Während wir dieses Editorial schreiben, erleben wir besorgniserregende Veränderungen
im politischen und sozialen Gefüge unserer Welt: Autoritäre Regierungen übernehmen
in den USA und in europäischen Ländern die Macht. Verstörende Anschläge erschüttern
unsere Gesellschaft. Wir sehen eine Psychopathologisierung von Kriminalität und in
der Folge werden Verschärfungen der Gesetze für psychisch Kranke diskutiert. Ein gesellschaftliches
Miteinander mit Inklusion aller Menschen erscheint vielen zunehmend als weltfremd,
und die Gesellschaft polarisiert sich in alarmierender Weise in „wir“ und „die anderen“.
Menschen, die ohnehin an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, geraten weiter
aus dem Blick.
Ein halbes Jahrhundert nach der Psychiatrie-Enquete sind dies verstörende Entwicklungen.
Wir hoffen, dass dies nur eine Momentaufnahme ist, und wenn dieses Heft in Druck vorliegt
– hat sich manches aktualisiert.
Ein halbes Jahrhundert nach der Psychiatrie-Enquete gibt es viele Veranstaltungen
und Diskussionen über das, was 1975 in der Gesellschaft, im Bundestag, in „Der Psychiatrie“
passiert ist. Mancher wünschte sich auch heute wieder eine Psychiatrie-Enquete, wir
wissen aber, dass die damaligen Rahmenbedingungen und der Reformwille heute nicht
zu wiederholen wären. Auch wäre es schwer vorstellbar, dass ähnliche Konsense zu finden
sind. Es ist offensichtlich: Einige Ziele der Psychiatrie-Enquete wurden erreicht,
andere nicht. Schließlich gibt es einen ganzen Bereich von Themen, die in der Psychiatrie-Enquete
gar nicht angedacht waren, z. B. die trialogische Orientierung der Psychiatrie, der
Einbezug von Erfahrungswissen von Betroffenen und den Angehörigen.
Wir – eine Politikerin, Psychiaterin, Psychotherapeutin sowie Vorsitzende der Aktion
Psychisch Kranke e. V. (Kirsten Kappert- Gonther), ein ehemaliger Präsident der DGPPN
und Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit (Arno Deister), ein Ärztlicher
Direktor einer großen Versorgungsklinik und 2. Vorsitzender der Aktion Psychisch Kranke
(Peter Brieger) haben uns gemeinschaftlich gefragt: Welche Chancen wurden genutzt,
welche wurden verpasst? Und: Was ist für die Zukunft zu bedenken? Dafür haben wir
Autorinnen und Autoren gewinnen können, die dieses Thema aus unterschiedlichen Richtungen
beleuchten.
Arno Deister reflektiert in seinem Beitrag die Rahmenbedingungen, die dazu führen,
dass Reformen scheitern (oder gelingen). Das Gespräch mit Josef Hecken, unparteiischer
Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), und Kirsten Kappert-Gonther
als ehemalige amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestages, reflektiert
ganz grundsätzliche Entscheidungsprozesse in der Gesundheitspolitik. Es werden Konsense
formuliert und Projekte für die nächsten Jahre vorgestellt. Deutlich wird in dem Interview,
dass der G-BA als Organ der Selbstverwaltung ein aktiver Partner in der Gestaltung
einer besseren Versorgung sein kann und sein wird.
Paul Bomke aus dem Pfalzklinikum beschäftigt sich seit längerem aus der Perspektive
des Krankenhausdirektors mit regionaler Verantwortung und regionaler Versorgungsverpflichtung.
Er stellt dar, warum diese zentral ist, um eine gute psychiatrische Versorgung zu
gewährleisten – insbesondere auch an den Schnittstellen zu den anderen Sozialgesetzbüchern.
Menschen mit Psychiatrieerfahrung hatten in der Psychiatrieenquete keine Stimme. Das
hat sich seitdem wesentlich geändert: Elke Prestin reflektiert das in ihrem Beitrag
und fordert „den Spot auch auf den Rand der Bühne zu richten“.
Die Pflege war vor einem halben Jahrhundert kein zentrales Thema der Psychiatriereform:
Heute ist sie es und muss es auch sein. Wenn es uns nicht gelingt, in den nächsten
Jahren eine hohe Qualität und ausreichendes Personal in der Pflege zu gewährleisten,
dann werden unsere klinischen und außerklinischen Angebote nicht gelingen. Mit diesem
Thema befasst sich Martin Holzke aus der Sicht der Pflegewissenschaft.
Markus Kösters ist Experte für den Bereich der Qualitätsindikatoren. Dass es eigentümlich
schwer ist, Qualitätsmanagement, Leitlinien und evidenzbasierte Medizin tatsächlich
zum konkreten Gewinn für den Nutzer zu bringen, dies ist das Thema seines wichtigen
Beitrages. Diese Thematik war vor einem halben Jahrhundert nicht angelegt.
Eine problematische Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts ist die Bürokratisierung:
Das Ausmaß an Formularen, Datenlieferungen, Plänen und anderen Dokumenten trägt die
Tätigkeit der Beschäftigten in psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtungen
übermäßig. Hierüber gehen der Elan der Reform und der Fokus auf die therapeutische
Beziehung verloren. Dieses Thema reflektieren Peter Brieger und Susanne Menzel.
Abschließend macht sich Bettina Wilms Gedanken darüber, wie Versorgung, seelische
Gesundheit und Demokratiestärkung regional zusammenspielen. Bettina Wilms gelingt
es in ihrer sprachlichen Exaktheit und Klugheit, mit dem Blick der Wissenschaftlerin
und aus der eigenen Erfahrung die Entwicklungen der letzten 50 Jahre zu reflektieren.
Es gab Zeiten, da waren soziale Psychiatrie, Psychiatriekritik und Psychiatriereform
ein zentrales Movens der Gesellschaft. Franco Basaglia erreichte in den 1970er-Jahren
mit seinen Fernsehsendungen ein Millionenpublikum. Davon sind wir heute weit entfernt.
Die Anliegen der psychisch kranken Menschen, die Minderung von Stigma und die bessere
Inklusion unter Berücksichtigung der Menschenrechte und unter Berücksichtigung der
Krisen der heutigen Zeit – sei es in der Politik oder auf der Ebene des Klimas oder
in der Volkswirtschaft – sind hier Herausforderungen. Diese Ausgabe der Nervenheilkunde
soll Anregung sein, sich mit diesen Themen aus verschiedenen Perspektiven zu befassen,
ohne dass wir einfache Antworten zu bieten hätten. Was wir aber wissen ist, dass die
Zukunft der psychiatrischen Hilfen menschenrechtsbasiert, regional und vernetzt sein
muss, dass unser Beitrag dafür nicht in weniger, sondern in mehr Zusammenhalt liegen
wird.
Kirsten Kappert-Gonther, Berlin, Arno Deister, Itzehoe, und Peter Brieger, München