Psychiatr Prax 2025; 52(02): 63-65
DOI: 10.1055/a-2514-1665
Editorial

Zuviel des Guten? Psychiatrie und Psychotherapie für alles und jeden? Zu wenig des Notwendigen? Ein Plädoyer an die Politik!

Too much of a good thing? Psychiatry and psychotherapy for everything and everyone? Too little of what is necessary? A summing up to politicians

Authors

  • Thomas Bock

 

Wir leben in schwierigen Zeiten. Die Welt stürzt von einer Krise in die nächste – zunehmende Klimakrise, näher rückende Kriege, Artensterben, Nachwirkungen der Epidemie, Entsolidarisierung, Rechtsruck. Viele Kinder und Jugendliche sehen ihre seelische Gesundheit dadurch unmittelbar beeinträchtigt. Die ist lt. COPSY Studie [1] zwar besser als direkt nach CORONA, aber deutlich schlechter als davor. Diesmal werden explizit die Krisen der Welt und die Bedrohung von außen verantwortlich gemacht. Jede/r Fünfte sieht die eigene seelische Gesundheit stark dadurch beeinträchtigt. Das erstaunt nicht wirklich, bedeutet zugleich Erschrecken und Ermutigung, aber müsste das nicht in erster Linie politische Konsequenzen haben?

Zuviel des (vermeintlich) Guten?

Vieles spricht dafür, dass wir zwar die Psychiatrie entstigmatisiert haben – aber noch lange nicht alle psychisch erkrankten Menschen. Das hat Auswirkungen auf ein Versorgungssystem, das immer noch viel zu sehr auf Komm-Strukturen beruht. Das Stigma-Risiko der verschiedenen Diagnosen ist sehr unterschiedlich, z. B. bei Depressionen deutlich reduziert, bei psychotischen, bipolaren und Borderline-Störungen (F2, F31, F60) nahezu unverändert [2]. Gleichzeitig sehe ich unsere Türen inzwischen weit offen – auch für Menschen in Lebenskrisen oder für Themen, deren Lösung eine gesellschaftspolitische Aufgabe ist. Das ist im Einzelfall fast immer verständlich, für uns Behandler manchmal auch bequem, hinsichtlich der Ressourcenverteilung bei zunehmendem Fachkräftemangel aber hochproblematisch: Am Ende fehlen uns die Kräfte für die, die uns am meisten brauchen, die aber eigensinnig sind und nicht brav kommen, die wir aufsuchen und um deren Kontakt wir ringen müssen. Ist die Psychiatrie also in einer Identitätskrise? Vielleicht sogar ohne Krankheitseinsicht?


Psychiatrie und Psychotherapie als Antwort für alles und jeden?

Bei den folgenden Beispielen mischen sich zu den aktuellen Forschungsergebnissen der COPSY-Studie [1] weitere persönliche Erfahrungen und Befürchtungen:

  • In einem meiner letzten Poliklinik-Dienste kam ein junger Mann mit Liebeskummer und war überzeugt, in der Psychiatrie richtig zu sein, dann enttäuscht und erleichtert zugleich, als ich das anders sah. Wir fanden eine private Lösung; aber mich besorgte nachhaltig, wie sehr wir verarmen, wenn wir den Liebeskummer der Psychiatrie zuschreiben. Wofür dann noch Romane?

  • Sich zu „Burn-out“ zu bekennen, ist gesellschaftsfähig; aber bin ich mit diesem Problem in der Psychiatrie zwingend richtig? Wären manchmal Personal-/Betriebsrat nicht hilfreicher, um deutlich zu machen, dass diese Arbeitsbedingungen wirklich nicht zumutbar sind. Befördern wir mit den Krankschreibungen den notwendigen politischen Diskurs oder blockieren wir ihn? Laufen wir am Ende in Gefahr, eine gesellschaftliche Herausforderung zu psychiatrisieren?

  • Erfinden wir demnächst die „Umweltangst“ für die, deren Sorge um diese Welt unbequem wird? Müssten wir nicht umgekehrt auch bei denen, die in der Verzweiflung aus der Realität ausgestiegen sind oder das Fühlen verweigern, sorgfältiger sortieren, welche Ängste wir teilen und inzwischen realitätsgerecht sind, auch wenn sie den einzelnen offensichtlich überfordern [3]?

  • Nehmen wir an, die kulturelle Bindung der Religion schwindet weiter: Wie groß ist die Gefahr, dass wir in zehn Jahren das regelmäßige Beten zur Zwangsstörung erklären oder als wahnhaft betrachten? Oder gelingt uns im Hinblick auf die unvermeidlichen psychischen Krisen des Lebens doch noch die Wertschätzung von Religiosität und Spiritualität?

  • Was ist mit dem in fast allen Kliniken gefürchteten Dealer, der ein paar Pillen zu viel eingeschmissen hat und die gesamte Akutstation aufmischt, ohne auch nur ansatzweise Hilfe zu wollen? Wäre der nicht in der Ausnüchterungszelle der Polizei besser aufgehoben?

  • Macht es wirklich Sinn, dass alle unbequemen somatischen Patient:innen in die Psychiatrie geschoben werden, anstatt die Bedeutung der Seele in allen Medizinbereichen aufzuwerten – mit angemessenem Konsiliardienst?

  • Auch beim Maßregelvollzug möchte ich mit aller Vorsicht fragen, ob bei manchen Personen, Diagnosen und Delikten nicht die Haftanstalt eine hinsichtlich Eigenverantwortung und Befristung klarere Alternative wäre? Voraussetzung wäre allerdings, dass auch Gefängnis-Insassen notwendige psychiatrische und psychotherapeutische Hilfen erhalten. Was halten Sie von der Analogie zum Betreuten Wohnen?


Zuwenig des Notwendigen?

Manche von denen, die uns wirklich brauchen, meiden uns. Sie leben (vorübergehend) in einer eigenen Realität, sind (nachhaltig) verwirrt, haben schlechte Erfahrungen gemacht – in ihrem Leben und mit der Psychiatrie. Sie haben das Vertrauen verloren – in andere und zu sich. Sie leben in prekären Verhältnissen oder haben Angst davor. Sie meiden uns, auch weil sie Angst haben, was dann auf sie zu kommt. Das hat viel mit Stigmatisierung zu tun. Doch wenn wir die soziologisch als „Zuordnung negativ bewerteter Merkmale“ verstehen [4], liegt der Ball wieder bei uns: Finden wir die richtigen Worte? Schaffen wir es ausreichend, unsere eigene mehr oder weniger abgehobene Fachsprache zu dolmetschen [5]? Als Beispiel erwähnt sei die trialogische Übersetzung des ICD 10 Schlüssels für Schizophrenie in Subjektorientierte Sprache [6] und ein aktuelles gutes Buch [7].

Ganz sicher gibt es noch weitere Hürden, die besonders Bedürftige ausschließen: Bestehen wir auf „Krankheitseinsicht“ oder interessieren wir uns für das subjektive Erleben, den sozialen Kontext, die Ressourcen, die Vielfalt der Erfahrungen? Setzen wir „Compliance“ voraus oder ringen wir um Kooperation [8]? Gibt es eine verbindliche regionale Zuständigkeit? Binden uns fatale ökonomische Belohnungsmechanismen wie z. B. Pflegesätze an die Belegung von Betten oder suchen wir den Kontakt da, wo wir ihn kriegen? Nutzen wir die vorhandene Möglichkeit, Akutbehandlung mobil zu gestalten? Nutzen wir Genesungs-Begleiter:innen als Vermittler zwischen Selbst- und Fremdhilfe? Schaffen wir strukturübergreifende Kontinuitäten, sodass auf lange Sicht wechselseitiges Vertrauen entstehen kann, wo sich ansonsten Angst und Stigma hochschaukeln?

Die Psychotherapeut:innen möchte ich fragen: Haben Sie psychotherapeutische Konzepte, die Sie beziehungsfähig machen – auch bei Menschen, die durch erfahrene Brüche misstrauisch geworden sind? Wissen Sie um die Leitlinien, die Psychotherapie auch bei (schizophrenen/kognitiven und affektiven) Psychosen vorsehen, um die verpflichtende Kassen-Finanzierung? Sind Sie Teil eines Komplexleistungsverbundes, um sich z. B. mit Institutsambulanz und Eingliederungshilfe zu verbinden [9]? Wissen Sie um den besonderen Reiz von Menschen, bei denen Innen und Außen manchmal durchlässig werden (Psychosen), den großen Charme von Personen, die aus der depressiven Überanpassung auch mal die Flucht nach vorne ergreifen (Manie)? Haben Sie die Krankheitskonzepte, die Ihnen Angst machen, schon mal trialogisch / anthropologisch hinterfragt [4]? Wissen Sie, dass die Menschen mit der Borderline-Diagnose mindestens so verschieden sind, wie die ohne diese Überschrift, diese Diagnose in den internationalen Fachgesellschaften also infrage steht. Der unvoreingenommene Blick zeigt hinter ablenkender Selbstverletzung und Beziehungschaos meist schwere traumatische Erfahrungen und ein großes Bedürfnis nach Anerkennung.


Plädoyer an Politiker:innen

Menschen in Gesundheitspolitik und -verwaltung möchte ich erneut auffordern: Helfen Sie, Behandlungs- und Finanzierungsstrukturen zu etablieren, die nicht mehr kontraproduktiv sind; die bisherigen können wir uns nicht mehr leisten. Lassen Sie uns die psychiatrische, psychotherapeutische, psychosoziale Arbeit integrieren, ambulante und stationäre Settings verknüpfen – mit regionalen Budgets, die uns erlauben, nach Bedürftigkeit zu handeln, und in verbindlichen Kooperationsstrukturen, die gerade bei besonderen Herausforderungen Gemeinsamkeit fördern statt Konkurrenz.

Doch das wichtigste Statement geht an die allgemeine Politik – kommunal und darüber hinaus:

  • Psychische Gesundheit zu erhalten und zu fördern, ist eine gesellschaftliche und keine psychiatrische Aufgabe: Dazu gehören bezahlbarer Wohnraum, leistbare und erfüllende Arbeit (nicht zu viel und nicht zu wenig), Räume für Begegnung und Bedeutung, Grünanlagen, Lärm-Schutz, halbwegs gut ausgestattete Kitas und Schulen, die über die Kulturen hinweg Zusammenhalt fördern statt Konkurrenz und Ausgrenzung.

  • Gerade unsere modernen Konzepte wie Housing first, Supported emplyoment setzen voraus, dass Wohnraum und Arbeitsmöglichkeit als Grundrecht begriffen werden; das schaffen wir nicht allein.

  • In diesem Sinn sind ökologische Lebensbedingungen und innerer Frieden kein Hirngespinst von Verbots-Aposteln, sondern Basis unser aller Lebensqualität und nebenbei Voraussetzung der Prävention seelischer Vulnerabilität.

  • Die Angst vor Krieg ist zu wichtig und zu folgenreich, als dass sie für politische Spielchen taugt. Es ist eine gemeinsame Herausforderung, den Frieden fördern – auch im Inneren?! In unserer Arbeit begegnet uns die reale existentielle Bedrohung gerade bei psychisch erkrankten Menschen unverstellt. Und oft bleibt uns nichts anderes über, als diese Angst zu teilen, sortieren zu helfen, sie jedenfalls nicht abzutun.

  • Die Angst vor Fremden zu schüren, wird vor den Menschen, die sich in Krisen verändern, die sich selbst und uns fremd werden, nicht Halt machen. Unser aller Psychohygiene geht verloren, wenn der Hass Oberhand gewinnt [10].

  • Sein Land und alle Vertrautheit wegen Krieg, politischer Verfolgung oder Zerstörung der Lebensgrundlagen verlassen zu müssen, ist eine riesige Herausforderung. Wir verdrängen derzeit unsere historische Verantwortung für die Fluchtgründe ebenso erfolgreich wie unsere eigene deutsche Fluchterfahrung – ob als Exilant/in oder Vertriebene/r. Schaffen wir wieder einen breiteren politischen Diskurs [11]?!

  • Ob Menschen mit Migrationserfahrung vermehrt Psychose-krank werden, hängt nicht in erster Linie von traumatischen Fluchterfahrungen und weniger von der Herkunft ab als viel mehr von der Ankunft: Wer in sozialen Räumen landet, die die eigene Kultur und Sprache spiegeln, hat kein erhöhtes Schizophrenie-Risiko. Wer wirklich in der Fremde landet, läuft Gefahr, auch noch sich selbst fremd zu werden. Kulturelle Vielfalt ist ein Schutzraum – letztendlich für uns alle.

  • Wir brauchen Medien, die ehrliche Kommunikation zulassen, ohne ständig Angst zu machen, und Schutz vor Informations-Blasen, die Denken und (Mit-)Fühlen blockieren.

Alles in allem eine riesige politische Herausforderung. Macht also Eure Arbeit und überfordert nicht uns. Die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche ihre Seelische Gesundheit mit dem Zustand der Welt in Verbindung [1] bringen, muss uns alle wachrütteln: Welche Welt wünschen wir unseren Kindern und Enkeln? Doch sicher keine, vor der sie in die Psychiatrie flüchten müssen. Dieser Auftrag der nächsten Generation(en) geht an die Politik!

PS: Ich frage mich, ob mein Beitrag einen Nachsatz braucht: Die schreckliche Tat in Aschaffenburg lässt vermuten, dass es auf beiden Ebenen Mängel gab – bei der konsequenten therapeutischen Behandlung einer vermuteten postraumatischen Störung und bei der politischen Klärung, wohin die Reise geht – Bayern, Bulgarien, Afghanistan sowie bei der Ahnung der Brisanz jeder weiteren Verzögerung hier wie dort, siehe auch „Offener Brief“ auf Seite 117.



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Thomas Bock

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Bock
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
12 March 2025

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