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DOI: 10.1055/a-2604-7754
Perspektiven von Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland
Perspectives on psychiatry and psychotherapy within the context of general hospitals in German- Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie am Allgemeinkrankenhaus (KPPA) mit regionaler Pflichtversorgung sind konstitutiver Bestandteil der klinischen Medizin
- Subjekt- und Beziehungsorientierung und sektorübergreifende Behandlungsmodelle1
- Entstigmatisierung, Trialog und Prävention
- Prävention von Zwang und Gewalt
- Krankenhausreform, Entgeltsystem und Personalbemessung
- Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
- Weiterbildung und Nachwuchsförderung
- Literatur
Gesundheitspolitische Entwicklungen inklusive der Krankenhausplanungen in Deutschland haben den Arbeitskreis der ChefärzteInnen der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland (ackpa) veranlasst, wichtige Grundsätze und Forderungen in einem Positionspapier niederzulegen. Die Inhalte wurden von der Autorengruppe zusammengetragen und mit den ackpa-Mitgliedern im Rahmen einer Mitgliederversammlung 2024 diskutiert und abgestimmt. Die Langfassung der in diesem Editorial vorgestellten Kurzversion kann auf der Seite https://ackpa.de eingesehen werden.
Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie am Allgemeinkrankenhaus (KPPA) mit regionaler Pflichtversorgung sind konstitutiver Bestandteil der klinischen Medizin
ackpa tritt für die gleichgestellte Behandlung psychischer und körperlicher Erkrankungen ein, die am ehesten in Allgemeinkrankenhäusern mit Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie realisiert werden kann. Eine Benachteiligung in der Krankenhausfinanzierung gegenüber somatischen Kliniken ist zu verhindern. Insbesondere für multimorbide Patientinnen und Patienten mit schweren psychischen und somatischen Erkrankungen stellen KPPA die bestmögliche Versorgung sicher. Ein Aufgabenschwerpunkt der KPPA ist die konsiliarpsychiatrisch/psychosomatische Diagnostik und Mitbehandlung psychischer Störungen bei Menschen mit somatischen Erkrankungen.
Der Arbeitskreis steht für eine regionalisierte Pflichtversorgung. Die Gemeindenähe sichert eine moderne sektorübergreifende Versorgung mit flexiblen Übergängen zwischen stationärer, stationsäquivalenter, tagesklinischer und ambulanter Behandlung unter Erhalt des Kontaktes zum gewohnten Lebensumfeld. Institutsambulanzen sichern die ambulante Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen.
Ein wesentliches Ziel ist eine psychotherapeutisch denkende und handelnde Psychiatrie. Daher steht ackpa der Trennung von Psychosomatik bzw. „psychotherapeutischer Medizin“ als eigenständigem Fachgebiet neben „Psychiatrie und Psychotherapie“ kritisch gegenüber. Anhand der behandlungsbegründenden Diagnosen lässt sich aus unserer Sicht kein getrennter Versorgungsauftrag definieren.
Die Mitglieder von ackpa beobachten eine Zunahme von Patientinnen und Patienten mit intensivem Behandlungs- und Hilfebedarf, die oft über lange Zeiträume im Krankenhaus behandelt werden müssen, weil geeignete Wohn- und Betreuungsangebote fehlen. ackpa fordert eine regionalisierte Pflichtversorgung im Bereich der Träger der Wiedereingliederung inklusive „Besonderer Wohnformen“ mit fakultativ geschlossenen Plätzen. Wohnortferne Verlegungen in intensivbeschützende Einrichtungen werden abgelehnt.
Subjekt- und Beziehungsorientierung und sektorübergreifende Behandlungsmodelle1
ackpa sieht die Subjekt- und Beziehungsorientierung als eine zentrale Säule moderner psychiatrischer Versorgung an, welche aktuell aber durch ökonomische Zwänge, Fachkräftemangel und Zeitdruck sowie eine nach Sektoren1 getrennte, fragmentierte Versorgung gefährdet ist. Ort, Art und Dauer der Behandlung sollten zunehmend flexibel und unabhängig vom aufgestellten Bett sein. ackpa unterstützt die Erprobung sektorübergreifender Versorgungsformen1 im Rahmen von Modellprojekten nach § 64b SGB V sowie die seit 2018 gesetzlich verankerte stationsäquivalente Behandlung (StäB); diese sollte allerdings mit weniger starren Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden. ackpa plädiert für eine weitere Verbreitung inklusiver Modelle im Sinne des Assertive Community Treatment (ACT) bzw. der intensiv aufsuchenden Behandlung sowie der Überführung sektorübergreifender Behandlungsformen in die Regelversorgung mit verbindlichen gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen.
Entstigmatisierung, Trialog und Prävention
ackpa fördert durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den anderen medizinischen Fachdisziplinen die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen in der Medizin. KPPA unterstützen die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen, organisieren Informationsveranstaltungen für Betroffene und Angehörige sowie öffentliche Präventions- und Aufklärungsaktionen gemeinsam mit Partnern im gemeindepsychiatrischen Verbund. ackpa empfiehlt den Einsatz von Genesungsbegleiter*innen und fordert, sie als eigenständige Berufsgruppe verbindlich zu finanzieren. ackpa unterstützt ausdrücklich den Trialog zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen.
Prävention von Zwang und Gewalt
ackpa unterstützt alle Maßnahmen, die zu einer Verringerung von gerichtlichen Unterbringungen und Zwangsmaßnahmen führen können, u. a. den Einsatz milderer Mittel, Behandlungsvereinbarungen, den Einsatz von Programmen wie Safewards [1], die Arbeit nach den Prinzipien des Offenen Dialogs [2], die Beschäftigung von Genesungsbegleiter*innen (Peer Support) und die Stärkung aufsuchender Behandlung. Bezüglich der gesetzlichen Neuregelung von Zwangsbehandlungen außerhalb psychiatrischer Kliniken mahnt ackpa eine restriktive, vor Möglichkeiten des Missbrauchs schützende Regelung an. ackpa unterstützt die flächendeckende Einrichtung unabhängiger Besuchskommissionen und steht für die Stärkung der Rechtsfähigkeit und der unterstützten Entscheidungsfindung, solange die Selbstbestimmungsfähigkeit der Betroffenen nicht aufgehoben ist. ackpa sieht im derzeitigen rechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Umfeld noch nicht die Möglichkeit, ganz auf die Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kliniken zu verzichten. Forschung zu Möglichkeiten der Zwangsvermeidung ist zu fördern. ackpa fordert, auch bauliche Voraussetzungen psychiatrischer Kliniken zu optimieren und zu finanzieren, um das Gewaltpotenzial zu reduzieren und um eine Behandlung in möglichst offenen Formen anbieten zu können.
Krankenhausreform, Entgeltsystem und Personalbemessung
Der Arbeitskreis fordert, dass bei der Krankenhausplanung die regionale psychiatrische (Pflicht)Versorgung der Bevölkerung erhalten bzw. weiterentwickelt wird. ackpa warnt vor Schließungen von Allgemeinkrankenhaus-Standorten mit Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie mit der Folge einer relativen Zunahme von psychiatrischen Kliniken ohne Einbindung in die somatische Medizin.
Das Pauschalierende Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) muss grundlegend reformiert werden, weil es wie das DRG-System ökonomische Fehlanreize bietet. ackpa unterstützt „Vorhaltepauschalen“ im Bereich der Pflichtversorgung und eine sach-/bedarfsgerechte Finanzierung, die die Schwere und Dauer von Erkrankungen berücksichtigt und eine Flexibilisierung des Behandlungssettings ermöglicht. ackpa fordert außerdem eine bundesweite Einführung des bayerischen Einzelleistungsvergütungsmodells für die psychiatrischen Institutsambulanzen.
Die aktuell gültige Mindestpersonalausstattung anhand der PPP-RL hat sich als unbrauchbar erwiesen, insbesondere, weil sie als Personalbemessungsinstrument eingesetzt wird. Kritisiert werden ein unverhältnismäßiger bürokratischer Aufwand, die unzureichende Evidenz für die Versorgungsqualität sowie die fehlende Anwendbarkeit auf sektorübergreifende Versorgungskonzepte1. Sanktionsmaßnahmen bei Unterschreiten der Vorgaben der PPP-RL würden insbesondere bei Kliniken mit Pflichtversorgung zu unkalkulierbaren finanziellen Einbußen führen und die regionale Pflichtversorgung als Ganze gefährden.
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
ackpa erkennt an, dass pflichtversorgende KPPA auch einen ordnungspolitischen Auftrag haben. Straf(prozess)rechtsbezogene Unterbringungen und Behandlungen sollten jedoch ausschließlich in Krankenhäusern des Maßregelvollzugs erfolgen. ackpa sieht die eigene Zuständigkeit vor allem in der präventiven Behandlung von Menschen, die im Rahmen psychischer Erkrankungen ein Gefährdungspotential aufweisen. Abhängig von den regionalen Gegebenheiten behandeln KPPA ggfs. auch Patienten, bei denen nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug eine Führungsaufsicht und Maßregeln der Besserung fortbestehen, in ihren Institutsambulanzen. Diese Differenzierung und Abgrenzung ist beizubehalten. Flexiblere und intensivierte sektorenübergreifenden Behandlung1sowie aufsuchende Behandlung schwer und vor allem komorbid erkrankter Menschen sind zu fördern, um Delikte zu verhindern. Hier wären ebenfalls Konzepte und klare Verantwortlichkeiten der regionalen Eingliederungshilfe zu adaptieren und zu integrieren. Eine Verbesserung und Konzeptualisierung der Zusammenarbeit mit forensischen Ambulanzen scheint dringend notwendig zu sein.
Weiterbildung und Nachwuchsförderung
Der Arbeitskreis fördert psychosomatisches Wissen in allen medizinischen Fächern. Kenntnisse über biopsychosoziale Zusammenhänge somatischer und psychischer bzw. psychosomatischer Erkrankungen sollten in die medizinische Ausbildung konsequenter integriert werden. ackpa setzt sich für die Nachwuchsförderung aller Berufsgruppen im Bereich der psychiatrischen Versorgung ein und plädiert für eine durchgängige Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der Einsatz von Mitarbeitenden in Arbeitnehmerüberlassung gefährdet die Behandlungsqualität bei erheblichen Zusatzkosten. ackpa sieht ohne ausreichende Nachwuchsförderung eine zukünftige sektorenübergreifende[1] Versorgung gefährdet. Unbesetzte Kassenarztsitze und Arztstellen in Gesundheitsämtern bzw. sozialpsychiatrischen Diensten belasten zunehmend die KPPA, die diese Versorgungslücken schließen müssen.
ackpa plädiert für eine zeitnahe Neufassung der Muster-Weiterbildungsordnung im Gebiet „Psychiatrie und Psychotherapie“ mit stärkeren Bezug auf die tatsächlichen Herausforderungen im klinischen Alltag. Weiterbildungsbefugnisse bei Wohnort- und Anstellungswechsel in andere Bundesländer müssen leichter übertragbar sein. Berufsvorbereitende Basiscurricula für aus dem Ausland kommende Weiterzubildende sind einzurichten. Das Beantragungsprocedere muss transparent und zeitnah geregelt und zwischen den Bundesländern angeglichen werden.
Zusammenfassend sieht ackpa die Notwendigkeit einer veränderten politischen Beachtung von Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und lädt Politik und Kostenträger zu einem offenen gemeinsamen Austausch über innovative, zukunftsträchtige Entwicklungen in der Versorgung von Menschen ein, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind.
Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
1 Wir verwenden im Positionspapier den Begriff „sektorübergreifend“, wenn wir über Angebotsstrukturen im SGB V sprechen und den Begriff „sektorenübergreifend“, wenn wir von rechtskreisübergreifenden Angeboten sprechen, die also die Verknüpfung verschiedener Sozialgesetzbücher erfordern.
-
Literatur
- 1 Mullen A, Browne G, Hamilton B. et al. Safewards: An integrative review of the literature within inpatient and forensic mental health units. Int J Ment Health Nurs 2022; 31: 1090-1108
- 2 Seikkula J, Arnkil TE. Offener Dialog – Die Vielfalt der Stimmen im Netz. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2022
Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
11 July 2025
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Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Mullen A, Browne G, Hamilton B. et al. Safewards: An integrative review of the literature within inpatient and forensic mental health units. Int J Ment Health Nurs 2022; 31: 1090-1108
- 2 Seikkula J, Arnkil TE. Offener Dialog – Die Vielfalt der Stimmen im Netz. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2022



