Krankenhaushygiene up2date 2025; 20(04): 311-313
DOI: 10.1055/a-2643-7568
Editorial

Geschlechtersensible Medizin in der Infektiologie und Krankenhaushygiene: Zeit für einen Paradigmenwechsel

Authors

  • Irit Nachtigall

Die geschlechtersensible Medizin hat in den vergangenen Jahren in einigen Fachgebieten – allen voran der Kardiologie – deutliche Fortschritte gemacht. Frauen und Männer werden dort zunehmend unterschiedlich behandelt, weil sie sich in Symptomatik, Pathophysiologie und Therapieansprechen unterscheiden. In der Kardiologie sind sex- und genderdifferenzierte Leitlinien, Risiko-Scores und Fortbildungen heute Realität. Die Infektiologie – und insbesondere die Krankenhaushygiene – hinken hier deutlich hinterher [1].

Dabei ist der Einfluss von Geschlecht auf Infektionskrankheiten immunologisch gut begründet. Frauen besitzen zwei X-Chromosomen, die eine Vielzahl immunrelevanter Gene kodieren – darunter TLR7, FOXP3, CD40L oder IL2RG. Viele dieser Gene unterliegen keiner vollständigen X-Inaktivierung, sodass Frauen teils eine höhere Genexpression zeigen. Zusätzlich regulieren Sexualhormone die Immunantwort auf mehreren Ebenen [2] [3]:

  • Östrogen fördert die Reifung und Aktivität von T- und B-Lymphozyten, steigert die Antikörperproduktion und erhöht die Expression von Typ-I-Interferonen und proinflammatorischen Zytokinen.

  • Progesteron wirkt überwiegend immunsuppressiv.

  • Testosteron reduziert die Expression antiviraler Gene, hemmt die T-Zell-Aktivierung und führt zu einer abgeschwächten humoralen Antwort [4].

Diese hormonell-genetischen Mechanismen führen dazu, dass Frauen häufig eine stärkere angeborene und adaptive Immunantwort entwickeln – was einerseits zu effektiverer Pathogenabwehr führt, andererseits das Risiko für immunvermittelte Komplikationen und Autoimmunphänomene erhöht. Männer dagegen zeigen oft eine schwächere antivirale Antwort, was mit schwereren Infektionsverläufen und höherer Mortalität assoziiert ist [5].

Diese Effekte sind infektionsspezifisch gut dokumentiert [2] [6]:

  • Bei COVID-19 erkranken Männer häufiger schwer und sterben doppelt so oft wie Frauen. Gründe sind u.a. eine niedrigere Typ-I-Interferon-Antwort, eine testosteronvermittelte Hochregulation von ACE2/TMPRSS2 und eine geringere TLR7-Expression.

  • Bei HIV zeigen Frauen eine stärkere Interferonantwort und niedrigere Viruslasten, aber auch eine schnellere Progression zu AIDS aufgrund chronischer Immunaktivierung.

  • Bei HPV ist die Immunogenität von Impfstoffen bei Frauen deutlich höher – Männer zeigen eine raschere Viruselimination bei niedrigem Risiko, entwickeln jedoch häufiger orale oder anale Karzinome.

  • Bei Influenza sind Männer im Kindes- und Seniorenalter vulnerabler, während Frauen im reproduktiven Alter (v.a. Schwangere) deutlich höhere Komplikationsraten aufweisen.

  • Pilzinfektionen wie Kryptokokkose oder invasive Aspergillose verlaufen bei Männern schwerer, was auch hier auf eine niedrigere Immunaktivität zurückgeführt wird.

  • Trotz dieser klaren Evidenz fehlt in der klinischen Realität vielfach die Umsetzung:

  • Scores (z.B. qSOFA) wurden primär an männlichen Kollektiven entwickelt und zeigen bei Frauen eingeschränkte Sensitivität.

  • Medikamentendosierungen in der Antiinfektiva-Therapie sind selten geschlechtsspezifisch validiert, obwohl die Pharmakokinetik hormonell beeinflusst ist (u.a. Verteilung, Metabolisierung über CYP-Enzyme, Clearance).

  • Frauen werden in Notaufnahmen seltener mikrobiologisch getestet, erhalten später Antibiotika – obwohl Studien belegen, dass ihre Proben gleich oder häufiger positiv ausfallen [7] [8].

Auch in der Krankenhaushygiene fehlt bisher eine systematische Integration von Geschlecht, Surveillance-Systemen, Screening-Protokollen, Aufklärungsformaten zur Prävention – all das geschieht in der Regel geschlechtsneutral. Dabei sind Unterschiede in Exposition (z.B. Berufsrollen im Pflegebereich), Gesundheitsverhalten und Symptomwahrnehmung evident. Frauen zeigen z.B. häufiger atypische Symptome bei Pneumonie oder Sepsis – was zu verzögerter Diagnostik und Behandlung führt [9] [10].

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Digitalisierung: KI-gestützte Frühwarnsysteme, Clinical Decision Support, Surveillance-Dashboards – sie beruhen auf historischen Datensätzen, die geschlechtsspezifisch verzerrt sind. Wenn diese Bias nicht systematisch adressiert werden, besteht die reale Gefahr, dass bestehende Ungleichheiten algorithmisch verstärkt werden [11].

Muss das so bleiben?

  • Studiendesigns müssen Sex- und Genderanalysen verpflichtend integrieren – von der Rekrutierung bis zur Ergebnisdarstellung.

  • Surveillance und Diagnostik müssen geschlechtsdifferenzierte Parameter berücksichtigen: Inzidenzen, Testhäufigkeiten, Therapieentscheidungen und Outcomes.

  • Fort- und Weiterbildung müssen aufklären – über Immunantworten, Dosierungsfragen, Nebenwirkungen und Bias.

  • Die Lehre von der geschlechtersensiblen Medizin muss bereits frühzeitig im Studium verankert werden.

  • Patient*innenkommunikation muss geschlechtsspezifische Risiken und Nebenwirkungen transparent adressieren.



Publication History

Article published online:
05 December 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany