Z Sex Forsch 2025; 38(02): 113-114
DOI: 10.1055/a-2598-3928
Bericht

Vielfalt der Wege: Erprobte Ansätze zur Unterstützung des Umstiegs aus der Prostitution – Ergebnisse und Perspektiven vom Fachtag „Umstieg aus der Prostitution“ am 06. Juni 2024 in Berlin

Sarah Kersten

Zwischen August 2021 und Juli 2024 wurden vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) fünf Modellprojekte zur Unterstützung des Umstiegs aus der Prostitution gefördert. Ab Januar 2023 wurden die Projekte vom Forschungs- und Beratungsunternehmen InterVal GmbH in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Barbara Kavemann wissenschaftlich begleitet. Zum Ende der Bundesmodellprojektförderung luden die InterVal GmbH und das BMFSFJ am 06. Juni 2024 bundesweit Expert*innen zu einem Fachtag in Berlin ein. Ziel war es, in drei Panels Innovationen, Erfolgsstrategien und Herausforderungen der Umstiegsberatung und erste Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung mit einer breiten Fachöffentlichkeit zu diskutieren. Es nahmen rund 90 geladene Gäste aus der Wissenschaft und sozialarbeiterischen Praxis teil, darunter auch die Mitarbeiterinnen der fünf Modellprojekte.

Die Standorte und Träger*innen der Bundesmodellprojekte waren: in Bremen und Bremerhaven, Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz – Stabsbereich Frauen; in Saarbrücken, Diakonisches Werk an der Saar gGmbH und ALDONA e. V.; in Rostock, STARK MACHEN e. V.; in Kiel und Neumünster, Frauennetzwerk zur Arbeitssituation e. V. und Frauenwerk der Nordkirche und in Berlin, Neustart e. V. Alle fünf Projekte unterstützten Personen, die aus der Sexarbeit aussteigen wollen oder bereits ausgestiegen sind und Hilfe beim Einstieg in eine neue berufliche Tätigkeit suchten. Um der Vielfalt der Zielgruppe und ihren individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden, entwickelten die Modellprojekte innovative Ansätze, die sie durch Zusammenarbeit mit Fachberatungsstellen, Jobcentern, Bildungsträgern und anderen Kooperationen erweiterten und optimierten.

Die Begleitforschung untersuchte die Umsetzung, Wirkungsmechanismen und Wirkungen auf Ebene der fünf Einzelprojekte mit dem übergreifenden Ziel, Erkenntnisse zur Weiterentwicklung von Umstiegskonzepten und Unterstützungsangeboten für Menschen in der Prostitution zu gewinnen. Neben der Einführung eines einheitlichen Dokumentationssystems zur quantitativen Erfassung der Teilnehmendenzahlen und weiterer Kennzahlen der Modellprojekte vor Ort wurden mehrere projektübergreifende Workshops und Vor-Ort-Besuche abgehalten. Zudem fanden über 50 leitfadengestützte Interviews mit teilnehmenden Sexarbeiter*innen, sowie mit Personen aus der Sexarbeit, die nicht an einem der Umstiegsprojekte teilnahmen, statt. Auch die Projektleitungen, Mitarbeiterinnen und lokalen Kooperationspartner*innen der Modellprojekte wurden interviewt.

Die finale Auswertung der gesammelten Daten und Erkenntnisse startete mit dem Abschluss der Modellprojekte im Sommer 2024, die Veröffentlichung des vollständigen Abschlussberichts ist für das Frühjahr 2025 geplant. Wichtige Ergebnisse wurden aber bereits für die Praxis in einem Leitfaden zusammengestellt, der im September 2024 veröffentlicht wurde [1]. Er richtet sich vor allem an Beratungsstellen aus dem Bereich der Sozialarbeit in Deutschland, die Menschen beim Umstieg aus der Prostitution unterstützen oder planen, diese Beratung zukünftig anzubieten. Auch für Träger*innen, Organisationen, Arbeitgeber*innen und Behörden, die mit der Zielgruppe arbeiten, diese beraten oder Kontakt zu ihr haben, gibt der Leitfaden wertvolle Einblicke in die komplexe Materie des Umstiegs.

Der Fachtag fand im Konferenzzentrum Mauerstraße statt. Das neusanierte Gebäude, eine ehemalige Hauptgeschäftsstelle der Reichsbank aus der Kaiserzeit, liegt in der Berliner Friedrichstadt und bot mit seinen großzügigen, lichtdurchfluteten Räumlichkeiten eine ideale Umgebung für intensive Diskussionen und regen Austausch. Nach einem Mittagssnack, der den Teilnehmenden bereits erste Möglichkeiten zum Netzwerken bot, eröffnete die Moderatorin Beate Hinrichs den Fachtag mit einer Begrüßung und Einführung. Anschließend hielt Dr. Petra Follmar-Otto, Leiterin der Abteilung Gleichstellung im BMFSFJ, die Eröffnungsrede. Sie betonte, dass der Umstieg aus der Prostitution oft mit erheblichen, individuell sehr unterschiedlichen Herausforderungen verbunden sei, die ein umfassendes Netzwerk an Unterstützungsakteuren erforderten. Dabei hob sie die Wichtigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen Beratungsstellen, sozialen Diensten und politischen Institutionen hervor. Abschließend sprach sie den Projektleitungen und Mitarbeiterinnen der fünf Modellprojekte ihren Dank für das Engagement und die Arbeit der letzten drei Jahre aus.

Als nächstes gab Dr. Stefan Ekert, Projektleiter der InterVal GmbH, in einer kurzen Präsentation einen Überblick über die Begleitforschung und einige Zwischenergebnisse. Er zeigte die Vielfalt des Feldes auf, die sich sowohl in den unterschiedlichen Ansätzen der Umstiegsberatung der Modellprojekte zeigt, als auch in der sehr heterogenen Zusammensetzung der Zielgruppe der Sexarbeiter*innen und den Rahmenbedingungen vor Ort.

Zum Schluss der Präsentation bat Dr. Ekert das erste Panel zum Thema „Voraussetzungen für den Umstieg“ auf die Bühne, Vertreterinnen von drei der Modellprojekte: Nicole Klech von der Beratungsstelle MARIE in Bremerhaven, Sandra Kamitz von BOSS in Rostock und der Berliner Verein Neustart e. V. Die Panelistinnen schilderten ihre Erfahrungen aus der täglichen Beratungspraxis und betonten, dass berufliche Orientierung und Qualifizierung häufig erst in den Hintergrund treten müssen. Vorrangig stehen existenzielle Probleme wie fehlender Wohnraum, gesundheitliche Versorgung und finanzielle Absicherung im Fokus der Beratung. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, bieten die Projekte konkrete Maßnahmen an. So hat das Berliner Projekt eine Übergangswohnung angemietet, das Rostocker Projekt mietete selbst eine Wohnung an, die Klient*innen zunächst zur Untermiete nutzen konnten, aber perspektivisch als Hauptmieter*innen übernehmen sollten. Dennoch bleibt die Wohnraumversorgung angesichts der angespannten Wohnungsmärkte in Deutschland eine große Hürde, verstärkt durch die Stigmatisierung der Zielgruppe. Die Panelistinnen betonten, dass die fehlende Krankenversicherung und die damit verbundenen Schwierigkeiten im Krankheitsfall ein schwer lösbares Problem darstellen. Zwar bieten in einigen Regionen Ärzt*innen und Hilfsorganisationen kostenlose medizinische Akutversorgung an, doch das kann die rechtlichen Hürden bei der Aufnahme in eine reguläre Krankenversicherung nicht ausgleichen, wodurch ein langfristig besserer Schutz oft ausbleibt. Zur finanziellen Unterstützung setzten die Projekte verschiedene Hilfsmaßnahmen ein: In Rostock gab es einen Sozialfonds für Darlehen, Bremen nutzte eine Existenzsicherungspauschale, und in Berlin wurde im Notfall ein kleines Taschengeld bereitgestellt. Diese Maßnahmen dienten in erster Linie dazu, akute Notlagen abzufedern.

Nach einer kurzen Kaffeepause richtete sich der Fokus des zweiten Panels auf den beruflichen Umstieg. Die verbleibenden beiden Modellprojekte, vertreten durch Stefanie Kohlmorgen und Kim Kairis von AQUA Kiel/Neumünster sowie Sabine Kost von DiWA Saar, nahmen auf dem Podium Platz. Encarni Ramírez Vega von FIM – Frauenrecht ist Menschenrecht e. V. aus Frankfurt a. M. ergänzte die Diskussion mit einer weiteren praxisnahen Perspektive. Unter der Moderation von Beate Hinrichs erörterten die Panelistinnen die zahlreichen Herausforderungen des beruflichen Umstiegs und die Schwierigkeit, allgemeingültige „best practices“ in der Beratung zu entwickeln, da jede Beratungsperson mit individuellen Hindernissen konfrontiert ist. Die Panelistinnen berichteten von Hürden wie mangelnden Deutschkenntnissen, niedrigen beruflichen Qualifikationen und der Notwendigkeit, schnell Geld zu verdienen, da häufig kein Anspruch auf Sozialleistungen besteht. Darüber hinaus seien Vorurteile seitens der Arbeitgeber*innen und das begrenzte Angebot an Arbeitsplätzen, die auch ohne Deutschkenntnisse und trotz gesundheitlicher Einschränkungen auszuüben sind, weitere Hemmnisse. Die Panelistinnen betonten die Notwendigkeit einer besseren Unterstützung durch die Jobcenter bei der Umstiegsberatung. Oft hänge die Qualität der Unterstützung von den persönlichen Kontakten zu den Mitarbeitenden ab, was den Beratungsprozess zusätzlich erschwere.

Nach einer weiteren Kaffeepause widmete sich das dritte Panel den Perspektiven aus Sicht von Bund, Ländern und Kommunen. Auf dem Podium sprachen Dr. Iris Muth vom BMFSFJ, Ulrike Hallenbach vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg, Nadin Freyhoff vom Stabsbereich Frauen in Bremen sowie Katrin Baumhauer vom Gesundheitsamt Köln. Im Zentrum der Diskussion standen die nachhaltige Sicherstellung der Umstiegsberatung und die Weiterentwicklung der bestehenden Strukturen. Dr. Muth hob hervor, dass die bisherigen Erfahrungen der Modellprojekte wertvolle Impulse für die zukünftige Ausgestaltung der Umstiegsberatung lieferten. Es wurde betont, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen Akteuren auf kommunaler und Länderebene erforderlich ist, um die Beratungsangebote langfristig zu sichern. Zudem investieren viele Fachberatungsstellen neben der täglichen Arbeit erhebliche Ressourcen in Öffentlichkeitsarbeit und Netzwerkbildung, um ihre finanziellen Mittel zu erweitern, das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Sexarbeiter*innen zu schärfen und diskriminierende Hürden abzubauen. In einigen Bundesländern existieren, jedoch nicht flächendeckend, Runde Tische zur Prostitution, die darauf abzielen, die verschiedenen Akteursgruppen zu vernetzen und tragfähige Hilfsstrukturen zu etablieren. Dies müsse weiter ausgebaut werden.

Der Tag wurde mit einem abschließenden Wort und der Verabschiedung durch Moderatorin Beate Hinrichs beendet, gefolgt von Getränken und Häppchen, die Raum für weitere informelle Gespräche boten. Da viele Mitarbeiterinnen der Modellprojekte eine weite Anreise hatten und der Austausch oft hauptsächlich virtuell stattfand, nutzten sie gemeinsam mit dem Team der wissenschaftlichen Begleitung die Gelegenheit, den Abend in geselliger Runde ausklingen zu lassen.

Sarah Kersten (Berlin)



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Article published online:
11 June 2025

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