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DOI: 10.1055/a-2558-3631
Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde
Vor Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, liegt ein Themenheft der „Nervenheilkunde“ – die zugleich das Organ der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde ist. Aus dem Kreis der Mitglieder und weiterer Autorinnen und Autoren entstand dieses Heft mit einem inhaltlichen Schwerpunkt zur Geschichte der Psychiatrie und angrenzender Gebiete in den Jahren des Nationalsozialismus. Die darin versammelten Artikel präsentieren ein äußerst breites und interessantes Spektrum an Forschungsergebnisse zu historisch wenig beachteten Spezialgebieten der Nervenheilkunde: der Epileptologie, den sogenannten „Zwischenanstalten“, den Tuberlosekranken als Opfer der NS-„Euthanasie“, der Verbindung von Erbgesundheits- und Umvolkungspolitik. Ein weiterer Beitrag fokussiert die Gruppe der ärztlichen Assistentinnen als Betroffene von Flucht und Vertreibung und ein abschließender Beitrag das Schicksal jüdischer Deutscher unter den Patientinnen und Patienten der Psychiatrie während des Nationalsozialismus.
Timo Baumann, Axel Karenberg und Heiner Fangerau widmen sich in dem Beitrag „Bonner Ärzte und Menschen mit Epilepsie im Nationalsozialismus“ einem – wenig bekannt – zentralen medizinischen Forschungsthema der Neurologie und Psychiatrie im Nationalsozialismus: der Epilepsie. Welche Epilepsieformen galten als vererbbar, und welche Patientinnen und Patienten waren nach dem Erbgesundheitsgesetz für eine (Zwangs-) Sterilisation zu melden? Exemplarisch wird der Umgang mit Epilepsie-Patientinnen und Patienten an der Heil- und Pflegeanstalt Bonn, einem renommierten Forschungs- und Versorgungszentrum, analysiert. Die Autoren stützen sich auf die Auswertung von Krankenakten der Einrichtung sowie von Briefen der Behandelten und ihrer Angehörigen. Sie zeigen eindrücklich, wie sich der Umgang von Ärztinnen und Ärzten in Bezug auf Menschen mit Epilepsie im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre wandelte und wie die Patientinnen und ihre Angehörigen darauf reagierten.
Der erste systematische Massenmord der Nationalsozialisten traf die Patientinnen und Patienten der Psychiatrie. In einer ersten Phase – heute als „Aktion T4“ bekannt – wurden ohne gesetzliche Grundlage in einem zentral von Berlin aus gesteuerten Prozess mehr als 70 000 Menschen ‚begutachtet‘, selektiert, in 6, über das Reich verteilte Mordanstalten ,verlegt‘ und dort umgehend in Gaskammern umgebracht. Eine wichtige Rolle spielten dabei die sogenannten Zwischenanstalten, für die in manchen Reichsteilen auch die Bezeichnung Durchgangsanstalt üblich war. Steffen Dörres Beitrag zeigt, wie nach aktuellem Stand über 20 der damals im Großdeutschen Reich für die Versorgung von psychisch kranken und/oder geistig behinderten Menschen verantwortlichen stationären Einrichtungen zu Zwischenanstalten bestimmt wurden. Weil es sich hierbei mehrheitlich um Heil- und Pflegeanstalten handelte, die nicht nur der Mitarbeit am Massenmord dienten, sondern die weiterhin ,normale‘ Versorgungseinrichtungen blieben, zeigt uns die Beschäftigung mit den Zwischenanstalten eindrücklich, dass für einen umfassenden Blick auf die NS-Psychiatriepolitik sämtliche Patientinnen und Patienten – und damit die Dialektik von Heilen und Vernichten – in den Blick genommen werden müssen. Sichtbar wird dann auch, dass diese Einrichtungen vor, während und nach der „Aktion T4“ überproportional eine Reihe weitere Aufgaben und Funktionen im Unrechtsregime des Nationalsozialismus übernahmen. Die Aufarbeitung der Geschichte dieser Einrichtungen beinhaltet wiederum die Möglichkeit, aus der Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Einrichtung heraus, eine medizinethische Sensibilität für aktuelle Gefahren in der Krankenversorgung zu entwickeln.
Mit den NS-Krankenmorden befasst sich auch der nachfolgende Artikel. Uns ist die sogenannte „Euthanasie“ bisher als Patientenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen bekannt. Doch fielen, wie hier zu erfahren ist, auch somatisch kranke Schutzbefohlene, etwa an Tuberkulose erkrankte Menschen, dem Patientenmord im Nationalsozialismus zum Opfer. Der Beitrag von Franziska Schmidt beleuchtet am Beispiel des hessischen Hadamar, wie durch die Ermordung von tuberkulosekranken Zivilarbeitenden eine bis dato einzigartige Ausweitung der bisher bekannten „Euthanasie“-Opfergruppe erfolgte. Allem voran „rassische Minderwertigkeit“ und „Arbeitsunfähigkeit“ durch körperliche Erkrankungen waren die Gründe für die Ermordung mehrerer Hundert polnischer und sowjetischer Zivilarbeitender. An kaum einer anderen Gruppe, so die Autorin, wird das tödliche Potenzial der utilitaristischen, rassenhygienischen Gesundheitspolitik des NS-Regimes so deutlich, wie bei den tuberkulosekranken ‚Fremdarbeitern‘.
„Heim ins Reich!“ Eine Floskel, ein Imperativ, eine bis heute weithin bekannte Formel, die uns an die Außen- und Bevölkerungspolitik des nationalsozialistischen Regimes vor dem Kriegsbeginn erinnert. An allen geographischen Rändern des Reichs wurden deutschsprechende, oder sich zumindest als Deutsche definierende Bevölkerungsgruppen ermuntert, zum Teil auch gedrängt, sich per Umzug dem „Tausendjährigen Reich“ einzugliedern. Dies hatte auch Konsequenzen für die dort stationär untergebrachten Menschen mit psychischen Erkrankungen. Falschdarstellung und Betrug waren, so zeigen Kirsten Düsberg, Katharina Witner und Thomas Müller in ihrem Beitrag, jedoch auch Teil dieses Bereichs der NS-Politik: Nicht nur wurden Menschen und Schutzbefohlene zum Teil ohne Wissen ihrer Angehörigen und ohne ihre persönliche Zustimmung einbezogen – etwa seitens des faschistischen Italien –, sondern es wurden auch nicht deutschsprachige Patientinnen und Patienten ins Ausland, und unter Verlust ihrer bisherigen Staatsangehörigkeit zwangsverschickt. Der Beitrag analysiert die Geschichte der aus dem Kanaltal (Valcanale) stammenden Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Udine. Entgegen der zeitgenössischen Darstellung nahmen diese nicht einfach eine „Option“ wahr, sondern wurden deportiert.
Im Kreis der Ärztinnen und Ärzte im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre finden sich nicht allein Täterinnen und Täter, sondern auch Opfer der politischen Entwicklung. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und die von ihnen auf den Weg gebrachte Gesetzgebung schloss etwa jüdische Ärztinnen und Ärzte zunehmend von der Berufsausübung aus und verfolgte die Betroffenen schließ persönlich. In der Folge kam es zu Wellen von Emigration und Flucht: In ihnen verließen schätzungsweiße 600 Ärztinnen und Ärzte aus den Fachgebieten Neurologie und Psychiatrie – ein Drittel der Ausübenden dieser Fachgruppe – ihre bisherige Heimat. Neben Namen renommierter Ärzte wie Gustav Aschaffenburg, Karl Birnbaum, Willy Maier-Groß, Erwin Strauss und Kurt Goldstein, waren viele, auch junge, (noch) nicht etablierte Kolleginnen und Kollegen betroffen. Christian Prüter-Schwarte stellt eine von ihnen vor: die Neurologin, Psychiaterin und Psychoanalytikerin Herta Seidemann (1900–1984). Er beschreibt die Herausforderung von Flucht und Emigration im Allgemeinen, und Seidemanns Problembewältigungsstrategien im Besonderen. Dabei geht er auch auf die Rolle Karl Bonhoeffers ein.
Thomas Müller und Bernd Reichelt richten im Rahmen der Untersuchung der württembergischen Psychiatrie während des Nationalsozialismus in ihrer Forschung das Augenmerk auf jüdische Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie, die als „doppelt stigmatisiert“ gelten dürfen: Sie waren psychisch krank und jüdisch. Im vorliegenden Beitrag knüpfen sie mittels eines ungewöhnlichen Fallbeispiels aus Württemberg an eine aktuelle gesellschaftliche wie wissenschaftliche Debatte an, in der der Antisemitismus des Nationalsozialismus, der in Holocaust beziehungsweise Shoah mündete, hinsichtlich seiner Einzigartigkeit und vor dem Hintergrund diverser kolonialer Genozide diskutiert wird.
Allen Beiträgen ist gemein, dass sie aus aktuell laufenden Forschungsprojekten berichten und Ergebnisse aus kaum bis gar nicht bearbeiteten Feldern der Geschichte der Nervenheilkunde präsentieren. Die Ergebnisse überraschen und sind im Einzelnen auch für historisch Vorgebildete zum Teil recht unerwartet. Offenbar sind unser Verständnis und Wissen dieses Teils der Geschichte der Medizin – allen stereotyp wiederholten, anderslautenden Meinungen zum Trotz – noch immer unvollständig. Es gilt, sich transnationalen Themen, vergessenen Opfergruppe, bislang unterbelichteten Akteuren und Institutionen zuzuwenden. In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern eine instruktive Lektüre und Wissenszugewinn.
Thomas Müller, Ulm/Ravensburg, Steffen Dörre, Berlin, und Christian Prüter-Schwarte, Köln/Witten
Publication History
Article published online:
16 July 2025
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