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DOI: 10.1055/a-2664-2697
Sexarbeit und Elternschaft. Bericht über den 3. Fachtag der Fachberatungsstelle Allerd!ngs am 4. Oktober 2024 in Erfurt

Laut Statistischem Bundesamt waren zum 31. Dezember 2023 rund 30 600 Personen gemäß Prostituiertenschutzgesetz behördlich registriert, davon 169 Prostituierte in Thüringen. Ihnen steht seit November 2021 die Fachberatungsstelle Allerd!ngs – Support Sexwork Thüringen (https://allerdings-thueringen.de/) mit Rat und Tat zur Seite, egal ob es um Steuerfragen, Krankenversicherung, Gesundheit, Gewalterfahrungen, Professionalisierung oder andere Belange geht. Über die Arbeitsweise der Fachberatungsstelle wurde in der Zeitschrift für Sexualforschung bereits durch ein Interview informiert (Döring 2024[ 1 ]).
Am 4. Oktober 2024 organisierte Allerd!ngs nun den inzwischen dritten Fachtag „Sexarbeit in Thüringen“. Nachdem der erste Fachtag 2022 im Gebäude der Fachberatungsstelle (Döring 2022[ 2 ]) und der zweite Fachtag 2023 im nahe gelegenen Erfurter Eissportzentrum (Döring 2024[ 3 ]) stattgefunden hatte, traf man sich 2024 im Kulturclub Kalif Storch (https://www.kalifstorch.com/) am Erfurter Güterbahnhof. Rund zwanzig Fachpersonen waren bei regnerischem Herbstwetter versammelt, um sich über die vielfältigen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Sexarbeit auszutauschen, wobei Elternschaft das zentrale Thema war. Schließlich haben viele in der Sexarbeit tätige Menschen Kinder und Enkelkinder, Eltern und Großeltern, mit denen sie in Kontakt stehen. Doch über die familiären Dimensionen von Sexarbeit wird selten öffentlich gesprochen.
Eröffnet wurde der Fachtag von Kathrin Heinrich, die neben Delia Dancia und Johannes Maximilian Spangenberg zum aktuellen Allerd!ngs-Team gehört. Sie erzählt, wie eines Tages ein Vater das Gespräch mit ihr suchte. Er hatte erfahren, dass seine erwachsene Tochter in der Sexarbeit tätig ist. Sich in dieser Branche durchzusetzen, traute er ihr zu. Aber er fragte sich, ob sie sich zukünftige Berufschancen verbaut. Die Beraterin konnte ihm Mut machen und auf zahlreiche Anlaufstellen, Netzwerke und Selbsthilfeinitiativen von und für Sexarbeitende verweisen, die seiner Tochter solidarisch dabei helfen, mit gesellschaftlicher Ausgrenzung umzugehen, diese zu bekämpfen und langfristig die eigene berufliche Entwicklung zu planen. Mit diesem Beispiel aus der Beratungspraxis war nicht nur das Thema Eltern-Kind-Beziehung im Kontext Sexarbeit gesetzt, sondern auch der den Fachtag prägende Fokus auf Selbstbestimmung und aktive Mitgestaltung der persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Auf die Eröffnung des Fachtags folgte ein Vortrag der Kulturpädagogin und Genderwissenschaftlerin Giovanna Gilges (https://speakerinnen.org/de/profiles/giovanna-gilges). Nach ihrer Masterarbeit zu Mutterschaft in der Sexarbeit[ 4 ], promoviert sie aktuell an der Ruhr-Universität Bochum zum schwangeren Körper im Diskurs und Arbeitsfeld der Sexarbeit. Zudem engagiert sie sich als Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung (https://gspf.info/). Ihr Beitrag mit dem Titel „Narrative über sexarbeitende Mütter und innerfamiliäre Auseinandersetzungen“ basierte auf einer Literaturanalyse und den für ihre Masterarbeit geführten Interviews mit Müttern, die ihren Kindern von ihrer Tätigkeit in der Prostitution erzählten. Ausgangspunkt der Analyse ist das doppelmoralische Frauenbild, demgemäß die gute, bürgerliche Frau und Mutter eine „Heilige“ sein soll und keinesfalls eine „Hure“ sein darf. Die Verbindung zur Sexarbeit ruft dabei besonders leicht Extrembilder auf, wie eine im Vortrag zitierte Sexarbeiterin berichtet: „Die Leute denken, wenn du diese Arbeit machst, dann trinkst du wie verrückt, nimmst Drogen und passt gleichzeitig auf dein Kind auf.“ Dabei zeigt die Realität eher, so erläutert die Referentin, dass die gute Versorgung der Kinder für manche Mütter das zentrale Motiv für Sexarbeit ist. Denn mit sexuellen Dienstleistungen können sie ausreichend Geld für die Familie verdienen und haben gleichzeitig noch Zeit für die Kinder. Dabei wird die Sexarbeit, genau wie andere Erwerbstätigkeit, typischerweise vom Privatleben getrennt: „Wenn ich arbeite, arbeite ich. Wenn ich mit meinem Kind bin, bin ich Mutter“, sagt die zitierte Sexarbeiterin. Worin sich die Sexarbeit von anderer Erwerbsarbeit unterscheidet, ist indessen das große gesellschaftliche Stigma, vor dem man die eigenen Kinder schützen will, damit diese in der Schule nicht als „Hurensohn/-tochter“ gemobbt werden. Zwischen dem Zwang zur äußeren Geheimhaltung und dem Bedürfnis, Geheimnistuerei innerhalb der Familie zu vermeiden, navigieren somit viele Menschen in der Sexarbeit, wie der Vortrag verdeutlichte.
Ella Bizarr (https://www.ellabizarr.de) konnte mit ihrem Beitrag „Die gläserne Prostituierte: Playtime“ direkt anschließen. Sie ist verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn sowie eine Tochter im Grundschulalter, wie sie berichtet, und ist seit einigen Jahren selbstständig in der Sexarbeit tätig. Auch engagiert sie sich im Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. (https://www.berufsverband-sexarbeit.de/), der sich mit seinen inzwischen über 1 000 Mitgliedern für die Rechte von Sexarbeitenden einsetzt. Frühere Tätigkeiten in Callcentern, in der Pflege und in der Kundenbetreuung der Bahn seien für sie auf Dauer zu belastend geworden, auch wegen der regelmäßigen Übergriffe und Gewalt. Tatsächlich ist es angesichts von Anti-Prostitutionsbewegungen, die Sexarbeit ohne Evidenz ausschließlich mit Gewalt gleichsetzen, wichtig daran zu erinnern, wie die Arbeitsbedingungen in anderen Berufsfeldern beschaffen sind. So ist es, wie in der Fachliteratur gut belegt und auch von der Referentin aus eigener Erfahrung bestätigt, in der Pflege von Demenzpatient*innen nicht selten getreten, gebissen, bespuckt und betatscht zu werden. Verhaltensweisen, die sie sich von ihren Kunden in der Sexarbeit nicht gefallen lassen muss. Auch kann die tägliche Konfrontation mit angesichts von Servicemängeln aufgebrachten und gewaltbereiten Bahnreisenden wesentlich bedrohlicher sein, als der Empfang von Stammgästen, die sich darauf freuen, körperliche Nähe mit ihr zu erleben. Ella beschrieb ihre Dienstleistung in erster Linie als „Geben und Empfangen von Nähe“, sei es in Form von Kuscheln und Küssen oder auch BDSM-Praktiken. Penetrativer Sex komme vor, sei aber gar nicht der Hauptbestandteil ihrer Arbeit. Ihrer neunjährigen Tochter erklärt sie kindgerecht, dass sie zur Arbeit geht, „um Menschen dabei zu helfen, sich besser zu fühlen“. Ihrem erwachsenen Sohn hat sie im Alter von 14 Jahren genauer erläutert, was sie beruflich macht. Ein „großer Aufreger“ sei das für ihn nicht gewesen. Sie habe ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern. Durch ihre offene, entspannte und herzliche Art gelte sie auch bei den Freund*innen ihrer Kids als „coole Mutter“. Ihr Instagram-Account (https://www.instagram.com/ella_bizarr_official/) spiegelt ihr persönliches Auftreten als nahbare und „nette Sexarbeiterin von nebenan“. Sie zeigt sich online im kinky Outfit genauso wie im Schlafanzug, verströmt somit unaufgeregte Normalität jenseits von Prostitutionsklischees über Edelescorts einerseits und Menschenhandelsopfer andererseits.
Anschließend trat Madame Kali (https://kaliyoga.de/) auf das Podium. Auch sie ist als selbstständige Erotikdienstleisterin tätig, unter anderem als Domina und ebenfalls im Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. engagiert. Ihr Beitrag „Sex and Violin – Lite Version“ repräsentierte einen weiteren wichtigen Zugang zur Sexarbeit, nämlich die Historisierung. Als Violinistin bezauberte sie das Publikum mit ihrem Geigenspiel, wobei sie vor allem Tangos vortrug, als Referentin erklärte sie im Zeitraffer die gesellschaftliche Stellung der Sexarbeitenden in unterschiedlichen Epochen. Dabei kritisierte sie die ständige Wiederholung der bekannten Phrase „Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt“. Denn damit würden die großen historischen und kulturellen Unterschiede im Umgang mit Frauen und Müttern, die außerhalb der Ehe sexuelle Handlungen gegen Ressourcen tauschen, letztlich verwässert. So käme beispielsweise in der Würdigung von Martin Luther regelmäßig zu kurz, wie stark seine Verdammung der „Hurerei“ als „Teufels Werk“ die Stigmatisierung von Prostitution verstärkt habe. Auch erinnert sie daran, dass Prostituierte zwar zu den Opfern des NS-Regimes gehörten, als „Asoziale“ verfolgt und in Konzentrationslagern ermordet wurden, dass sie und ihre Angehörigen aber bis heute keine Rehabilitierung und Entschädigung erhalten haben.
Den letzten Input des Fachtags unter dem Titel „It’s a ‚family affair‘: Über Sexarbeit, Gesundheit & (trans) Mom sein“ lieferte Mia Rose (https://www.speakerinnen.org/de/profiles/10284), selbstständige Erotikdienstleisterin, Aktivistin und Ehrenamtliche bei Kobranet (https://www.kobranet.de/). Sie ist Mitorganisatorin des „Sexworker Frühstück“ in Leipzig. Sonntags wird hier ein Safe Space für Sexarbeitende in der Region geboten für den Austausch unter Peers, ohne Angst vor Zwangsouting oder Stigmatisierung. Über das Frühstück werden rund 20 Sexarbeitende im Alter zwischen 20 und 70 Jahren erreicht, wobei Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch gesprochen wird. Da einige von ihnen Eltern sind, machte sich Mia erfolgreich dafür stark, dass parallel zum Frühstück eine vierstündige Kinderbetreuung in einem separaten Raum angeboten werden kann. Dieses Betreuungsangebot wird unter dem Titel „family affair“ organisiert und finanziert. Trotz ihrer guten Vernetzung erlebt aber auch Mia Spannungen zwischen eigenem trans Muttersein und Sexarbeit. Die drohende Ausgrenzung bleibt immer im Hinterkopf, sie selbst und ihr erwachsener Sohn praktizieren bei Fragen nach dem Beruf daher „selektives Mitteilen“, wie sie berichtete.
Der Fachtag verlief in einer ausgesprochen offenen und herzlichen Atmosphäre, viele persönliche Erfahrungen wurden ausgetauscht und die Bedeutung von Legalisierung und gesellschaftlicher Anerkennung betont. Als Grundstimmungen herrschten trotz der vielfältig sichtbaren Probleme, die faktisch vorhandene Elternschaft in der Sexarbeit diskriminierungsfrei zu leben, Solidarität und Optimismus vor. Interessierte, die nicht dabei sein konnten, seien ermutigt, den Online-Profilen und dort angekündigten öffentlichen Auftritten der Referent*innen zu folgen oder sie auf Veranstaltungen einzuladen. Wer den vierten Fachtag Allerd!ngs in Erfurt nicht verpassen möchte, darf sich den 24. Oktober 2025 im Kalender notieren. Gesprochen wird über „(S)expertise für alle – Nähe professionell gestalten in Sexarbeit und Sexualbegleitung“.
Publication History
Article published online:
05 September 2025
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