Psychiatr Prax 2025; 52(05): 245-247
DOI: 10.1055/a-2565-6993
Editorial

Das Soziale in der Psychiatrie

The social side of psychiatry
Matthias Jäger
1   Psychiatrie Baselland, Liestal, Schweiz
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Die psychiatrische Versorgung steht derzeit von zwei Seiten unter Druck. Auf der einen Seite durch die steigende Inanspruchnahme von Menschen mit eher leichteren psychischen Belastungen und sozialen Problemen [1]. Auf der anderen Seite durch die (oft unfreiwillige) Zuweisung von Menschen mit komplexen sozialen Konstellationen, ohne dass ursächlich eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung feststellbar ist. Die aus der Psychiatriereform stammende Prägung, dass «jede Psychiatrie nur Sozialpsychiatrie - oder keine» sein könne (Klaus Dörner) und die Anforderung, dass Medizinisches und Soziales aus einer Hand angeboten werden müssen, tragen mit dazu bei, dass die Gesellschaft (sowie nicht wenige psychiatrische Fachpersonen) die Psychiatrie für psychische Belastungen sowie für sozial auffälliges Verhalten jeder Art zuständig erklärt. Die damit verbundene Überfrachtung des Versorgungssystems mit all ihren bekannten Folgen wie Qualitätsverlust, Kostenwachstum, Personalfluktuation, Fachkräftemangel gerät dabei häufig aus dem Blick. Eine Fokussierung des aus der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen abgeleiteten psychosozialen Behandlungsauftrags an die Psychiatrie scheint daher erforderlich.

Fehlallokationen durch Destigmatisierung und Exklusionstendenzen

Die mit dem Destigmatisierungsgeschehen der letzten Jahre verbundene (und grundsätzlich begrüßenswerte) steigende Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgungsangebote führt auf der einen Seite dazu, dass Behandlungskapazitäten in wachsendem Ausmaß von Menschen mit leichteren psychischen Belastungen genutzt werden [1]. Auf der anderen Seite sind gesellschaftliche Exklusionstendenzen, insbesondere in Zeiten der Abwicklung von Errungenschaften hinsichtlich Inklusion und Diversität, mitverantwortlich für eine zunehmende Überlastung der akutpsychiatrischen Behandlungsangebote durch Menschen mit herausforderndem und distanzauslösendem Verhalten, das jedoch nicht ursächlich mit einer psychischen und behandlungsfähigen Störung verbunden ist. Beispiele für diese Fehlallokation von Behandlungskapazitäten betreffen langfristige Hospitalisationen von Menschen mit persönlichkeitsbedingt herausfordernden Verhaltensweisen, die aber keiner Behandlung zugänglich sind, sowie Menschen ohne Wohnung, deren Behandlung abgeschlossen ist bzw. ambulant fortgesetzt werden könnte (oder gar keine Behandlungsindikation vorlag), eine Entlassung in die Obdachlosigkeit aber zu erwartbar erneuter Zuweisung führen würde und denen von den verfügbaren Anbietern (Wohnung mit oder ohne Betreuung) keine Wohnoption zur Verfügung gestellt wird [2]. Ein weiteres Beispiel sind akut intoxikierte Personen, die häufig zum Zweck der Überwachung und allenfalls Begrenzung expansiven Verhaltens in die Psychiatrie eingewiesen werden, bei denen aber keine behandlungsbedürftige psychische Störung vorliegt und die nach kurzer Zeit mit Abklingen der Intoxikation wieder entlassen werden [3]. Und schliesslich werden allgemeinpsychiatrische Behandlungskapazitäten zunehmend wieder durch Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen bzw. Intelligenzminderung belegt, die nicht nur zur Behandlung komorbid vorliegender psychischer Störungen in den Kliniken verweilen, sondern aufgrund des Fehlens eines geeigneten spezifischen Betreuungssettings (vielfach nach Kündigung eines solchen im Zuge der Klinikeinweisung). Für diese Menschen ist ein allgemeinpsychiatrisches stationäres Setting ungeeignet und kann zur Verschlechterung des Befindens und Verstärkung herausfordernden Verhaltens führen [4].


Institutionsübergreifende regionale Versorgungsverpflichtung

Alle aufgeführten Beispiele führen zu einer Belastung des psychiatrischen Versorgungssystems und zur Überforderung, Hilflosigkeit und Resignation der Mitarbeitenden, mit der Folge erhöhter Fluktuation oder gar Verlassen des Berufs. Die Mitarbeitenden in der psychiatrischen Versorgung sind ausgebildet in der Anwendung medizinischer, psychotherapeutischer, psychosozialer und pflegerischer Interventionen und arbeiten mit der Erwartung, diese Fähigkeiten in ihrem Berufsalltag auch mehrheitlich anwenden zu können. Für einen zielführenden Umgang mit den oben genannten Konstellationen sind darüberhinausgehende Fertigkeiten und Kenntnisse erforderlich, die bei anderen gesellschaftlichen Instanzen, Institutionen und Fachpersonen außerhalb der Psychiatrie besser abgebildet sind. Dies betrifft beispielsweise Einrichtungen der Wiedereingliederungshilfe, sozial-/heilpädagogische Institutionen, staatliche Sicherheits- und Ordnungsinstanzen, Allgemeinkrankenhäuser und Gemeinden. Um dem zunehmenden Druck der Verlagerung von Menschen mit komplexen Problemkonstellationen in die Psychiatrie entgegenzuwirken, sind Kooperationsmodelle wie die gemeindepsychiatrischen Verbünde in Deutschland oder andere regionale Versorgungsnetzwerke erforderlich, bestenfalls mit gemeinsamer regionaler Versorgungsverpflichtung [5]. Zudem ist in jedem Einzelfall die primäre Verantwortungszuständigkeit für die Fallsteuerung und Erschließung der notwendigen Versorgungsfunktionen aus anderen Bereichen festzulegen. Eine Voraussetzung dafür, dass diese von der Psychiatrie übernommen wird, ist das Vorliegen einer Indikation für die Behandlung einer psychischen Störung unter Berücksichtigung aller Dimensionen des bio-psycho-sozialen Modells. Ist die Behandlung etabliert, abgeschlossen oder nicht umsetzbar, sollte die Fallverantwortung für die Behebung sozialer Problembereiche einer geeigneten Stelle außerhalb der Psychiatrie zugewiesen werden. Andernfalls sind weitere Zunahmen von Dauerhospitalisierungen und anderen ressourcenverschleißenden, absehbar wirkungslosen Interventionen zu erwarten.


Indikationsgeleiteter Zugang zum psychiatrischen Versorgungssystem

Das Soziale in der Psychiatrie benötigt daher ein aktualisiertes Framing, das auch gesamtgesellschaftlich klar kommuniziert werden muss. Dies beinhaltet im Anschluss an die Errungenschaften der psychiatrischen Reformen der letzten fünfzig Jahre ein Bekenntnis, dass die Psychiatrie selbstverständlich die soziale Dimension psychischer Erkrankungen als zentralen und inhärenten Bestandteil betrachtet und bei der Behandlung und Begleitung der betroffenen Personen einschließt. Es bedeutet aber nicht, dass die Psychiatrie für die Behebung von sozialen Problemlagen und sozial unerwünschten Verhaltens jeglicher Art zuständig ist. Die Differenzierung erfolgt anhand eines fachlich fundierten Assessments inklusive medizinisch-psychiatrischer und psychosozial-funktioneller Diagnostik. Hierdurch sollte ein sorgfältigerer Ressourceneinsatz und eine effektive professionsadäquate Handlungsfähigkeit des psychiatrischen Versorgungssystems ermöglicht werden. Die weitere Verfolgung der unverändert zeitgemäßen gesundheitspolitischen Versorgungsparadigmen «ambulant vor stationär» und «integrierte Versorgung» sowie die Förderung von persönlicher Recovery, gesellschaftlicher Teilhabe und Inklusion, Schutz der Menschenrechte und nicht zuletzt ein kosteneffizienter Einsatz von finanziellen Mitteln aus der Krankenversicherung können mit diesem Ansatz gefördert und gegenläufigen Trends wie Reinstitutionalisierung, Ausweitung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, Zunahme des Fachkräftemangels und Kostenwachstum des Gesundheitssystems entgegengewirkt werden.

Zum Schutz psychiatrischer Behandlungskapazitäten ist am anderen Ende des Spektrums psychischer Erkrankungen eine ebenso sorgfältige Indikationsstellung und Ressourcenallokation für die psychiatrische Behandlung leichter Störungen notwendig. Hierdurch sollte ein koordinierter und konzeptuell auch für die Gesellschaft nachvollziehbarer transparenter Umgang mit der aktuell stark steigenden Inanspruchnahme gefunden werden. Ein zentrales Element ist ein schweregradgestuftes Modell für die Behandlung psychischer Erkrankungen, das klaren Kriterien bei der Diagnostik und Bedarfserhebung folgt und für alle Stufen einen Basisanspruch definiert [5]. Hierbei sollten für leichtere Störungsbilder ressourceneffiziente Angebote unter Einschluss von digitalen Elementen und niederschwelligen Beratungs- und Unterstützungsstellen vorgehalten werden, um die psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungskapazitäten für Menschen mit mittelgradigen und schweren Erkrankungen verfügbar zu halten [6]. Eine Binnendifferenzierung der Aufgaben, die von Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgern übernommen werden, ist dafür ebenso wesentlich wie die Definition eines Basisangebots für jede Stufe. Im günstigsten Fall sollte die Bedarfserhebung und Ressourcenallokation über eine zentralisierte Assessment- und Triagestelle für eine Region erfolgen. Dies ist mit der aktuell dominanten marktwirtschaftlichen Logik, die das psychiatrische Versorgungssystem mehrheitlich steuert, jedoch nicht gut vereinbar. An dieser Stelle ist die soziale Dimension der Psychiatrie wieder von Relevanz, um das Argument stark zu machen, dass die psychiatrischen Behandlungskapazitäten in erster Linien für Menschen mit psychischen Störungen und damit verbundenen Auswirkungen auf soziale Lebensbereiche und nicht für Menschen mit subklinischen Befindlichkeitsstörungen oder leichten Belastungen vorgesehen sind, die alleine durch Ansätze der Gesundheitsförderung, Beratung, Coaching und andere Maßnahmen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit verbessert werden können.

Für die Mehrheit der Menschen mit psychischen Erkrankungen und damit verbundenen Beeinträchtigungen im sozialen Kontext stehen heute qualitativ hochstehende und wirksame Angebote zur Verfügung. Für die wenigen Menschen mit komplexen und anspruchsvollen Problemkonstellationen können häufig keine geeigneten Angebote aus dem psychiatrisch-psychosozialen Behandlungsspektrum verfügbar gemacht werden und es bestehen zudem Exklusionstendenzen aus benachbarten gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie der Eingliederungshilfe, den Sicherheits- und Ordnungsinstanzen, der somatischen Medizin und insbesondere auch aus Nachbarschaft und Gemeinde. Die macht es erforderlich, dass für diese Menschen individuelle Lösungen kreiert werden, falls geeignet auch unter Federführung der Psychiatrie, aber mit verbindlicher Kooperation durch andere involvierte Instanzen und mit Zusprache des vielfach erforderlichen erhöhten Kostenaufwandes für die Realisierung. Gleichzeitig ist eine dezidierte argumentativ nachvollziehbare Positionierung der Psychiatrie nötig, um Aufträge abzuweisen, die nicht unmittelbar mit psychischen Erkrankungen in Zusammenhang stehen und deren Lösung im sozialen Umfeld liegt. Dies betrifft Situationen an beiden Enden des Spektrums behandlungsbedürftiger und -fähiger psychischer Störungen.



Matthias Jäger

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Prof. Dr. med. Matthias Jäger
Direktor Erwachsenenpsychiatrie, Psychiatrie Baselland, Bienentalstrasse 7
4410 Liestal, Schweiz

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Article published online:
11 July 2025

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