigung genau jene Eigenschaften, die sie sonst als neue Tugenden beförderte: das individuelle Luststreben, die Ausschöpfung der Fantasie und den Rückzug ins Private. Analog lässt sich die Hure als radikale und deshalb verhasst-verfolgt-begehrte Verkörperung von ökonomischen und ideologischen Grundtendenzen der bürgerlichen Moderne begreifen. Onanie und Hurerei verfolgen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wie Gespenster, weil sie ihre innerste Logik nach außen kehren.

Die Rekonstruktionen Beckers und Laqueurs, die den Titel „historisch-materialistisch“ verdienen, lassen sich gegenüber dem im Feld der Sexualgeschichte nach wie vor dominanten Zugang Michel Foucaults abgrenzen (dessen Name provokanterweise kein einziges Mal in Beckers Buch fällt). Es wäre naheliegend, die Prostituierte den von Foucault identifizierten vier Grundfiguren des „Sexualitätsdispositivs“ – das onanierende Kind, die Hysterikerin, das familienplanende Paar und der Perverse – als fünfte Figur zur Seite zu stellen. Doch während Foucault die explodierenden Diskurse zur Prostitution einseitig als Auswuchs eines ominösen Machtsystems fassen würde (Sexualitätsdispositiv bzw. Biomacht-Regime), sind die erregten Debatten im Anschluss an Becker/Laqueur als Manifestation einer widerspruchsgeladenen historisch-gesellschaftlichen Konstellation verstehbar.

Beckers Arbeit bleibt aber nicht im Deskriptiven, sondern bemüht sich in den beiden abschließenden Kapiteln um eine „Ehrenrettung der Hure“ (S. 15). Unter „Hurerei“ fasst die Autorin dabei – in Abgrenzung zu „Prostitution“ und „Sexarbeit“ – die transgressiven Eigenheiten des Lustgewerbes. Hurerei sei eigentlich keine Erwerbsarbeit, sondern eine dem Künstlertum verwandte „Lebensweise“ (S. 427). Statt dem Verrichten von sexuellen Akten sei die eigentliche Tätigkeit der Hure das gekonnte Bereitstellen einer „Verheißung“ (S. 410). Der „Gebrauchswert der Hure“, den Becker im Anschluss an Wolfgang Pohrt als „emanzipatorischen Gebrauchswert“ bestimmt, weise über die Befriedigung eines bloß materiellen Bedürfnisses hinaus, insofern die Hure die Sehnsucht nach „ungezwungener Lust in freier Zeiteinteilung“ (S. 470) repräsentiere. Im Anschluss unter anderem an Laurent de Sutter scheut sich Becker auch nicht, die religiös-metaphysische Seite des Gebrauchswerts der Hure, die Dimensionen von Hingabe, Selbsterkenntnis und Vergebung in der „Hurenerfahrung“ herauszuarbeiten (S. 413).

Von einer historischen Rekonstruktion über eine philosophisch-ökonomische Reflexion gelangt Beckers Arbeit schließlich also zu nicht weniger als einem Manifest der Hure. Eine verkürzte Kritik könnte der Autorin vorwerfen, dass sie in diesem Schritt an der Lebens- und Arbeitsrealität der Prostituierten vorbeischreibt, etwa wenn sie behauptet, die Hure sei „vor allem deswegen teuer […], weil sie sich dazu entschieden hat, teuer zu sein“ (S. 429). Doch damit wäre das Anliegen der Autorin verfehlt, in bewusster begrifflicher Zuspitzung die subversiven Momente am Lustgewerbe herauszugreifen und sie zu einem utopischen Gegenentwurf nicht nur zur bestehenden Lebensrealität von Prostituierten, sondern zur gesamten Gesellschaftsordnung zu verlängern.

Die „Utopie der Hure“ bleibt als „immanente Utopie“ (S. 408) jedoch an die bürgerliche Gesellschaft gebunden. Und da diese Gesellschaft sich infolge von ökonomischen und ideologischen Umwälzungen – postindustrielle Produktionsweise, neoliberales Akkumulationsregime, „globaler Finanzblasenkapitalismus“ (Robert Kurz), „wokes Kapital“ (Clemens Nachtmann) (S. 487f.) – im „Niedergang“ (S. 492) befinde, ist auch die Hure eine tendenziell vergangene Figur der Transgression. Zwar verschwinde in der neuen ökonomischen Ordnung nicht die Prostitution, wohl aber verliere sie ihre subversive, hurenhafte Potenz, vor allem, wenn sie sich als „Sexarbeit“ integrieren lasse. Becker kritisiert vor diesem Hintergrund das öffentlichkeitswirksame Agieren von Sexarbeitslobbyistinnen aus dem „gehobeneren“ Milieu, die sich für eine Enttabuisierung von Sexarbeit einsetzen, was Becker zufolge auf einen „Substanzverlust“ (S. 523) des sexuellen Gewerbes hinausliefe. Der eigentliche Sinn solcher Kampagnen sei ohnehin allzu häufig die Selbstvermarktung, die die betreffenden Aktivistinnen als „neoliberale Avantgarde“ allzu geschickt und in latenter Konkurrenz gegen die „unteren Segmente der Prostitution“ zu betreiben verstünden (ebd.). Der „Wille zum Mitspielen in Politik und Medien“, den diese Akteurinnen bekunden, sei „einer Hure unwürdig“ (S. 524).

Statt auf Integration und staatlich-öffentliche Anerkennung wäre Becker zufolge im Interesse der Prostituierten einerseits eine konsequente Entkriminalisierung anzustreben, auch angesichts neuer Reglementierungen wie dem seit 2017 gültigen Prostituiertenschutzgesetz.[ 1 ] Andererseits wäre „auf den Eigenheiten des Gewerbes zu beharren […], die es, ähnlich wie die Kunst, mit dem kapitalistischen Betrieb prinzipiell unvereinbar machen“ (S. 544). Ziel einer gegenwärtigen Interessenspolitik müsste deshalb die „Wiederherstellung der Berufsehre der Prostituierten“ (S. 544) sein: „eher der Stolz auf das Stigma als Ausdruck des abweichenden Lebensstils denn Werbekampagnen zu dessen Bekämpfung“ und „eher Solidarität im Milieu als das Streben nach höheren Weihen durch die offizielle Politik“ (S. 545).

Beckers Analyse steht quer zu den festgefahrenen Debatten zwischen einem neu erstarkenden Abolitionismus und einem identitären Sexarbeitsaktivismus. Ihre Analyse zeigt, dass sich das Sexgewerbe nur als Ausdruck der es ermöglichenden gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen lässt, weshalb Maßnahmen zu ihrer Regulation ebenso wie affirmative Kampagnen sich notwendig in den Widersprüchen dieser Verhältnisse verfangen.

Aaron Lahl (Berlin)



Publication History

Article published online:
05 September 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany