CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2025; 87(04): 282-290
DOI: 10.1055/a-2541-9695
Originalarbeit

Definition Zusammengefasster Krankheitsgruppen für ein Klassifikationssystem zur Messung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs – PopGroup

Definition of consolidated disease groups for a population-based system to classify morbidity-related healthcare needs: PopGroup
Chrissa Tsatsaronis
1   Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Germany
,
Maria Klemt
1   Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Germany
,
Karen Kinder
1   Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Germany
,
Benedikt Langenberger
1   Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Germany
,
Anna Braun
2   Abteilung Gesundheitsberichterstattung und Biometrie, aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen, Göttingen, Germany
,
Thomas G. Grobe
2   Abteilung Gesundheitsberichterstattung und Biometrie, aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen, Göttingen, Germany
,
Reinhard Busse
1   Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Germany
,
Wilm Quentin
1   Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, Berlin, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Ziel In den letzten Jahren wurde verstärkt eine Morbiditätsorientierung in der Versorgungsstrukturplanung gefordert. Für die regional differenzierte Erhebung des Versorgungsbedarfs werden bevölkerungsbezogene Klassifikationssysteme benötigt, wie sie in verschiedenen Ländern bereits existieren. Das PopGroup Projekt hat zum Ziel, ein solches Klassifikationssystem (PopGrouper) für den deutschen Versorgungskontext zu entwickeln und verschiedene Anwendungen zu erproben. Der PopGrouper soll jede Person genau einer PopGroup zuordnen, die durch bestimmte klinische Eigenschaften und einen bestimmten Versorgungsbedarf charakterisiert ist. Das Ziel des ersten Schrittes der PopGrouper Entwicklung war es, als Basis für die Bildung von PopGroups, Diagnosen in medizinisch sinnvollen Gruppen zusammenzufassen – in sogenannten Zusammengefassten Krankheitsgruppen (ZKGs). Dieser Artikel befasst sich mit der Bildung und Validierung der ZKGs sowie mit der Definition eines Krankheitsschweregrads zu den entstandenen ZKGs.

Methodik Die ZKGs wurden unter Einbeziehung medizinischer Expertise sowie Analysen der Routinedaten der BARMER-Krankenkasse gebildet. Dabei wurden bereits zuvor definierte Diagnosegruppen verwendet – die DxGs des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs. Zunächst wurden übergeordnete Makro-Krankheitsgruppen (MKGs) gebildet. Innerhalb der MKGs wurden die DxGs anhand definierter Kriterien zu ZKGs gruppiert. Die gebildeten ZKGs wurden durch Expert*innen wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften validiert. Abschließend wurde ein Krankheitsschweregrad anhand von drei Dimensionen (Mortalität, Kosten, Inanspruchnahme) sowie Schweregrad-Kategorien von „sehr schwer“ bis „sehr leicht“ definiert, um die ZKGs zu hierarchisieren.

Ergebnisse Insgesamt wurden 32 MKGs und 433 ZKGs definiert und validiert. Jede ZKG erhielt einen Schweregrad-Score.

Schlussfolgerung Die ZKGs und MKGs bilden einen wichtigen ersten Schritt der PopGrouper-Entwicklung. Auf dieser Grundlage konnten anschließend PopGroups gebildet werden, die diverse ZKGs und MKGs sowie Kombinationen berücksichtigen. Die Einteilung von Diagnosen in eine kleinere Anzahl medizinisch sinnvoller Gruppen bietet auch außerhalb des Projekts Möglichkeiten für die Versorgungsforschung, für die Analyse von Krankheiten sowie für die Identifikation von Versichertengruppen mit ähnlichen Eigenschaften.


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Abstract

Objective In recent years there has been an increased demand for a morbidity-oriented approach in the planning of healthcare facilities in Germany. Population-based classification systems, which already exist in various countries, are crucial for assessing regional healthcare needs. The PopGroup project aims to develop such a classification system (PopGrouper) for the German healthcare system and to test various applications. The PopGrouper assigns each individual to exactly one PopGroup based on clinical characteristics and healthcare needs. The initial phase of the PopGrouper development focused on grouping diagnoses into medically meaningful Consolidated Disease Groups (CDGs) to serve as the foundation for forming PopGroups. This article describes the formation and validation of CDGs, as well as the definition of a disease severity level to hierarchically rank the CDGs.

Methods CDGs were formed using both medical expertise and analyses of claims data from the BARMER sickness fund. Pre-existing diagnosis groups (DxGs) defined for the German morbidity-based risk structure compensation scheme were used as the starting point. Initially, overarching Major Disease Categories (MDCs) were formed. Within MDCs, DxGs were grouped into CDGs based on predefined criteria. CDGs were validated by experts from scientific medical societies. Finally, a composite disease severity score was calculated based on three dimensions (mortality, costs, utilization) and severity levels from “very severe” to “very minor” were defined to classify CDGs.

Results A total of 32 MDCs and 433 CDGs were defined and validated. Each CDG received a severity score. Based on this foundation, in the subsequent project phase, PopGroups were formed that took into consideration various diseases and combinations of diseases.

Conclusion CDGs and MDCs represent important initial steps in the PopGrouper development. The aggregation of diagnoses into a smaller number of medically meaningful groups also offers opportunities beyond the project, for instance for healthcare research, for the analysis of diseases, and for the identification of patient groups with similar characteristics.


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Einleitung

In den letzten Jahren haben mehrere Gutachten die Notwendigkeit von Reformen in der Versorgungsplanung betont und eine stärkere Morbiditätsorientierung gefordert [1] [2] [3]. Zur Verbesserung der Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung ist die Kenntnis der Verteilung des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs entscheidend. In Deutschland fehlen bisher geeignete Analyseinstrumente dafür. International wird die Morbiditätslast häufig mithilfe bevölkerungsbezogener Klassifikationssystemen ermittelt, wie den Adjusted Clinical Groups (ACGs) [4], den Clinical Risk Groups (CRGs) [5] und dem POP Grouper des Canadian Institute for Health Information (CIHI) [6]. Bevölkerungsbezogene Klassifikationssysteme werden international häufig „Grouper“ genannt, weil sie eine Population in diskrete Gruppen aufteilen. Diese Grouper werden beispielswiese verwendet, um die Krankheitslast und Multimorbidität der Bevölkerung zu beschreiben, Trends im Zeitverlauf zu analysieren, Bevölkerungen über verschiedene Regionen hinweg zu vergleichen sowie Gesundheitskosten und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu analysieren oder vorherzusagen.

Das vom Innovationsfonds geförderte PopGroup Projekt hat zum Ziel, ein bevölkerungsbezogenes Klassifikationssystem (PopGrouper) für den deutschen Versorgungskontext zu entwickeln und folgende Anwendungsmöglichkeiten zu erproben [7]:

  1. Versorgungsstrukturplanung: Überprüfung, ob der PopGrouper zur Unterstützung einer morbiditätsorientierten, sektorenübergreifenden Versorgungsstrukturplanung geeignet ist, um mithilfe der Gruppen den regionalen morbiditätsbedingten Versorgungsbedarf abzuleiten.

  2. Regionale Vergleiche: Analyse, inwiefern der PopGrouper zur Adjustierung der Morbiditätslast in regionalen Vergleichsanalysen genutzt werden kann, um Rückschlüsse auf regionale Qualitäts- und Effizienzunterschiede vornehmen zu können.

  3. Evaluation neuer Versorgungsformen: Erforschung der Fähigkeit des PopGroupers, gesundheitliche Veränderungen als Folge von Gesundheitsreformen und neuen Versorgungsformen sektorenübergreifend zu messen.

  4. Case Management: Prüfung, ob der PopGrouper die Identifikation von Versicherten ermöglicht, die von einem individuellen Case Management profitieren würden.

Der PopGrouper soll jede Person genau einer Gruppe – der sogenannten PopGroup – zuordnen (Zellenmodell). Eine PopGroup umfasst Personen mit bestimmten Eigenschaften (beispielsweise Diagnosen, Kennwerte zur Multimorbidität, Alter). Sie soll medizinisch sinnvoll und hinsichtlich des Versorgungsbedarfs der zugeordneten Versicherten möglichst homogen sein.

Damit unterscheidet sich dieser Ansatz grundlegend vom Konzept des morbiditätsbezogenen Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA), wo sich, vereinfacht ausgedrückt, der „Bedarf“ im Sinne von erwarteten Gesundheitsausgaben aus einer Grundzuweisung aufgrund von Alter und Geschlecht sowie aus erkrankungsspezifischen Zuschlägen für bestimmte Diagnosen zusammensetzt (Zuschlagsmodell) [8]. Ein Zellenmodell bietet gegenüber Zuschlagsmodellen den Vorteil, dass das Zusammenwirken unterschiedlicher Merkmale und somit auch Interaktionseffekte, wie beispielsweise nicht-lineare Effekte von Multimorbidität, abgebildet werden können. Zudem können den Gruppen unterschiedlich definierte erwartete Bedarfe zugeordnet werden, aus denen sich auch regional erwartete Bedarfe ableiten lassen.

Bei den PopGroups bilden Diagnosen die Basis für die Morbiditätsbestimmung; diese sollen aus den in Routinedaten bei Krankenkassen dokumentierten Diagnosen entnommen werden. Zur PopGroup-Bildung wurden im hier beschriebenen Projekt zunächst Erkrankungen bzw. Diagnosen auf unterschiedlichen Ebenen gruppiert und hinsichtlich ihrer Schwere kategorisiert. Die Reduktion der Anzahl von einzelnen Diagnosen durch die Bildung Zusammengefasster Krankheitsgruppen (ZKGs) sollte eine handhabbare Anzahl von „Morbiditätsbausteinen“ schaffen, die dann einzeln oder in Kombination zur Bestimmung der jeweiligen Krankheitslast und damit des Versorgungsbedarfs herangezogen werden können. Jede ZKG soll Diagnosen in medizinisch sinnvollen Gruppen zusammenfassen, wobei das Krankheitsbild und der Versorgungsbedarf einer Krankheit bzw. Krankheitsgruppe, unabhängig von Medikation, Ursache und Alter, im Mittelpunkt stehen.

Der vorliegende Artikel präsentiert ein Teilergebnis des PopGroup Projekts und befasst sich mit der Bildung und medizinisch-fachlichen Konsentierung der ZKGs sowie von übergeordneten Makro-Krankheitsgruppen (MKGs) und der Definition eines Krankheitsschweregrads zu den entstandenen Krankheitsgruppen. Beispielhaft werden dabei einige ZKGs unterschiedlicher Schweregrade mit relevanten Indikatoren für die Morbiditätslast (stationäre und ambulante Inanspruchnahme, Kosten, Mortalität) dargestellt. ZKGs mit zugeordneten Schweregraden sowie MKGs bilden eine wesentliche methodische Grundlage der eigentlichen PopGroup-Zuordnung bzw. der dafür entwickelten Regeln, die aufgrund ihrer Komplexität in einem gesonderten Beitrag dargestellt wird.


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Methodik

Die gesamte PopGrouper-Entwicklung – und somit auch der erste Schritt der ZKG-Bildung – basierte auf sektorenübergreifenden Leistungs- und Versichertendaten der BARMER Krankenkasse. Zunächst wurden Daten zu 9 419 416 Versicherten aus dem Jahr 2019 herangezogen; später wurden die ZKGs mit Daten zu 8 838 141 Versicherten aus dem Jahr 2022 aktualisiert. Selektiert wurden alle Personen mit plausiblem Alter (< 125 Jahre) und konsistenten Angaben zum Geschlecht, die im Datenjahr mindestens einen Tag bei der BARMER versichert waren. Der Datenzugriff erfolgte über das von der BARMER zur Verfügung gestellte Wissenschafts-Data-Warehouse (W-DWH) [9].

Zur Erleichterung inhaltlicher Diskussionen und Entscheidungen wurde bei der ZKG-Bildung auf bereits zuvor definierte Diagnosegruppen, die sogenannten DxGs des Morbi-RSA, zurückgegriffen [10]. Diese fassen die rund 14 500 Diagnosecodes der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM) [11] zu 1073 bzw. 1235 DxGs zusammen. Die DxGs wurden gemäß den vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) veröffentlichten Festlegungen für das Ausgleichsjahr 2021 bzw. 2024 [10] nachgebildet und auf die BARMER Versichertenpopulation im Jahr 2019 bzw. 2022 übertragen.

Bildung der Makro-Krankheitsgruppen (MKGs)

Als Zwischenschritt bei der Zuordnung von DxGs zu ZKGs wurden, angelehnt an die Hierarchien des Morbi-RSA [10] sowie die Major Diagnostic Categories (MDCs) des CRG-Systems [5] und des German-Diagnosis Related Groups-Systems (G-DRG-System) [12], übergeordnete MKGs definiert. Die MKG-Bildung orientierte sich an den betroffenen Organsystemen sowie an den an der Behandlung der Krankheiten beteiligten medizinischen Fachdisziplinen. Alle DxGs wurden der jeweils zutreffenden MKG zugeordnet. Hierfür wurde größtenteils die Zuordnung von DxGs zu Hierarchien vom Morbi-RSA übernommen. [Abb. 1] zeigt die einzelnen Entwicklungsschritte und den Zusammenhang zwischen ICDs, DxGs, MKGs, ZKGs und PopGroups.

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Abb. 1 PopGrouper Entwicklung Eine Person kann mehrere ICD-Codes und somit auch mehrere DxGs, MKGs und ZKGs aufweisen, aber wird genau einer Basis-PopGroup, PopGroup und einem PGK zugeordnet. Die (Basis-)PopGroups und PGKs sind nicht Thema dieses Artikels. IAN: Inanspruchnahme; PGK: PopGroup Kostenstratum

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Bildung der Zusammengefassten Krankheitsgruppen (ZKGs)

Schrittweise für jede MKG wurden die DxGs zunächst anhand folgender Zuordnungskriterien von zwei Personen unabhängig zu vorläufigen ZKGs gruppiert:

  1. Alter: DxGs, die sich nur durch ein Alterskriterium unterscheiden, wurden zusammengefasst. Begründung: Eine Krankheit liegt zunächst unabhängig vom Alter vor und das Alter soll erst später als Differenzierungsmerkmal für die Bildung von PopGroups dienen. Beispiel: „Atresie der A. pulmonalis Alter<18 Jahre“ und „Atresie der A. pulmonalis Alter>17 Jahre“

  2. Medikation: DxGs, die sich nur durch ein Medikamentenkriterium unterscheiden, wurden zusammengefasst. Begründung: Der Einsatz von Medikamenten als Differenzierungsmerkmal für den Schweregrad soll möglicherweise erst später für die Bildung von PopGroups relevant sein. Beispiel: „COPD oder Emphysem ohne Dauermedikation“ und „COPD oder Emphysem mit Dauermedikation“

  3. Wirkung > Ursache: Krankheiten, die sich in der Ursache und nicht in der Symptomatik unterscheiden, wurden zusammengefasst. Begründung: Die Krankheitsursache ist von untergeordneter Bedeutung, wenn Krankheiten eine gleiche oder ähnliche Symptomatik hervorrufen, da sie mit einem ähnlichen Versorgungsaufwand einhergehen. Beispiel: „Akute respiratorische Insuffizienz“ und „Akute respiratorische Insuffizienz nach medizinischen Maßnahmen“

  4. Bezeichnung: Gleiche oder ähnliche Krankheiten mit Zusatzbezeichnungen wie „n.bez.“ (näher bezeichnet), „n.n.bez.“ (nicht näher bezeichnet) oder „sonstige“ wurden zusammengefasst. Beispiel: „N.n.bez. innere Verletzungen“ und „Innere Verletzungen“

  5. Geschlecht: DxGs, die sich nur durch das Geschlecht unterscheiden, wurden zusammengefasst. Begründung: Eine Erkrankung liegt zunächst unabhängig vom Geschlecht vor und das Geschlecht soll erst später als Differenzierungsmerkmal für die Bildung von PopGroups dienen. Beispiel: „Hämophilie: Frauen mit Bedarfsmedikation“ und „Hämophilie: Männer mit Bedarfsmedikation“

  6. Lokalisation: Neubildungen mit ähnlicher Lokalisation bzw. gleichem Organsystem wurden zusammengefasst. Beispiel: „Bösartige Neubildungen Pharynx“ und „Bösartige Neubildungen Kehlkopf“

Die vorläufigen, durch Zuordnungskriterien gebildeten ZKGs wurden anschließend in einem internen Validierungsschritt im Rahmen einer Reihe von Projektworkshops geprüft und angepasst. Dafür wurden sowohl allgemeine medizinische und ökonomische Informationen (siehe 1. und 2. in folgender Liste) als auch auf Basis von BARMER-Daten berechnete Parameter (3. bis 8.) genutzt:

  1. Ätiologie und Krankheitsverlauf, wenn bestimmbar

  2. Morbiditätsorientierter Zuschlag (HMG-Zuschlag) im Morbi-RSA

  3. Prävalenz

  4. standardisierte Mortalitätsrate (SMR)

  5. durchschnittliche Anzahl hausärztlicher und fachärztlicher Abrechnungsfälle

  6. durchschnittliche Anzahl stationärer Fälle

  7. durchschnittliche Anzahl stationärer Behandlungstage

  8. durchschnittliche Kosten (stationäre und ambulante Kosten, Arzneimittelkosten, Kosten für Heil- und Hilfsmittel, Kosten für Hebammenleistungen, Gesamtkosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV))

Für die standardisierte Mortalitätsrate (4.) wurden die DxG-spezifischen beobachteten und die nach der Alters- und Geschlechtsstruktur erwarteten Todesfälle zueinander ins Verhältnis gesetzt. Für die Parameter in 5. bis 8. wurde pro DxG das arithmetische Mittel des jeweiligen Merkmals bezogen auf alle Personen mit der entsprechenden DxG berechnet (gewichtet nach Versicherungstagen und annualisiert).

Im Anschluss wurden die intern validierten ZKGs durch medizinische Expert*innen validiert (externe Validierung). Die Rekrutierung von Expert*innen wurde durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. unterstützt [13]. Entsprechend ihrer Fachdisziplinen wurden die Expert*innen einzelnen oder mehreren relevanten MKGs zugeordnet, sodass einzelne MKGs von Personen aus unterschiedlichen Fachgesellschaften validiert wurden.

Die externe Validierung erfolgte in zwei Schritten. Zunächst erfolgten schriftliche Einzelbewertungen mit standardisierten Validierungsunterlagen. Dabei ging es primär um die Frage, ob die gebildeten Gruppen medizinisch sinnvoll erschienen und/oder alternative Gruppen möglich wären. Im zweiten Schritt erfolgten MKG-weise Gruppendiskussionen mit den jeweils entsprechenden Expert*innen, insbesondere für ZKGs, bei denen Widersprüche oder unterschiedliche Meinungen vorlagen. Als zusätzliche Informationen und Diskussionsgrundlage wurden den Expert*innen für alle DxGs Kennzahlen bereitgestellt.


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Überarbeitung für Datenjahr 2022

Für die Übertragung der ZKGs auf das neue Datenjahr 2022 wurden die DxGs des Ausgleichsjahres 2021 mit den DxGs des Ausgleichsjahres 2024 verglichen. Dabei wurden Änderungen an den DxGs identifiziert, die sich auf die ZKGs auswirkten. Diese Fälle wurden in einer Reihe projektinterner Workshops besprochen und die ZKGs wurden entsprechend angepasst. Am Ende der Überarbeitung wurden die ZKGs finalisiert und benannt.


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Hierarchisierung der ZKGs nach Schweregrad

Um unterschiedliche Erkrankungen auch diagnoseübergreifend hinsichtlich ihrer Bedeutung kategorisieren zu können, wurden den ZKGs Schweregrade zugewiesen. Hierzu wurde für jede ZKG ein Schweregrad-Score anhand von drei Dimensionen definiert: 1) einer medizinischen Dimension, gemessen an der standardisierten Mortalitätsrate, 2) einer ökonomischen Dimension, gemessen an den durchschnittlichen GKV-Gesamtkosten, sowie 3) einer Dimension für die Inanspruchnahme (als Proxy für den Versorgungsbedarf), gemessen an den durchschnittlichen ambulanten Behandlungsfällen und stationären Behandlungstagen (s. [Abb. 2]).

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Abb. 2 Drei Dimensionen des Schweregrads.

Die ZKG-spezifischen GKV-Gesamtkosten, ambulanten Behandlungsfälle und stationären Behandlungstage (Dimensionen 2 und 3) wurden mittels gewichteter linearer Regressionsmodelle (gewichtete Methode der kleinsten Quadrate) geschätzt. Die ZKG-spezifische standardisierte Mortalitätsrate wurde, wie bei den DxGs, über das Verhältnis der beobachteten und der nach Alters- und Geschlechtsstruktur erwarteten Todesfälle berechnet.

Die drei Dimensionen wurden mittels z-Standardisierung transformiert (s. Formel 1) . Als Mittelwert und Standardabweichung wurden jeweils die gewichteten Werte bezogen auf alle Personen mit mindestens einer ZKG herangezogen. Aus den einzelnen standardisierten Scores wurde ein Gesamtscore für die Krankheitsschwere berechnet (s. Formel 2 ). Die drei Dimensionen sind in gleichen Teilen in die Formel eingegangen, weil der finale PopGrouper am Ende für verschiedene Anwendungen erprobt werden soll und die Dimensionen – medizinische Logik, ökonomische Logik und Versorgungslogik – gleichermaßen wichtig sind. Der Score für die Gesamtinanspruchnahme setzt sich aus der stationären und ambulanten Inanspruchnahme im Verhältnis 2:1 zusammen (s. Formel 3 ). Diese Gewichtung beruht auf der Annahme, dass Krankheiten schwerer wiegen, wenn eine stationäre Behandlung erforderlich ist.

x: zu standardisierender Wert

μ: Mittelwert

σ: Standardabweichung

zGesamt: Gesamtscore Krankheitsschwere

zSMR: z-score für standardisierte Mortalitätsrate (medizinische Dimension)

zKosten: z-score für GKV-Gesamtkosten (ökonomische Dimension)

zIAN: z-score für Gesamtinanspruchnahme (Versorgungs-Dimension)

zamb: z-score für ambulante Behandlungsfälle

zstat: z-score für stationäre Behandlungstage

Anschließend wurden alle ZKGs absteigend nach den zuvor ermittelten Schweregraden hierarchisiert und anhand von Quintilen in fünf gleich große Gruppen eingeteilt. Diese wurden mit den Schweregrad-Bezeichnungen „sehr schwer“, „schwer“, „moderat“, „leicht“ und „sehr leicht“ versehen.


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Ergebnisse

Die Festlegungen des BAS zum Ausgleichsjahr 2021 enthalten 1073 DxGs. Durch die jährlichen Anpassungen des Morbi-RSA umfassten die Festlegungen zum Ausgleichsjahr 2024 insgesamt 1235 DxGs, die für die spätere Aktualisierung der ZKGs verwendet wurden.

Bildung der Makro-Krankheitsgruppen (MKGs)

Insgesamt wurden 32 MKGs gebildet (s. [Tab. 1]). MKGs fassen Erkrankungen nach Organen (z. B. Erkrankungen der Lunge) oder Organsystemen (z. B. Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems) und/oder nach medizinischen Fachdisziplinen oder Schwerpunkten (z. B. Neubildungen) zusammen.

Tab. 1 Liste der Makro-Krankheitsgruppen (MKGs).

MKG

MKG-Bezeichnung

MKG

MKG-Bezeichnung

1

Infektionen

17

Gefäß- und Kreislaufsystemerkrankungen

2

Neubildungen

18

Erkrankungen der Lunge

3

Diabetes mellitus

19

Erkrankungen des Urogenitalsystems

4

Metabolische Erkrankungen

20

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett

5

Erkrankungen der Leber

21

Erkrankungen der Haut

6

Gastrointestinale Erkrankungen

22

Verbrennungen

7

Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems

23

Verletzungen

8

Erkrankungen des Blutes

24

Komplikationen

9

Kognitive Erkrankungen

25

Transplantationen

10

Alkohol- und Drogenmissbrauch

26

Erkrankungen des Auges

11

Psychische Erkrankungen

27

Erkrankungen bei Neugeborenen

12

Entwicklungsstörungen

28

Chronischer Schmerz

13

Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule

29

Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen

14

Neurologische Erkrankungen

30

Ernährungsbedingte Erkrankungen und Vergiftungen

15

Erkrankungen des Herzens

31

Gynäkologische und reproduktive Erkrankungen

16

Zerebrovaskuläre Erkrankungen

32

Andrologische und reproduktive Erkrankungen


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Bildung der Zusammengefassten Krankheitsgruppen (ZKGs)

Mit der Anwendung der Zuordnungskriterien wurden 556 vorläufige ZKGs definiert. Nach der internen Validierung reduzierte sich die Anzahl der vorläufigen ZKGs auf 336. Online-Anhang A1 zeigt die Anzahl der ZKGs je MKG nach jedem Entwicklungsschritt.

Für die externe Validierung wurden 52 wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaften kontaktiert. An der schriftlichen Validierung nahmen 41 Expert*innen aus 25 Fachgesellschaften teil. Davon nahmen 30 Expert*innen aus 22 Fachgesellschaften auch an den anschließenden Gesprächen teil. In den Online-Anhängen A2 und A3 sind die teilnehmenden Fachgesellschaften und Expert*innen aufgeführt. Für 6 MKGs fanden keine Gespräche statt. Für 3 dieser MKGs konnte nach der schriftlichen Validierung ein Konsens erreicht werden, für 2 MKGs wurden keine schriftlichen Validierungen eingereicht und für eine MKG gab es schriftliche Validierungen, aber die Teilnahme an den anschließenden Gesprächen wurde abgesagt. Am Ende der externen Validierung waren 396 ZKGs definiert.


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Überarbeitung für Datenjahr 2022

Nach der Einarbeitung der aktualisierten und neu definierten DxGs waren 433 ZKGs definiert. Online-Anhang A4 zeigt die finale Zuordnung aller DxGs des Ausgleichsjahres 2024 zu ZKGs.


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Sonderfall Neubildungen

Erste Analysen zeigten, dass über 700 000 Personen ZKGs für bösartige Neubildungen aufwiesen. Diese Zahl liegt um ein Vielfaches über der bekannten Inzidenz von bösartigen Neubildungen in der Bevölkerung von rund 600/100 000 [14] (entsprechend etwa 53 000 Personen in der Studienpopulation im Jahr 2022). Dies legt nahe, dass Diagnosen von Neubildungen nicht nur in akuten Behandlungsfällen, sondern auch über Jahre dokumentiert werden. Daher wurden 28 zusätzliche ZKGs definiert, um Neubildungen in einem aktiven Behandlungsstadium zu beschreiben (und von den „nicht aktiv behandelten“ abzugrenzen), wodurch insgesamt 433 ZKGs gebildet wurden.

Eine Neubildung wurde als aktiv behandelt definiert, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt war: (1) die entsprechende Neubildung war Hauptdiagnose einer stationären Krankenhausbehandlung im Beobachtungsjahr oder (2) einer der ICD-10-Diagnosecodes Z51.0, Z51.1, Z51.2 oder Z51.82, die auf eine Strahlen- oder Chemotherapie hinweisen, wurde im Beobachtungsjahr verwendet. [Tab. 2] vergleicht die durchschnittlichen GKV-Gesamtkosten und stationären Behandlungstage zwischen Personen mit aktiv behandelten und nicht aktiv behandelten Neubildungen – sowohl für alle Neubildungen als auch für ausgewählte Beispiele, bei denen die Unterschiede besonders auffällig sind. Es wurden knapp 140 000 Versicherte mit aktiv behandelten, bösartigen Neubildungen identifiziert (etwa 2,6-mal mehr als die oben genannten Neuerkrankungsfälle). Daraus folgt, dass bösartige Neubildungen im Durchschnitt über einen Zeitraum von 2,6 Jahren aktiv behandelt werden.

Tab. 2 Vergleich aktiv behandelter und nicht aktiv behandelter Neubildungen.

Anzahl Versicherte

Ø GKV-Gesamtkosten/ Versicherten

Ø stationäre Behandlungstage/ Versicherten

Gesamt (inkl. gutartiger Neubildungen & Neubildungen unklarer Dignität)

Aktiv behandelt

165 393

25 045 €

15,7

Nicht aktiv behandelt

1 211 810

5595 €

2,8

Bösartige Neubildungen*

Aktiv behandelt

Nicht aktiv behandelt

Akute Leukämie

Aktiv behandelt

1870

85 544 €

49,9

Nicht aktiv behandelt

2853

12 359 €

3,8

Multiples Myelom oder Plasmozytom

Aktiv behandelt

2918

76 050 €

30,2

Nicht aktiv behandelt

5592

27 366 €

5,8

Bösartige Neubildung des Gehirns, des Zentralnervensystems, der Hypophyse oder der Epiphyse

Aktiv behandelt

2286

43 296 €

24,8

Nicht aktiv behandelt

4637

8399 €

3,3

Bösartige Neubildung der Atemwege

Aktiv behandelt

14 133

45 053 €

25,2

Nicht aktiv behandelt

13 787

16 914 €

5,2

Auswertungen basierend auf Daten zu n=8 838 141 Versicherten der BARMER im Jahr 2022, annualisiert und nach Versicherungstagen gewichtet. *Zu den bösartigen Neubildungen wurden alle ZKGs der MKG 2 ausschließlich folgender ZKGs gezählt: Z0201, Z0202, Z0211, Z0217, Z0228, Z0229, Z0230, Z0239, Z0245, Z0256.


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Hierarchisierung der ZKGs nach Schweregrad

Jeder ZKG wurde ein standardisierter Gesamtscore für den Schweregrad zugewiesen und die ZKGs wurden absteigend nach Schweregrad hierarchisiert. Die berechneten Schweregrad-Scores reichten von − 0,575 bis 44,797. Ab einem Wert von 1,120 galt eine ZKG als „sehr schwer“ (Median (Md): 2,690), ab 0,142 als „schwer“ (Md: 0,522), ab − 0,196 als „moderat“ (Md: − 0,069), ab − 0,363 als „leicht“ (Md: − 0,299) und darunter als „sehr leicht“ (Md: − 0,443). [Tab. 3] zeigt beispielhaft 5 ZKGs pro Schweregrad-Kategorie mit ihren entsprechenden Werten. In den ersten Ergebniszeilen wird deutlich, dass die ZKG „Versagen eines Transplantates hämatopoetischer Stammzellen“ größtenteils wegen der hohen Mortalitätsrate als „sehr schwer“ eingestuft wurde, während die ZKG „Spinale Muskelatrophie“ primär wegen der hohen Kosten als „sehr schwer“ gilt. Im Online-Anhang A5 sind alle ZKGs und Schweregrade aufgelistet.

Tab. 3 Schweregrad-Dimensionen für ausgewählte Beispiele pro Schweregrad-Kategorie.

ZKG

Standardisierte Mortalitätsrate

Kosten

Stationäre Behandlungstage

Ambulante Behandlungsfälle

Schweregrad (z-score)

Schätzwert

z-score

Schätzwert

z-score

Schätzwert

z-score

Schätzwert

z-score

Sehr schwer

Neugeborenes mit Geburtsgewicht unter 1250 Gramm

79,957

69,494

102 969

7,116

58,552

3,982

0,255

− 1,546

26,250

Versagen eines Transplantates hämatopoetischer Stammzellen

51,761

44,625

51 111

3,379

34,205

2,244

0,708

− 1,481

16,335

Spinale Muskelatrophie

2,362

1,054

217 011

15,333

1,234

− 0,109

0,257

− 1,545

5,266

Mukoviszidose

4,512

2,950

119 644

8,317

0,220

− 0,181

3,314

− 1,111

3,592

Zerebrale Blutung oder Hirninfarkt

4,292

2,757

13 174

0,646

14,480

0,837

− 0,289

− 1,623

1,140

Schwer

Delir bei Demenz

3,857

2,372

5378

0,084

16,070

0,950

− 0,167

− 1,606

0,852

Fortgeschrittene chronische Niereninsuffizienz mit Dialyse

4,188

2,664

18 539

1,032

-3,317

− 1,147

1,091

− 1,427

0,819

Bösartige Neubildung der Mamma, aktiv behandelt

3,948

2,453

5555

0,097

0,724

− 0,145

4,887

− 0,887

0,719

Femur- oder Beckenfraktur

2,367

1,059

10 290

0,438

15,893

0,937

− 0,286

− 1,623

0,527

Schwere Herzinsuffizienz

2,609

1,272

1343

− 0,207

2,379

− 0,027

− 0,184

− 1,608

0,170

Moderat

Opportunistische Infektion

2,523

1,196

1058

− 0,227

0,884

− 0,134

0,616

− 1,494

0,127

Entzündliche Darmerkrankung

1,368

0,177

3372

− 0,060

0,400

− 0,168

2,444

− 1,235

− 0,136

Chronische Leukämie oder Lymphom, nicht aktiv behandelt

1,266

0,088

3044

− 0,084

− 0,014

− 0,198

2,967

− 1,160

− 0,172

COPD, Emphysem und Bronchiektasen

1,626

0,405

20

− 0,302

− 0,157

− 0,208

0,304

− 1,539

− 0,183

Diabetes mellitus mit Krankheitserscheinungen an mindestens einem Organ(-system)

1,442

0,243

1305

− 0,209

0,157

− 0,185

1,431

− 1,379

− 0,183

Leicht

Akute nicht-infektiöse Hauterkrankung

1,379

0,187

576

− 0,262

0,018

− 0,195

0,593

− 1,498

− 0,235

Arrhythmie

1,219

0,046

610

− 0,259

0,403

− 0,168

0,564

− 1,502

− 0,275

Leichte oder mittelgradige Depression

1,183

0,014

408

− 0,274

0,456

− 0,164

0,930

− 1,450

− 0,284

Arthritis

0,976

− 0,168

1601

− 0,188

0,092

− 0,190

1,818

− 1,324

− 0,308

Atherosklerose

1,116

− 0,045

-137

− 0,313

− 0,124

− 0,206

0,193

− 1,555

− 0,338

Sehr leicht

Hörverlust oder Gehörlosigkeit

0,683

− 0,427

119

− 0,295

− 0,031

− 0,199

0,700

− 1,483

− 0,449

Störung des Fettstoffwechsels

0,639

− 0,465

79

− 0,298

− 0,198

− 0,211

0,770

− 1,473

− 0,465

Chronische Sinusitis oder sonstige Erkrankung der Nase

0,560

− 0,535

8

− 0,303

− 0,077

− 0,202

0,758

− 1,474

− 0,488

Katarakt

0,521

− 0,570

-103

− 0,311

− 0,262

− 0,215

0,516

− 1,509

− 0,509

Schwangerschaft

0,308

− 0,758

819

− 0,244

0,523

− 0,159

2,020

− 1,295

− 0,513

Auswertungen basierend auf Daten zu n=8 838 141 Versicherten der BARMER im Jahr 2022, annualisiert und nach Versicherungstagen gewichtet


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Diskussion

Das Ziel des PopGroup Projekts ist die Entwicklung eines bevölkerungsbezogenen Klassifikationssystems (PopGrouper) für das deutsche Gesundheitssystem zur Messung der regionalen Krankheitslast und des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs. Dieser Artikel befasst sich mit dem ersten Entwicklungsschritt, nämlich der Bildung von ZKGs und MKGs. Das Ziel dieses Schrittes war es, als Basis für die Bildung von PopGroups, Diagnosen in medizinisch sinnvollen Gruppen zusammenzufassen. Es wurden insgesamt 433 ZKGs gebildet und validiert, die alle einer von 32 übergeordneten MKGs zugeordnet sind. Ein zusammengesetzter Krankheitsschweregrad wurde definiert anhand von drei Dimensionen (Mortalität, Kosten, Inanspruchnahme bzw. Versorgungsbedarf), mit Schweregrad-Kategorien von „sehr schwer“ bis „sehr leicht“.

Von DxGs zu ZKGs wurde die Anzahl der Krankheitsgruppen um mehr als die Hälfte reduziert. Verglichen mit anderen Klassifikationssystemen liegt die Anzahl der gebildeten ZKGs im Mittelfeld (226 health conditions im CIHI POP Grouper [6] und 534 episode diagnostic categories im CRG-System [5]). Im ACG-System wird eine andere Methodik verfolgt. Dort werden nicht einzelne Diagnosen, sondern Diagnosetypen (z. B. akut, rezidivierend, chronisch) bei der Gruppierung verwendet [4].

Eine weitere Abweichung von der ursprünglich geplanten Vorgehensweise und eine besondere Eigenschaft der ZKGs besteht in der Definition aktiv behandelter Neubildungen. Diese Definition ermöglichte eine Annäherung der Anzahl der aktiv behandelten Neubildungen an die bekannte Inzidenz. Zudem konnten eindeutige Unterschiede, insbesondere in Kosten und stationären Behandlungstagen, zwischen den aktiv behandelten und nicht aktiv behandelten Subgruppen über verschiedene Krebsarten hinweg festgestellt werden.

Limitationen

Die unabhängigen Beurteilungen durch fachliche Expert*innen erhöhen die Validität der ZKGs. Dennoch bestehen einige Limitationen. Bei der Reduktion komplexer Daten für die Gruppierung erfolgt zwangsläufig ein Informationsverlust. Dies ist eine Einschränkung, die alle Arten von Klassifikationssystemen betrifft. Darüber hinaus existieren bereits auf Ebene der DxGs Gruppen, die hinsichtlich der eingeschlossenen Erkrankungen, ihrer Ätiologie oder des Krankheitsverlaufs nicht homogen sind. Da die DxGs für den Morbi-RSA und somit für einen Finanzausgleich entwickelt wurden, war das Ziel möglichst kostenhomogene Gruppen zu bilden. Dies beeinflusst auch die Gruppierungsmöglichkeiten und Homogenität der ZKGs, die vor allem einer medizinischen Logik folgen sollen. Auch bei der Validierung gibt es einige Einschränkungen. Einzelne MKGs wurden entweder nicht von medizinischen Expert*innen validiert oder wurden nur von einzelnen Personen validiert, was zu subjektiven Einschätzungen führen kann. Zudem stammten die meisten Expert*innen aus dem stationären Bereich, was möglicherweise die Bewertung zu Gunsten der stationären Perspektive verzerren könnte. Die Nutzung von Diagnosen aus Krankenkassendaten könnte aufgrund von möglichen Kodierungsungenauigkeiten bei der Diagnosestellung und Codierung der Haupt- oder mitkodierten Nebendiagnosen („Upcoding“) zu Einschränkungen führen. Die Aufgreifkriterien des Morbi-RSA dienen als Plausibilitätsprüfung; trotzdem können Ungenauigkeiten nicht ausgeschlossen werden. Um dem Effekt der mitkodierten Diagnosen entgegenzuwirken, wurden aktiv behandelte Neubildungen identifiziert. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass ein ähnlicher Effekt bei anderen Erkrankungen auftreten könnte, auch wenn sie zahlenmäßig vielleicht weniger ins Gewicht fallen. Außerdem gilt, dass nur Erkrankungen erfasst werden können, die diagnostiziert werden. Schließlich sind BARMER-Daten möglicherweise nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerung.

Trotz dieser Einschränkungen sind die Autor*innen auf Basis der Rückmeldungen der medizinischen Fachgesellschaften zuversichtlich, dass die gebildeten ZKGs medizinisch sinnvolle Gruppen darstellen – soweit dies auf Basis von Routinedaten möglich ist. Eventuell bestehende Ungenauigkeiten können im Falle von Rückmeldungen aus medizinischen Fachkreisen im Rahmen von weiteren Überarbeitungen für zukünftige Versionen des PopGroupers reduziert werden.


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Relevanz und Ausblick

Mit dem PopGrouper soll ein geeignetes Instrument zur regional differenzierten Erhebung des Versorgungsbedarfs, der Planung von Versorgungsstrukturen sowie der Durchführung regionaler Vergleiche von Qualität und Effizienz geliefert werden. Innerhalb des Projekts bilden die ZKGs und MKGs einen wichtigen ersten Schritt der PopGrouper-Entwicklung. Auf dieser Grundlage konnten anschließend distinkte PopGroups gebildet werden, die eine Vielzahl von ZKGs und ZKG-Kombinationen sowie – als Indikator für Multimorbidität – die Anzahl von ZKGs aus unterschiedlichen Organsystemen/Fachdisziplinen (über die MKGs) berücksichtigen. Somit dienen die ZKGs und MKGs als zentrale „Morbiditätsbausteine“ der PopGrouper-Entwicklung. Ebenso stellen die entwickelten Schweregrade ein nützliches Hilfsmittel für die weiteren Arbeitsschritte dar, da sie eine diagnoseübergreifend angelegte Hierarchisierung der ZKGs ermöglichen und diese in fünf übergreifende Schweregrad-Kategorien einteilen. Während die ZKGs und MKGs primär einer medizinischen Logik folgen, werden in den nächsten Entwicklungsschritten zur Bildung von PopGroups weitere Merkmale und Zielvariablen herangezogen, um Gruppen zu bilden, die hinsichtlich der zur erwartenden Inanspruchnahme möglichst homogen sind.

Auch außerhalb des Projekts sind die Ergebnisse relevant. Eine Einteilung von Diagnosen in eine kleinere Anzahl medizinisch sinnvoller Gruppen bietet Möglichkeiten für die Versorgungsforschung, für die Analyse von Krankheiten sowie für die Identifikation von Versichertengruppen mit ähnlichen Eigenschaften. Außerdem können die definierten Schweregrade, die basierend auf deutschen Versorgungsdaten berechnet wurden, für weitere Anwendungen genutzt werden. Schließlich führte die Einbindung medizinischer Expertise im Projekt zu wertvollen Rückmeldungen zu den Gruppierungen von ICDs in DxGs, die gesammelt an das BAS weitergeleitet wurden.

Insgesamt stellt der PopGrouper einen innovativen Ansatz für die Morbiditätsklassifikation im deutschen Gesundheitssystem dar und hat das Potenzial, die Versorgungsstrukturplanung sowie die Versorgungsforschung zu unterstützen.


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Fördermittel

Gemeinsamer Bundesausschuss, Innovationsausschuss — 01VSF20027


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Zusätzliches Material

  • Literatur

  • 1 Sundmacher L. Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung i.S.d. §§ 99 ff. SGB V zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung. Berlin 2018
  • 2 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Gutachten: Krankenhauslandschaft Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf; 2019
  • 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018. Bonn; 2018
  • 4 Forrest C, Kinder K, Lemke K. et al. Adjusted Clinical Group – ein Instrument zur Prognose des Ressourcenverbrauchs. Gesundheits- und Sozialpolitik 2004; 58: 8-15
  • 5 Hughes JS, Averill RF, Eisenhandler J. et al. Clinical Risk Groups (CRGs): a classification system for risk-adjusted capitation-based payment and health care management. Med Care 2004; 42: 81-90
  • 6 Canadian Institute for Health Information. CIHI’s Population Grouping Methodology 1.4. Overview and Outputs, 2023. Ottawa; 2023
  • 7 Quentin W, Busse R, Vogt V, Czihal T, Offermanns M, Grobe T, Focke K. Entwicklung eines Systems zur Klassifikation des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs (PopGroup). In: Repschläger U, Schulte C, Osterkamp N, Hrsg. Gesundheitswesen aktuell 2020. Beiträge und Analysen. BARMER. 2020: 78-97
  • 8 Bundesamt für Soziale Sicherung. Risikostrukturausgleich. Funktionsweise. Im Internet https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/risikostrukturausgleich/rsa-einfach-erklaert/ Stand: 19.01.2024
  • 9 Straub C, Marschall U. Versorgungsforschung aus Sicht der Krankenkassen. Forum 2018; 33: 356-360
  • 10 Bundesamt für Soziale Sicherung. Risikostrukturausgleich. Festlegungen. Im Internet https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/risikostrukturausgleich/festlegungen/ Stand: 14.08.2024
  • 11 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. ICD-10-GM. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, German Modification. Im Internet https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-10-GM/_node.html Stand: 14.08.2024
  • 12 Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus. aG-DRG-System 2024. Definitionshandbuch. Im Internet https://www.g-drg.de/ag-drg-system-2024/definitionshandbuch Stand: 28.12.2023
  • 13 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. AWMF online. Portal der wissenschaftlichen Medizin. Im Internet https://www.awmf.org/ Stand: 28.12.2023
  • 14 Zentrum für Krebsregisterdaten & Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland. Krebs in Deutschland für 2019/2020. 14. Ausgabe. Berlin; 2023

Korrespondenzadresse

Chrissa Tsatsaronis
Technische Universität Berlin
Fachgebiet Management im Gesundheitswesen
Straße des 17. Juni 135
10623 Berlin
Germany   

Publication History

Received: 01 February 2024

Accepted after revision: 16 December 2024

Article published online:
14 April 2025

© 2025. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Sundmacher L. Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung i.S.d. §§ 99 ff. SGB V zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung. Berlin 2018
  • 2 Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Gutachten: Krankenhauslandschaft Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf; 2019
  • 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018. Bonn; 2018
  • 4 Forrest C, Kinder K, Lemke K. et al. Adjusted Clinical Group – ein Instrument zur Prognose des Ressourcenverbrauchs. Gesundheits- und Sozialpolitik 2004; 58: 8-15
  • 5 Hughes JS, Averill RF, Eisenhandler J. et al. Clinical Risk Groups (CRGs): a classification system for risk-adjusted capitation-based payment and health care management. Med Care 2004; 42: 81-90
  • 6 Canadian Institute for Health Information. CIHI’s Population Grouping Methodology 1.4. Overview and Outputs, 2023. Ottawa; 2023
  • 7 Quentin W, Busse R, Vogt V, Czihal T, Offermanns M, Grobe T, Focke K. Entwicklung eines Systems zur Klassifikation des morbiditätsbezogenen Versorgungsbedarfs (PopGroup). In: Repschläger U, Schulte C, Osterkamp N, Hrsg. Gesundheitswesen aktuell 2020. Beiträge und Analysen. BARMER. 2020: 78-97
  • 8 Bundesamt für Soziale Sicherung. Risikostrukturausgleich. Funktionsweise. Im Internet https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/risikostrukturausgleich/rsa-einfach-erklaert/ Stand: 19.01.2024
  • 9 Straub C, Marschall U. Versorgungsforschung aus Sicht der Krankenkassen. Forum 2018; 33: 356-360
  • 10 Bundesamt für Soziale Sicherung. Risikostrukturausgleich. Festlegungen. Im Internet https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/risikostrukturausgleich/festlegungen/ Stand: 14.08.2024
  • 11 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. ICD-10-GM. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, German Modification. Im Internet https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-10-GM/_node.html Stand: 14.08.2024
  • 12 Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus. aG-DRG-System 2024. Definitionshandbuch. Im Internet https://www.g-drg.de/ag-drg-system-2024/definitionshandbuch Stand: 28.12.2023
  • 13 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. AWMF online. Portal der wissenschaftlichen Medizin. Im Internet https://www.awmf.org/ Stand: 28.12.2023
  • 14 Zentrum für Krebsregisterdaten & Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland. Krebs in Deutschland für 2019/2020. 14. Ausgabe. Berlin; 2023

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Abb. 1 PopGrouper Entwicklung Eine Person kann mehrere ICD-Codes und somit auch mehrere DxGs, MKGs und ZKGs aufweisen, aber wird genau einer Basis-PopGroup, PopGroup und einem PGK zugeordnet. Die (Basis-)PopGroups und PGKs sind nicht Thema dieses Artikels. IAN: Inanspruchnahme; PGK: PopGroup Kostenstratum
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Abb. 2 Drei Dimensionen des Schweregrads.